Die Stadtplanerin

 

Scheinbar im Gleitflug schweben Cumuluswolken über den grünen Rasenflächen, die weit ausschwingen und von Orangenbäumchen in Kübeln eingefasst werden. Die barocke Strenge der 1658 entstandenen Anlage von Schloss, Park und Ort wird zusätzlich akzentuiert durch die imaginäre Linie, die vom gusseisernen Orangenbaum in der Mitte des Schlossvestibüls nach Süden reicht zur grosszügigen Orangerie.

Heiner Zelmer scheut weder Kosten noch Mühen, um sein hartnäckiges Harnsteinleiden durch eine ausgiebige Trinkkur in Marienbad zu lindern. Kein zur Gesundheit führender Weg kann seiner Meinung nach zu beschwerlich oder zu kostspielig genannt werden. In seinen tiefen Falten und schläfrigen Augen hat sich all das abgelagert, was ihm an Entbehrungen, Schmerz und flüchtigem Glück zugestossen ist. In Marienbad verbindet er Fitness und Körperpflege mit gesunder Ernährung, Aromabäder mit einer Thalasso–Kur und Ayurveda–Massagen. Der Unternehmer sucht ein Lebenskonzept, das den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist begreift, die im Gleichklang gehalten werden will. Der eigenverantwortliche Lebensstil soll zur Krankheitsprävention beitragen. Bei dieser Kur lässt er die Seele baumeln, derart entspannt lernt der zweifache Witwer einen Engel kennen.

Angelinas blondgewelltes Haar konkurriert mit den kindlichen Rundungen ihres Gesichts, das ärmellose Top ihres weissen Hosenanzugs begrenzt eine Figur, deren Weichheit von ein wenig Babyspeck noch betont wird. Doch ihr sanfter Tonfall schwingt aus einer tiefen, leicht rauen Stimme, in der man sich auch unschwer einen barschen Kommandoton vorstellen kann. Sie ist Amazone einer anderen Generation, begeisterte Reiterin, praktiziert Yoga und Meditation und ist für jede Aktivität an der freien Luft zu haben. Und sie trägt Tattoos, die philosophische Skepsis symbolisieren. Mit dem wachsenden Arbeitsdruck nahmen bei ihr psychosomatische Erkrankungen zu. Sie ist ausgebrannt, leer, ohne Antrieb. Die grosse Müdigkeit ist der Quaterlife–Crisis geschuldet; sie wehrt damit einen Druck ab, der seit Monaten mit der Arbeit immer mehr Lebenszeit fordert, immer tiefer in die Innenwelt dringt. Im Magen drückt ein Dauergefühl angespannter Überforderung. Zur Identitätsgestaltung durch autonomes Gesundheitshandeln und bewusstes Körpererleben gehört für Angelina die Rückbesinnung auf den Körper als elementaren Bezugspunkt von Identität und physischen Wohlbefindens, führt dazu, sich intensiver mit dem Leben auseinander zu setzen und mehr Bewusstsein auf den Einklang von Körper, Geist, Seele und Tod zu richten. Sie lebt in postexotischen Zeiten. Singleleben, hektisches Einkaufen nach Feierabend, bescheidene Vergnügungsgelüste über den Rand des eigenen Körpers hinaus, häufig wechselnde, flüchtige Geschlechtskontakte. Er passt in ihr Beuteraster.

Gegen Ende der achtwöchigen Kur verfügt Heiner über eine anachronistische Virilität. Sein Gang ist ein kraftvolles, raumgreifendes Schreiten, die ausholenden Armbewegungen und der argwöhnisch gesenkte Kopf erwecken den Eindruck einer bezähmten, aber nicht endgültig zivilisierten Wildheit. Auch in Momenten der Ruhe hält er sich aufrecht, kennt keine Entspannung, sondern verharrt in einer unweigerlich gerechtfertigten Wachsamkeit.

Empfangsbereit. An den fruchtbaren Tagen wird Angelina häufiger berührt, weil sie sich erotischer kleidet. Sie erlebte die erste grosse Liebe als einen göttlichen Moment, erstmalig öffnete sich ihre Seele und sie lies sich das erste Mal völlig ungeschützt von einem anderen Menschen berühren. Angelina besass Empfindung, Ernie Genie. Sie sprach von Liebe, er von Werken. Sie liebte ihn, und er liebte es, sich in der Kunst noch einmal zu erschaffen… dann hat sie herausgefunden, dass Intimleben nach dem Modell des Wirtschaftsliberalismus funktioniert; Menschen ohne Kapital und mit Figurproblemen haben auch auf diesem Markt des sexuellen Tausches kaum Gewinnchancen. Sie fragt eine lange Liste ab: Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Kinderliebe, hoher sozialer Status und gutes Einkommen, Ehrgeiz und Karrierebewusstsein, gute Herkunft und hohe Körpergrösse.

Weniger als zwei Sekunden braucht Heiner, um ihr Äusseres abzuschätzen. Dafür liefert Angelinas Aussehen entscheidende Informationen. Ihr symmetrisch geformtes Gesicht spricht für eine hohe Widerstandskraft. Grosse Brüste spiegelten nicht nur Fruchtbarkeit, sondern auch hohen Östrogenspiegel wider. Einerseits sucht er einen ähnlichen Partner, weil ihm das garantiert, dass mehr von den eigenen Genen erhalten bleiben. Auf der anderen Seite ist aber für Fortentwicklung der Art wichtig, dass er sein Erbgut mit einem möglichst unterschiedlichen Menschen kreuzt. Seine Eitelkeit, seine Realitätsferne, seine Verschwendungssucht, seine Wollust, seine Sucht nach Anerkennung zwangen ihn sein Leben lang, einem unerfüllbaren Traum, Kraftkerl zu sein, nachzujagen.

Im Wintergarten glänzt die alte Kassettenholzdecke im Kerzenlicht. Das Parkett quietscht, als der Ober es überquert und Tintenfischravioli, Artischocken und Rotbarbe auf Safranvinaigrette serviert. Dazu trinken sie Grangeneuve, einen kräftigen und lebendigen Wein, der ihre Zunge löst.

»Die riesigen Industriebrachen, die der Krieg zurückgelassen hat sind aufgeladen mit Bedeutungen aus der Vergangenheit, von denen nur noch Spuren und Fragmente übrig geblieben sind. Das waren Zonen, die von Erwachsenen nicht betreten wurden, in denen man unbewacht war, in denen es keine Erziehung gab. Wundersame Spielplätze, wo man die erste Zigarette geraucht hat oder das erste Mal geknutscht hat«, empfindet Heiner die Stadt als Körper. Er bewegt sich in ihren Adern wie ein Blutkörperchen in einem Herz– Kreislauf–System.

»Wir akzeptieren, dass der öffentliche Raum eine Transitzone ist, nichts anderes als eine Art Restraum «, setzt Angelina voraus, dass die Region ein gemeinsames Standort–Marketing betreibt. Die Stadt ist eine der komplexesten kulturellen Manifestationen von Gesellschaft und Gemeinschaft. Wandelt sie sich, so wandeln sich kulturelle Ausdrucksformen. Wenn sich Stadtbrachen ausbreiten und sich als Muster von potenziellen Freiräumen über den Stadtraum ziehen, öffnen sich neue Gestaltungsräume. Wenn sich die Stadt fragmentiert, soziale Sicherungssysteme versagen, die Stadt als Integrationsmaschine versagt, bauen sich Polaritäten auf. Die Menschen suchen sich alternative Versorgungssysteme, bilden Solidargemeinschaften, bauen informelle Kooperationsnetze jenseits von Markt und Staat auf. Andererseits fallen sie auch aus sozialen Netzen heraus, gleiten in Armut ab, und der Zugang zu gesellschaftlicher Teilnahme verschliesst sich. Der Bauraum Stadt ist schliesslich nur noch erstarrte, Stein gewordene Erinnerung an vergangene Funktionen und Anforderungen.

»Stress ist wie eine Geigensaite, sie reisst bei zu viel Spannung. Aber ohne sie ist man verstimmt. Früher konnte ich die Leute noch anschreien, heute muss ich sie überzeugen«, erzählt Heiner bei ihrem Verdauungsspaziergang durch den Park und beklagt, dass die meisten Chefs wenig Ahnung von Menschenführung haben. Sie sind nicht in der Lage, Sinn zu vermitteln, der Unsicherheit entgegenzusteuern oder auch gegenüber ihren Angestellten die Gebote der Fairness zu achten.

»Was tust du dagegen?«, erkundigt sich Angelina und sieht auf gelbe Felder mit tiefgrünen Baumgruppen, verwachsene Wälder, Seen mit Schilfrand und einen Himmel, bei dem gestanzte Wölkchen auf milchigem Blau zu sehen sind.

»Die Arroganz von Ohnmacht muss auf Seiten der Mitarbeiter genauso überwunden werden wie die Arroganz von Macht auf Seiten der Chefs, bedingt durch eine unsensitive Mitarbeiterführung. Das würde es viel leichter machen, sich mit Veränderungen zu arrangieren«, sieht Heiner mit Abstand ein, dass sich Pflichtbewusstsein, Perfektionismus und Selbstdisziplin unter den Bedingungen der Globalisierung als Untugenden erweisen. Sicherheitsdenken und Perfektionismus kippen in Zeiten von Unsicherheit und Komplexität in Ängstlichkeit um. Hohe Anspruchshaltung und purer Selbstentfaltungstrieb im Sinne eines Egotrips plus alter deutscher Perfektionismus, dass alles korrekt und perfekt sein muss, erzeugt keine konstruktive, optimistische und proaktive Grundhaltung für Veränderungen. Viele Menschen beuten sich selbst aus, sie fühlen sich als Opfer des Systems und der Verhältnisse. Und es entsteht so etwas wie eine Arroganz der Ohnmacht und der Ohnmächtigen.

»Ein anspruchsvolles Lernprogramm«, so glaubt sie im Gegensatz zur Entwicklung, dass jeder Einzelne versucht, sich selbst und seinen Wert zu optimieren, um im Wettbewerb durch Besonderheit aufzufallen. Das Ich poliert seine Fähigkeiten vor dem Spiegel, bis an die Stelle von Begriffen und Objektivierungen allein der subjektive Eindruck tritt. Im Spiegelsaal der Gegenwartsgesellschaften steht das unsichere Ich, das auf die Belohnung wartet, die ihm versprochen wurde. Aus den Idealen der Selbstverwirklichung sind Zwänge geworden, aus Wünschen Forderungen.

»Es ist ein Gesundheitsmanagement vonnöten: Die Verantwortung für körperliche und geistige Fitness der Mitarbeiter. Die Menschen müssen lernen, sich mit den Veränderungen zu arrangieren, und dieser Lernprozess muss in den Führungsetagen beginnen. Wenn den Menschen vermittelt wird, dass ihr Engagement Sinn hat und einen Wert, der nicht nur materiell ist, dann werden sie sich engagieren und Veränderungsprozesse positiv bewerten. Menschenführung ist defizitär, nicht nur in Unternehmen, sondern überall«, sieht Heiner das Individuum so lange aufsteigen, bis es eine Position erreicht hat, der es nicht gewachsen ist. Es ist im Irgendwo stecken geblieben, erfüllt banale Funktionen, dennoch ist es, als sei dieser Mensch in eine Aura des Grauens gehüllt, sie strömt von den verwesten Kräften, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Ausweg gefunden haben, jede Form von Rollenkontinuität ist ihm unerreichbar.

Angelina und Heiner werden aus der Kur von einer Lebensreglosigkeit wieder geheilt und als funktionsfähig entlassen. Haben die Work–Life–Balance zugunsten produktiver Melancholie und Selbstzweifeln verlagert. Es geht ihnen nicht darum, dass Misstrauen und Einsamkeit am Ende alles zwangsläufig zusammenführen, sie leben eine Freundschaft aus Verlässlichkeit und Loyalität.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

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