Als Kind las ich meistens im Bett, ich kuschelte mich in die Decke und dann konnte ich stundenlang, manchmal den ganzen Tag, in mein zweites Bett kriechen, das Buch war mein Bett im Bett, mit dem ich geschlafen habe, das meine Höhle war, in der ich ganz wach schlief. Am Wochenende im Winter war das leicht, und meine Großmutter, Mama Louise, mit der ich lebte, ließ mich den ganzen Tag in meinem Doppelbett. Dann las ich Ben Hur zwei Mal, drei Mal, vier Mal, aber nicht hintereinander, ich las Kampf um Rom und Huckleberry Finn, ich las an solchen langen Wintertagen zwei bis drei Bücher gleichzeitig. Schwierig waren immer die ersten 30 bis 50 Seiten, dann war ich drin. Ich las dann das Buch immer zu Ende. Ich habe noch in Erinnerung, wie schnell ich damals las – es ist dasselbe Tempo wie heute: Etwa 30 Seiten in der Stunde. Das ist langsam. Ich genoss die Sätze. Ich sprach in Gedanken das Gelesene mit, um es besser betonen zu können. Ich liebte die Bücher mit viel wörtlicher Rede – in den Karl-May-Romanen, die ich in Serie las, am liebsten Durch die Wüste, Allah il Allah, wurde viel gesprochen, und die Helden hatten viel Erfolg, da lohnte sich die Identifikation mit ihnen.
Ich glaube, ich habe den Thesen des Aristoteles, die er für die Tragödie aufstellte, voll entsprochen: Wenn ich Bücher las, ob Dr. Doolittle oder Enid Blyton, Karl May oder Quo vadis? – immer reinigte ich meine zart reifende Seele von Furcht und Mitleid in den imaginierten Abenteuern der Helden. Tom Sawyers trickreiches Leben, Old Surehands Klugheit – das war meine Katharsis. Meine Helden mussten Männer sein, kleine oder große. Mit Frauen wusste ich nichts anzufangen. Erst sieben Jahre später interessierte mich Madame Chauchat, die heiße Katze im Zauberberg, Molly Bloom, oder Lolita – obwohl… die Frauen in der hohen Literatur lassen sich primär über die hinter ihnen stehenden, über oder unter ihnen liegenden Männer definieren. Männer blieben immer interessanter, in der Literatur und in den geistigen Dingen. Ich sage nur, wie es ist. Ich bilde keine Theorie. Ich beanspruche keine Aufmerksamkeit für meine Erfahrung. In meinem erwachsenen Leben liebe ich natürlich Frauen – aber das ist nicht die Literatur oder die Philosophie. Das ist ein anderes Kapitel des großen Romans, den ich mit meinem Leben selber schreibe, das mich schreibt und in Versen und epischen Sätzen reflektiert. Eins geht ins andere über.
Als Kind träumte ich die gelesene Realität in meinen Tag, und heute geht es mir ganz ähnlich, natürlich viel subtiler, ich erkenne im Leben der anderen und in meinen Handlungen immer wieder die literarische Essenz, sehe mich selbst als einen Helden meines gelebten Romans, und identifiziere mich mit dem Helden, der ich nun selber bin, und ich schreibe mich und lese mich, lese mich und schreibe mich, es ist ein und dasselbe. An die Stelle der Seiten treten die Jahre. Das Ende kenne ich nicht. Ich bin das Buch, das sich schreibt.
Ich schreibe, ich lese, und während ich lese, schreibe ich schon weiter. Ich fühle mich wie der Hase dem Igel in mir unterlegen, ich will aber kein Igel sein, kein Techniker von Permutationen meiner Poesie, ich schreibe wirklich immer weiter, schreibe mit meinen lesenden Augen um die Wette, bin mir immer um mindestens ein Wort voraus, und wenn ich versuche über den Schatten des Geschriebenen zu springen, erreiche ich nie die Geschwindigkeit im Lesen, werde ich mich nie einholen, auch nicht, wenn ich rückwärts lese. Ich käme nie an den Ursprung der Worte, der sich mir entzieht wie das Jenseits der Schatten. Aber ich könnte mich leicht einholen und dann auch überholen, wenn ich nur wollte, ich könnte der Schattenspringer werden und aus dem Diesseits der Sprache in ein Jenseits der Worte springen, wenn ich nur wollte und wenn ich begriffe, dass ich das kann.
Lese ich, wenn ich schreibe? Ich drehe die Frage in die Antwort: Ich schreibe, wenn ich lese.
Ich könnte mich, wie gesagt, überwinden, aber nie lesend, immer nur schreibend. Der absolute Leser, der a priori der beste Leser ist, muss nur wissen, dass er als Leser der absolute Autor ist. Er wird dann auch erfahren: Er ist der beste Autor, den er lesen kann. Dieser Leser, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der aufgeklärte Leser, der ideale Leser, wenn er beim Lesen erkennt, dass er das Buch, das er gerade liest, auch lesen könnte, wenn er es selber schriebe, und eigentlich müsste er es dann gar nicht mehr schreiben, sondern einfach nur leben. Er ist dann der Leser seines Lebens, dessen Autor er zugleich ist, der das Buch nicht braucht, der sich selbst zuklappen und wegwerfen kann wie ein Buch, das er schon kennt, dessen unbeschriebene Seiten in ihm selber sind und die man nur beschreiben muss um zu leben.
So kann ich am Ende sagen: Indem ich mich lese, hebe ich auf, was ich schrieb – und indem ich schreibe, hebe ich auf, was ich lese. Ich bin das Wort.
Ich schrieb, wenn ich als Kind im Bett mit meinen Büchern schlief, alle Romane, Heldensagen und Micky-Maus-Geschichten, die ich las. Ich schrieb, was ich las. In der Schulwoche las ich unter erschwerten Bedingungen, denn mein Vater, der zwei Stockwerke über mir in seinem Studierzimmer wohnte, kontrollierte abends das Licht, das ich spätestens um zehn ausknipsen musste.
Ich wollte lesen, unbedingt, und ich knipste die Lampe wieder an, wenn mein Vater mein Zimmer verlassen hatte. Wenn ich ihn die Treppe hinab steigen hörte, knipste ich die Lampe wieder aus, dann sah mein Vater kein Licht in der Türritze. Das ging nicht lange gut, mein Vater fühlte die heiße Birne und nahm mir die Lampe weg. Eine Zeitlang las ich mit der Taschenlampe, aber die Batterien reichten nicht lange. Ich holte Kerzen aus dem Keller und hielt sie zwischen den hochgestellten Knien fest. Die Daunendecke wölbte ich halb über die brennende Kerze. Es strengte mich zwar an, aber ich fand mit der Zeit eine Haltung, in der ich lange lesend verharren konnte.
Eines Tages aber fiel ich mit meinen Gedanken derart tief ins Buch, dass ich nicht merkte, wie ein Schwelbrand entstand. Erst der beißende Qualm weckte mich, ich schlug auf die glimmende Decke, wollte den unsichtbaren Brand löschen, doch nun stoben die Funken, ich schlug weiter und auf einmal brannte das Bett. Die Flammen machten mir Angst. Ich kam einfach nicht auf die Idee das Feuer zu ersticken, ich schlug immer weiter auf das Feuer ein, bis ich weder ein noch aus wusste, aus dem Zimmer lief und um Hilfe rief.
So lese ich heute noch.
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Weiterführend → Lesen Sie zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.
Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.