Essayistische Alltagsbetrachtungen
Sie geht ins Eiscafé und testet die Welt. Sie will wissen, wie sie wirkt. Sie setzt sich an einen Tisch in der Mitte des Raums und schaut durch die Sonnenbrille. Sie schlägt die Beine übereinander und blättert in der Brigitte. Männer lachen und drehen sich um zu ihr, stellen sich vor, wie sie ohne ihre Sonnenbrille aussieht. Ich setze die Brille ab. Nein. Noch nicht. Sie sollen sich vorstellen, wie ich aussehe. Ich sehe gut aus, das weiß ich. Aber ich will ein Geheimnis sein. Die Eisdiele ist überfüllt. Ich weiß, was ich will. Auch am Nebentisch sitzen Beine. So lange Beine habe ich nicht, denkt sie. – Signorina? – Sie bestellt Espresso und Cassata. Ich liebe halbgefrorenes Eis! Sie denkt ans Kino gestern, den Film, den Kuss, die Wärme in ihr. Endlich schaut er mich an! Mit der Sonnenbrille ist es einfacher. Die Blicke sind mein Spielzeug. Ich stelle mir vor, der Mann kommt zu mir, spricht mich an. Sie lacht. Aber mehr innerlich. Gleich steht er auf … Ich bin ein Mädchen wie jedes andere Mädchen. Nein. Ich höre seinen Schritt auf den Steinplatten. Doch. Ich werde von allen Seiten beobachtet. Sie rutscht auf dem Stuhl etwas höher, die Beine werden länger. Der hält es nicht mehr lange aus, schon wird er unruhig auf seinem Stuhl, ich spüre das. Es ist schön, wenn jetzt eine Katastrophe geschieht. Er schaut zu mir. Katastrophe, mein Lieblingswort. Jetzt steht er auf. Sie nimmt die Brille von der Nase und schließt die Augen. Ohne Katastrophe ist alles so … langweilig … Ich hebe ganz langsam den Kopf, so langsam, dass ich zu ihm aufschaue, wenn er vor mir steht. Sie spürt, wie ihr Blut schlägt. Meine Augen! Ich kann sie nicht öffnen! Verdammt, ich sehe nichts! Sie fühlt seinen Schatten. Dann reißt sie die Augen auf – und sieht durch ihn hindurch, das Blut rauscht, es wird dunkel. – Prego!
Teepause. Was Sie da machen, lieber Freund, bemerkte sie trocken, ist zum Scheitern verurteilt. Sie hielt inne wie jemand, der noch etwas sagen wollte, aber sie schwieg bedeutungsvoll, und der Angesprochene schwieg mit. Dass die Gesellschaft alles ablehnen würde, was er plante, war ihm klar. Er schaute zu ihr, sie schaute zu ihm, aber sie schaute durch ihn hindurch, denn sie hatte ihm nichts zu sagen. Er hörte den Nachhall der letzten Worte, die in seinem Herzen viel lauter klangen als in der wirklichen Stille. Ich muss den Lärm dieser Worte übertönen, dachte er. Man hat als Einzelner …, rief er, als sie sofort: Glauben Sie, das wäre das Schlimmste? einwarf: … keine Chance! Der Kellner stellte mitten in diese Worte den Tee auf den Tisch. Sie griff zur Tasse und trank. Sie hielt die Tasse so, dass sie ihrem Gegenüber unentwegt in die Augen starrte. Da verschluckte sie sich, ihre Hand ließ die heiße Tasse los. Der Kellner fing die Tasse auf, stellte sie auf den Tisch zurück und entfernte sich. Wo waren wir stehen geblieben?, fragte sie, und er konnte spüren, dass sie an einer Antwort gar nicht interessiert war.
Luzindes Traum. Erster Eintrag. Ich träumte letzte Nacht von dir, ich träumte von einem Bild in Blautönen und einer feurigen Farbe oben. Blau der Waldsaum (mit kleinen weißen Tupfern), davor ein zerscherbter See, chamois flimmernd, darüber helle Wolkenfetzen und oben die Sonne … am Ufer ein schwarzer Angler. Ich malte das Bild nicht mit Ölkreide oder Tusche, sondern Sprühfarbe, Hochglanz. Du spottetest, als ich dir das Bild schenkte. Du nahmst es lachend und zündetest es mit einem Streichholz an.
Zweiter Eintrag. Während ich schreibe, fällt mir wieder der Zusammenhang ein, warum ich das Bild malte. Willst du das wissen? Ich fuhr in einem weißen Transporter. Ein Mann, schön wie du, aber Ende vierzig, saß am Steuer. Schwarze, schulterlange Haare fielen auf sein weißes Hemd. Er erzählte mir von seiner verstorbenen Liebe, da geriet der Wagen durch heftiges Gestikulieren aus der Bahn. Der blaue Fluss kam auf uns zu. Ich schrie: Achtung!, aber der Mann reagierte nicht. Dann war es ganz still, wir saßen starr, und während wir ins Wasser tauchten, sah ich am anderen Ufer einen dunkel gekleideten Mann, der angelte. Ich will dich angeln, äugiger Fisch … Suche ich den Mann, der mich mehr liebt als du? Die Scheiben platzten vom Druck des Wassers. Salzschnee füllte den Raum.
Dritter Eintrag. Ich hatte Angst. Die Hand des Fahrers packte mich. Wie er blau anlief, als er sich nicht losschnallen konnte! Der Transporter sank immer tiefer. Ich riss den Gurt auf und schwamm zum Fenster hinaus … Ich hatte Angst zu spät zur Vorlesung zu kommen (genau, so war es!). Dabei tauchte ich auf, als der Morgen graute. Ich hörte Glocken in der Ferne. 8 Uhr. Schnell stieg ich aus dem Fluss. Als ich auf der Straße war, konnte ich nicht laufen (ich konnte nicht mehr gehen). Ich kroch auf allen Vieren über glühende Kohlen. – Am Tor standen die Studenten, die frei hatten. Ich stieg auf steilen Treppen empor, lief durch enge Gänge und klopfte endlich an die Tür. Nass und stinkend betrat ich den Saal und setzte mich neben dich. Ich wollte mich entschuldigen, aber du sagtest, zur Strafe zeichnest du ein Bild deiner Verspätung! Du bist doch so von deiner künstlichen Ader überzeugt (Du sagtest künstliche Ader!). Das waren deine Worte. Das warst nicht du, es war dein Körper. Also tat ich, was du verlangtest. Ich male mein Bild …
Wanschecker. Der Kellner brachte die Pizza und stellte sie nebenan auf den Tisch des Dichters. Aschenberg bekam Hunger. Kuschwelker, sagte er, bestellen wir uns auch so ein Loch! – Pizza, meinen Sie, lächelt Wuschkelker. – Loch!, sagte Aschenbecher, das ist literarisch gesehen dasselbe. – Aha, meinte Wunschklecker. – Sehen Sie, sagte Achenbecker, das Loch ist die Leerstelle an sich, die Pizza ist eine konkrete Metapher dafür. – Mein Gott, entfuhr es Wunschecker … – Es ist so leicht zu verstehen, sagte Wachecker. – Herr Wanschecker, sagte Wanschecker, in mancher Hinsicht werden wir uns immer ähnlicher …
Verkehrte Fabel (nach Kleist). Wenn du mich nur hättest, dachte das Pferd, sich einen Menschen vorstellend, der mit einer grünen Brille vor ihm stand und nicht aufsitzen wollte; wenn du mich nur hättest, ehe ich zuerst, das unerzogene Kind der Natur, zu deinen Feldern kam, in deine Räume! Ich wollte dich schon führen, leicht, wie ein Vogel, dahin, über Berg und Tal, wie es mir gefällt; und dir und mir sollte dabei wohl sein.
Aber da hast du die Künste gelernt, Künste, von welchen ich, nackt, wie ich vor dir stehe, nichts weiß; du müsstest mich zu dir in die Bücher reiten (wovor mich doch die Fabel bewahre), wenn wir uns verständigen wollten.
Am Abend. Leonie legte sich auf den Teppich und schnitt aus den Zeitungen und Illustrierten, die sie im Wohnzimmer fand, ein Wort nach dem anderen aus, kleine Sätze, auch Bildchen und Symbole, farbig, schwarz, und grau und blass, klebte sie dann auf weißes Papier, und so entstanden kleine skurrile Texte, die sie da zurecht schnipselte, manche waren traurig, andere absurd. Gedichte aus lauter Sandkörnern. Ich sammle das Strandgut der Zeit … Ich stehe am Sommerrand, las sie, da kam ein aufgeräumter Mann, hatte kreideweiße Schuhe und pfiff ein Möwenlied … Abend für Abend saß Leonie in ihrem Sand und das ganze Haus roch nach Meer, den der Wind in alle Zimmer wehte. Im kleinen Rausch am Strand der Wörter entstehen die Dünen, sagte sie.
Das Ende, dachte ich. Das Ende. Vielleicht beginnt es auf einem Parkplatz: Ich frage meine Freundin, wer sitzt in den Autos dort hinten? Geh hin und sieh nach, sagt sie. Ich laufe in die Ecke zu den Autos und beuge mich über die Windschutzscheiben. Ich sehe darin nur den Himmel, der mich blendet, und Schatten. Da ist kein Platz für Farben. Kein Gesicht blickt mich an. Ich laufe zur Seite, gehe in die Knie und schaue zum Seitenfenster nach innen. Ich gehe von Auto zu Auto. Was sehe ich? Von Auto zu Auto. Was sehe ich? Die Sonne über mir. Dann fallen Tropfen. Sonnenregen. Ich gehe von Auto zu Auto. Was sehe ich? Was siehst du?, ruft die Freundin. Ich drehe mich um. In jedem Auto sitzt die gleiche Person, sage ich. Dann ist alles in Ordnung, sagt sie, komm, wir gehen in die Stadt. Ich kenne die Leute in den Autos nicht, sage ich. Die Wolken, sagt sie. Immer die gleiche Person, sage ich, ich kenne sie nicht. Ja, sagt sie, wenn sie dir fremd ist. In jedem Auto das gleiche Gesicht, sage ich. Kein Wunder, sagt sie, wir kennen ja kaum uns selbst.
… vielleicht ein Auge zuviel. Die Nacht geht, träume ich, der Tag kommt, ich träume, wie er mein rechtes Auge schmerzlos herausschält.
Ich denke mir, wie ich mit dem linken schaue, was ich mit dem rechten nicht sehe, und fühle mich blind, obwohl ich sehe. Obwohl ich sehe, bin ich blind. Sind meine Bilder, wenn die Nacht kommt, blind?
Mein Sarg. Nach dem Aufwachen erzähle ich meiner Freundin: Mein Cousin baute für seine Mutter, als sie gestorben war, selber den Sarg. Sie findet das merkwürdig und schön. Ich sage: Wenn ich sterbe, dann bau aus dem Holz meines Schreibtischs einen Sarg für mich. Sie lehnt sich an mich, und ich denke, sie lacht, als sie sich an mich klammert und zuckt. Bis ich merke, sie weint. Ich sage: Das war doch nur ein Scherz. Sie schluchzt. Hab ich dich verletzt? Nein, sagt sie, ich habe mir vorgestellt, wie du in deinem Schreibtisch … Sie weint und hält mich noch fester. Vergessen wir den Schreibtisch, sage ich. Nein, sagt sie, er ist doch deine Wohnung.
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Weiterführend →
Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.