„Bad“ Mülheim, die Hauptstadt des Trash

Es scheinen sich Pulp-Strukturen sehr gut zur literarischen Bearbeitung von zeitgenössischen Themen zu eignen. Gerade dann, wenn die Texte sich eben nicht von ihren ’subliterarischen‘ Wurzeln distanzieren, sondern sie produktiv einsetzen. Die rohen, schmutzigen Elemente des Pulp, die durchaus neuralgisch-unkorrekte Momente enthalten können, bewahren vor der Falle der ‚guten Sprache‘, des ’sauberen Plots‘ einerseits, und hochgeblasener literarischen Ambitionitis. Mühsam als biedere Kriminalromane getarnte Sozialreportagen oder Betroffenheitsliteratur kann man glücklicherweise so nicht produzieren.

 

Thomas Wörtche.

Imitation of Life, Helge Schneider stellt eine Pose von Rex Gildo nach

Der ewige Nonkonformist Helge Schneider ist wahrscheinlich der bislang einzige Solo-Künstler, der gleich mit seiner ersten Platte den Titel Seine größten Erfolge gab. Begleitet wurde er bei den Aufnahmen durch Tonmeister Tom Täger im Tonstudio an der Ruhr. Schneiders Selbstausdruck ist seit jeher die Improvisation, die bei ihm zum künstlerischen Selbstausdruck und zur Lebenseinstellung geworden ist und die er nach den Grundlagen des Jazz in alle Bereiche der Kunst überträgt. Er gehört zu der Künstlerkatgeorie der Genialen Dilettanten, der verqueren Humoristen, der Subkultur–Propheten. Anfangs begleitet durch das Combo Hardcore, bestehend aus Buddy Casino (Klavier und Farfisa-Orgel) und Peter Thoms am Schlagzeug. Die Texte seiner Lieder sowie der Inhalt seiner Erzählungen sind nur in einem Grundgerüst angelegt und werden bei jedem Auftritt frei variiert und weiterentwickelt. Er ist beeinflusst von Künstlern wie Thelonious Monk, Louis Armstrong und Duke Ellington und ist Interpret von Jazzstandards, wie Fly me to the Moon. In einem Gespräch mit Täger bezeichnete sich Schneider als eine „singende Herrentorte“, der „Sinn im Unsinn“ findet, das Cover seines ersten Album wurde einer Plattenhülle von Rex Gildo nachgestellt. Erwartungen des Publikums werden von ihm konsequent nicht bedient. Dieser Artist bewegt sich hemmungslos zwischen Hoch- und Subkultur, zwischen Kindersprache und Literatur, verbindet Alltag und Albernheiten mit einem breiten kulturellen Hintergrund und verliert sich in ausufernden Erzählungen, die der den Menschen zuerst bei Eduscho, dann in der Eiscafé Agnoli am Kugelbrunnen in Bad Mülheim abgelauscht hat.

Die Herzkammer von „Bad“ Mülheim

Das Eiscafé Agnoli war die Herzkammer von „Bad“ Mülheim. Hier trafen Szenegrößen wie Peter Eisold, Schneider, Kurowski und Täger auch auf den Oberhausener Christoph Schlingensief, der viel zu früh am 21. August 2010 starb. Der „Biber“ war das Enfant terrible, er war der Polit-Clown und er war jemand, den man gerne eingeladen hat, weil man wusste, dann passiert was und das ist irgendwie Unterhaltung. Aber er wurde nicht wirklich ernst genommen. Eine Erinnerung der Eisenheimerin Eva Kurowski.

Eva Kurowski hat den Jazz proletarisiert!

Die ZEIT

Die Proletendiva Eva Kurowski singt ihre selbst komponierten Lieder in einer völlig eigenen Ausdrucksform. Bodenständig und authentisch, zwischen Jazz, Humor, Chanson, kleiner Welt und großer Welt, wird sie mal als die Billie Holiday des Strukturwandels (gar nicht so falsch, aber nicht wahr), oder als die Ruhrgebiet-Knef (total falsch, aber irgendwie richtiger) beschrieben. Tatsächlich hegt sie wie Billie und Hilde eine große Liebe zum Jazz, und die lebt Eva unüberhörbar mit ihrer Band aus. Daß die Musik von Eva grenzüberschreitend ist, bemerkte man auch in der Comedy-Szene. 2002 erhielt Eva darum den Comedy-Carl-Preis. 2011 wurde sie für ihr Album Reich ohne Geld mit dem Künstlerpreis Hungertuch ausgezeichnet,  dieser Preis ist speziell für Künstler, die neue eigene Wege gehen.

Ähnlich wie bei The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman von Laurence Sterne, beginnt die Geschichte von Eva Kurowski vor der Geburt: „Es begann damit, daß mein Vater, der ein begeisterter Trompeter, Marxist und Grafiker war, einen Samenerguß hatte, und zwar in meiner Mutter.“ Frei von der Leber weg berichtet die ‚Disöse’ Eva Kurowski in Gott schmiert keine Stullen über eine ‚sozialistische Kindheit im Ruhrgebiet’. Die Autorin ist eine ironische Realistin, sie schreibt einen biographischen Text, der alle Nuancen der Welt- und Ich-Erfahrung aufnimmt und in Sprachklang umsetzt. Ihr Buch liest sich wie ein über Jahre gereiftes Initiationsbuch einer Autorin, die darin ihre Berufung zur Schrift schildert. Indem sie ihre Leser auf falsche Fährten lockt, führt sie sie auf die richtige Spur.

Kartographin des Ruhrgebeats

Die schaumgeborene Eva posiert für den Pirelli-Kalender

Eva Kurowski ist eine Kartographin des Ruhrgebiets, das sie so detailgetreu nachzeichnet, daß das Abbild mit der Wirklichkeit deckungsgleich wird, um alsbald in dieser zu zerfallen. Gott schmiert keine Stullen besteht aus Simulakren, aus quasi parodistischen Nachahmungen des wirklichen Lebens, wir treffen Edelkurt, Jerko, Fasia und Helge Schneider, also lebensechte Menschen aus der Region. Bei dieser sozialistischen Kindheit im Ruhrgebiet ist niemand gleichgeschaltet. Jeder lebt sein Drama, jeder ein anderes. Eva Kurowski weiß es, und sie gestaltet diese Dramen ebenso gewaltig wie zart. Ihre halluzinativ genaue Wiedergabe von Geringfügigkeiten, in deren Verkettung ein Ort und eine Zeit decodierbar werden, macht sie zur Post-Pop-Autorin, einer Heimatdichterin fern aller Folklore und eine Reiseschriftstellerin im eigenen Hinterhof. „Im Hinterhalt des Alltags sind wir verlorene Kinder“, scheint es immer wieder aus dem Subtext von Gott schmiert keine Stullen zu raunen. Doch haben einige die Chance, das Ganze selbstbestimmter zu bestehen.

Leberwurst und Lebensdurst

Was bei ihrer CD Reich ohne Geld an lächelnder Schwermut antönt, findet sich auf knapp 200 Seiten in Gott schmiert keine Stullen, ihre eigentliche Kunst bleibt ganz an der Oberfläche, fast hält sie die Firnis, die unmittelbarste, epidermische Wirklichkeit fest. Kurowskis Menschenporträts, von Erörterungen der eigenen Zerrissenheit durchwirkt, verdichten sich zum Sittengemälde des Ruhr-ge-Beats. Ihre kompositorische Wurstigkeit macht sie mit Ansätzen zur Konzeptkünstlerin avant la lettre wett. Das entfesselte Wort wird in Gott schmiert keine Stullen zu einem erstaunlichem Buch. Es kommt unangestrengt daher, entfaltet seine Lebensklugheit ohne Belehrsamkeit und erweist sich überdies als großes Lesevergnügen.

Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben. lyrikwelt.de

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten.

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt bei Andreas Mangen.

Als A.J. Weigoni 1991 seine LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht erfunden) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten.

Es erscheint fast logisch, daß diese Artisten sich über den Weg laufen mussten. 1995 begann die Zusammenarbeit mit A.J. Weigoni, der sich seit langem mit Trivialmythen beschäftigt. Täger hat gleichfalls dieses Faible. 1995 begann die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger. Dieser Hörspielkomponist hat ein Faible für Trash, ihn faszinieren die technischen Entwicklungen der elektronischen Medien. Seine vielgestaltige Arbeit als Musiker und Produzent im Tonstudio an der Ruhr läßt sich exemplarisch an der Produktion RaumbredouilleReplica darstellen. „Was heute noch wie ein Märchen klingt…“ – so haben sich die Deutschen in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zukunft vorgestellt, als militärischen Staat, in dem die Akteure in einem Rhythmus reden, der sich als Vorläufer des Raps hören lässt. Bei der Hörspielcollage RaumbredouilleReplica geht es in einer Invasion der Geistesgegenwart um alles: Die Bedrohung der Erde. Einen gesteuerten Schnellläufer. Eine Invasion und natürlich: Die Rettung der Erde. Selbstverständlich mit einem Humor, der Lichtjahre von der Spass- und Eventkultur dieser Tage entfernt ist.

Was 1995 begann fand in 2015 die mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluss, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert oder bei dem zweiten Monodram Unbehaust eine Klang-Collage aus Papiergeräuschen anfertigt. Weigoni bewegt sich auf dem Hörbuch Gedichte in der Intermedialität von Musik und Dichtung, er sucht mit atmosphärischem Verständnis die auditive Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

Einen würdigen und vor allem stilvollen Abschluss findet die Zusammenarbeit A. J. Weigoni und Tom Täger nach einem viertel Jahrhundert mit dem multimedialen Projekt 630. Es ging bei der Zusammenarbeit um eine Synthese, die Alchemie des Zusammenbringens, die Erweiterung der Vorstellung, was mit Literatur, Musik und Kunst möglich ist.

MetaPhon

Dokumentiert wird das, was in den 1990ger Jahren als audio-art begann, auf der Plattform vordenker.de mit der Reihe MetaPhon, in der Facetten der multimedialen Kunst und des Hörbuchs zugänglich gemacht werden.

Man kann vor dieser Entwicklung die Augen verschliessen, aber nicht die Ohren.

 

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Weigoni-Porträt: Anja Roth

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp.