Ein König sitzt auf seinem Thron und spricht: »Alle meine Straßen sind geplastert – kein Steinchen kann meine Schritte hemmen – alle meine Straßen sind gefegt – kein Stäubchen kann meine Kleider beschmutzen – alle Straßen sind mit Baldachinen überdeckt – keine Regenpütze kann mich zum Ausgleiten verleiten – doch was hilft das alles gegen die furchtbare Erkenntnis: man könne über sich selber stolpern. – Herr Geheimrat, es tut mir leid, wir müssen zu Haus bleiben – man könnte über sich selber stolpern.«
»Sie müßten sich selber vergessen lernen«, sagte der Geheimrat. »Streichen Sie das Datum Ihres Regierungsantrittes aus dem Kalender – Sehen Sie sich nicht mehr in den Spiegel, denn durch die Reinigkeit des Glases bringen Sie Ihre Gestalt mit dem Nichts in Verbindung – Sie müßten sich in sich selber verlieben«, sagte der Geheimrat, »denn auf Flügeln des Gesanges –«
»Ich wäre nicht die erste Frau, die mich verführt«, seufzte der König. »Sie übersehen die Gefahren des Mitleids und der rein menschlichen Einfühlung.«
Die Tänzerin sagte: »Uff« und der Ballettmeister setzte sich und sagte: »Schluß«. Die Tänzerin warf die unverschämten Flitter auf einen Schemel und stellte sich in ein Waschbecken, um sich abzuseifen. Sie war etwas erhitzt und kokettierte heftig mit ihrem Spiegelbild.
Der Lehrer biß sich in die Lippen. Sie schien gar keine Empfindung für die Anwesenheit eines Mannes zu haben. Er fand sich plötzlich schamlos.
Sie fixierte die Rubinenknöpfe seines festgestärkten Vorhemdes: »Sagen Sie etwas!«
Seine Lippen zitterten. Seine cynisch langen Finger umkrallten die Kniee. Die ganze herrische Gestalt, die nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen schien, dieses anatomische Praeparat aus dem Panoptikum, dem ein grausamer Medikaster alles Fett praepariert hat, verkrampft sich zu einer Bitte: »Laß mir meine Überlegenheit.«
Er spricht hastig. Von der hohen Schule des Tanzes, von den Idealen der reinen Kunst. »Leichtigkeit, Fräulein«, sagte er, »Leichtigkeit, Fräulein! So ein alter weißhaariger Tanzmeister wäre gern Jehova selber, der Donner vom Sinai, nichts dürfte mehr schwer sein, und alles müßte heiter werden, lächeln, mein Fräulein, goldig lächeln, Bewegung alles und Musikmeisterschaft überhaupt – niemand dürfte an Tragödie denken.«
Sie steckte die Ringe an ihre Wurstfinger und drückte ihm heftig die Hand.
Draußen wartete ihr Galan, ein biederer Realgymnasiast.
»Schularbeiten schon gemacht?« fragte sie schnippisch.
Er ging neben ihr, die Hände in den Hosentaschen, und starrte verzweifelt auf die Reihe von Bogenlampen, die die Allee an ihrem Ende zu auf dem Boden zu berühren drohte – gemäß einem Gesetz der Perspektive – äußerst modern phantastisch – aber jeder traditionellen Lyrik abhold.
»Josephine«, sagte er, »was soll man mit Ihnen reden?«
»Man sollte überhaupt nicht reden«, kam die Antwort.
Er sah sie von der Seite an und erinnerte sich mit Beschämung, bei einer Keilerei heute früh den Kürzeren gezogen zu haben.
»Man sollte es sich leichter machen«, hieß es weiter. Und dann – unter Androhung einer Umarmung –: »Ich würde es euch gönnen, wenn der Alte lieber Gott wäre. Vor lauter Hoppa Grazie und Tackt Tralala würdet ihr keine ruhige Minute haben.«
Ein Affe war einst, der war ein Dorfschulze unter den Affen, und jede Nacht traf er sich mit seinen Kumpanen zu Kokusessen und Witzeerzählen.
Doch einst auf dem Wege zum Wirtshaus kam es über ihn – sei es, weil der Mond ihm zu eisig auf den behaarten Schädel schien – dieses unerbittliche Gestirn – sei es, daß der Wind einen fremden Blütenduft ihm zuwehte durch die schokoladene Finsternis – wer vermöchte die Geheimnisse der Intuition erraten – verbürgt ist, daß er in jener Nacht unter seine Kumpane trat und sprach: »Was ist des Lebens Zweck? Und wozu ändern wir uns von Tag zu Tag? Man sagt, die Menschen seien eine höhere Stufe unserer Rasse, meine braven! – Aber geht, wir haben Hände und können auf allen vieren gehen – sie aber haben nur zwei Hände und müssen auf den Füßen gehen – Bedenkt die Entfremdung eines Organes seiner freien Zweckbestimmung – die Unterwerfung desselben einer einzigen Funktion – seiner Aesthetisierung sozusagen – man zwingt es mehr, einen Zweck darzustellen als ihm zu dienen – die Entzweckmäßigung – das scheint mir das ideale Ziel der Entwickelung der Hand zum Fuß zu sein. Und nun noch eins, meine Lieben: Ist der Mensch wirklich ein höheres Wesen? – Er, der doch von den Affen abstammt, also verursacht ist, ist er nicht für jene tiefere genetische Anschauung, die Zusammenhänge überblickt, doch nur ein Affe? Wozu die Qual der Historie und des vernichtenden Kampfes ums Dasein?«
Mit dieser Frage schloß er seine Rede und ging hinaus in die schokoladenfarbene Nacht zu seiner problemumrauschten Lagerstätte und bereitete sich für die nächste Zusammenkunft vor. Und er kam wieder und sprach: »Das Dasein hat keinen Zweck, denn es entbehrt des zureichenden Grundes – Wie nun? Wir sitzen und knacken Nüsse und erzählen uns Witze um Lachen – sollten wir uns nicht in unserem freiesten erheben zur Höhe der Welterkenntnis, wenn wir uns am ungebundensten sind, wenn wir lachen? Auf, meine Herren! seien wir ehrlich und lachen von heute ab – ohne Gründe.«
Und er verließ seine Freunde und seine palmenumrauschte Lagerstätte und die schokoladefarbene Nacht seiner Heimat und gründete die Religion derer, die ohne Gründe lachen – und die Weisen und die Priester und sein ganzes Volk saß auf den Bergen und sang:
Tiefe feite dich vor Gründen
Heiter rieten wir (uns): Nicht
Deines Unsinns Bünde gründe
Breiter treibe hin zum Licht
Ständig schallt die alte Losung
Erlösung: Lösung ausgelacht.
Ist es Liebe, ist es Bosung,
Was uns das Genie vermacht?
Galileo Galilei soll diesen prophetischen Urmenschen in den Wäldern der Mongolei getroffen haben. – Er war sehr einsam und saß betrübt und mager auf einem Steine: »Ich habe keinen Bauch mehr zum Lachen«, trauerte er, »denn ich muß meine Jünger täglich lehren – daß man das Leben nicht ernst nehmen soll.«
Das Geschrei aber jener Affen, die dem einsamen Mann anhangen, soll den Felswänden jener Gegend ein besonders melodisches Echo verleihen.
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Jakob van Hoddis (Geburtsname Hans Davidsohn; * 16. Mai 1887 in Berlin; † 1942 in Sobibór, „Generalgouvernement“) war ein deutscher Dichter des literarischen Expressionismus. Er ist besonders bekannt für das Gedicht Weltende, ein Werk aus der Anfangszeit des Expressionismus. KUNO möchte den Lyriker nicht auf dieses One–Hit–Wonder reduziert wissen, die Redaktion entdeckt in seiner Kurzprosa einen Vorläufer der neuen Literaturrichtung Twitteratur und macht es sich zur Aufgabe an diesen Sprachwitzigen Autor zu erinnern.
Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.