Aus einem Vortrag
Sie haben mich kommen lassen, damit ich Ihnen etwas über einen Dichter dieser Zeit erzähle, oder auch über einige Dichter oder über die Dichtung überhaupt. Sie hören gern, wovon ich, muß man denken, gerne reden mag; wir sind alle jung, und so kann es dem Anscheine nach nichts Bequemeres und Harmloseres geben. Ich glaube wirklich, es würde mir nicht sehr schwer werden, ein paar hundert Adjektiva und Zeitwörter so zusammenzustellen, daß sie Ihnen eine Viertelstunde lang Vergnügen machen würden; hauptsächlich darum eben glaube ich das, weil ich weiß, daß wir alle jung sind, und mir ungefähr denken kann, zu welcher Pfeife Sie gerne tanzen. Es ist ziemlich leicht, sich bei der Generation einzuschmeicheln, der man angehört. »Wir« ist ein schönes Wort, die Länder der Mitlebenden rollen sich als große Hintergründe auf bis an die Meere, ja bis an die Sterne, und unter den Füßen liegen die Vergangenheiten, in durchsichtigen Abgründen gelagert wie Gefangene. Und von der Dichtung der Gegenwart zu sprechen, gibt es mehrere falsche Arten, die gefällig sind. Und Sie besonders sind ja so gewohnt, über die Künste reden zu hören. Unglaublich viele Schlagworte und Eigennamen haben Sie in Ihrem Gedächtnis, und alle sagen Ihnen etwas. Sie sind so weit gekommen, daß Ihnen überhaupt nichts mehr mißfällt. Ich müßte Ihnen allerdings verschweigen, daß mir die meisten Namen nichts, rein gar nichts sagen; daß mich von dem, was mit diesen Namen unterzeichnet wird, auch nicht der geringste Teil irgendwie befriedigt. Ich müßte Ihnen verschweigen, daß ich ernsthaft erkannt zu haben glaube, daß man über die Künste überhaupt fast gar nicht reden soll, fast gar nicht reden kann, daß es nur das Unwesentliche und Wertlose an den Künsten ist, was sich der Beredung nicht durch sein stummes Wesen ganz von selber entzieht, und daß man desto schweigsamer wird, je tiefer man einmal in die Ingründe der Künste hineingekommen ist. Über eine große Verschiedenheit in unserer Art zu denken müßte ich Sie also hinwegtäuschen. Aber der Frühling draußen und die Stadt, in der wir leben, mit den vielen Kirchen und den vielen Gärten und den vielerlei Arten von Menschen, und das sonderbare, betrügerische, jasagende Element des Lebens kämen mir mit so vielen bunten Schleiern zu Hilfe, daß Sie glauben würden, ich habe mit Ihnen geopfert, wo ich gegen Sie geopfert habe, und mich loben würden.
Andererseits glaube ich, es könnte mir nicht gar sehr schwer fallen, mich zu Ihrem Geschmack und Ihren ästhetischen Gewohnheiten in einen unerwarteten und quasi unterhaltenden Gegensatz zu bringen. Aber ob Sie zu den Sätzen, in denen ich versuchen könnte, etwas derartiges auseinanderzulegen, mit dem Lächeln der Auguren und allzu geübten Feuilletonleser lächeln oder ob Sie mich mit verhaltenem Widerwillen anhören würden, auf keinen Fall würde ich mir schmeicheln, von Ihnen verstanden worden zu sein, auf keinen Fall würde ich annehmen, daß Sie meine Meinung anders als formal und scheinmäßig zur Kenntnis genommen hätten. Ich würde mich angegriffen sehen mit Argumenten, die mich nicht treffen, und in Schutz genommen von Argumenten, die mich nicht decken. Ich würde mir manchmal hilflos vorkommen wie ein unmündiges Kind und dann wieder der Verständigung entwachsen wie ein zu alter Mann: und das alles auf meinem eigenen Feld, in der einzigen Sache, von der ich möglicherweise etwas verstehe. Denn eine Art von Wohlerzogenheit würde Ihnen ja verbieten, den Streit auf die benachbarten, mir durch meine Unkenntnisse ganz verwehrten Gebiete, wie Geschichte, Sittengeschichte oder Soziologie, hinüberzudrängen. Aber auf meinem eigenen kleinen Felde würde ich Sie mit schweren Waffen gegen das kämpfen sehen, was ich für Vogelscheuchen ansehe, und heiter über Bäche streben, die ich für abgrundtiefe und tödlich starke, ewige Grenzen halte. Das größte Mißtrauen aber würde mich erfüllen, falls Sie mir etwa zustimmten; dann wäre ich doppelt überzeugt, daß Sie alles bildlich genommen hätten, was ich wörtlich gemeint hätte, oder daß irgendeine andere Täuschung geschehen wäre.
Alles Lob, das ich meinem Dichter spenden kann, wird Ihnen dürftig vorkommen: nur dünn und schwach wird es über eine breite Kluft des Schweigens zu Ihnen hintönen. Ihre Kritiker und Kunstrichter nehmen, wenn sie loben, den Mund voll wie wasserspeiende Tritonen: aber ihr Lob geht auf Trümmer und Teile, meines auf das Ganze, ihre Bewunderung aufs Relative, meine aufs Absolute.
Ich glaube, daß der Begriff des Ganzen in der Kunst überhaupt verlorengegangen ist. Man hat Natur und Nachbildung zu einem unheimlichen Zwitterding zusammengesetzt, wie in den Panoramen und Kabinetten mit Wachsfiguren. Man hat den Begriff der Dichtung erniedrigt zu dem eines verzierten Bekenntnisses. Eine ungeheure Verwirrung haben gewisse Worte Goethes verschuldet, von einer zu feinen Bildlichkeit, um von Biographen und Notenschreibern richtig gefaßt zu werden. Man erinnert sich an die gefährlichen Gleichnisse vom Gelegenheitsgedicht und von dem »sich etwas von der Seele Schreiben«. Ich weiß nicht, was einem Panorama ähnlicher wäre, als wie man den »Werther« in den Goethebiographien hergerichtet hat, mit jenen unverschämten Angaben, wie weit das Materielle des Erlebnisses reiche und wo der gemalte Hintergrund anfange. Damit hat man sich ein neues Organ geschaffen, das Formlose zu genießen. Die Zersetzung des Geistigen in der Kunst ist in den letzten Jahrzehnten von den Philologen, den Zeitungschreibern und den Scheindichtern gemeinsam betrieben worden. Daß wir einander heute so gar nicht verstehen, daß ich zu Ihnen minder leicht über einen Dichter Ihrer Zeit und Ihrer Sprache reden kann, als Ihnen ein englischer Reisender über die Gebräuche und die Weltanschauung eines asiatischen Volkes etwas wirklich zur Kenntnis bringen könnte, das kommt von einer großen Schwere und Häßlichkeit, die viele staubfressende Geister in unsere Kultur gebracht haben.
Ich weiß nicht, ob Ihnen unter all dem ermüdenden Geschwätz von Individualität, Stil, Gesinnung, Stimmung und so fort nicht das Bewußtsein dafür abhanden gekommen ist, daß das Material der Poesie die Worte sind, daß ein Gedicht ein gewichtloses Gewebe aus Worten ist, die durch ihre Anordnung, ihren Klang und ihren Inhalt, indem sie die Erinnerung an Sichtbares und die Erinnerung an Hörbares mit dem Element der Bewegung verbinden, einen genau umschriebenen, traumhaft deutlichen, flüchtigen Seelenzustand hervorrufen, den wir Stimmung nennen. Wenn Sie sich zu dieser Definition der leichtesten der Künste zurückfinden können, werden Sie etwas wie eine verworrene Last des Gewissens von sich abgetan haben. Die Worte sind alles, die Worte, mit denen man Gesehenes und Gehörtes zu einem neuen Dasein hervorrufen und nach inspirierten Gesetzen als ein Bewegtes vorspiegeln kann. Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann, streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens. Kein äußerliches Gesetz verbannt aus der Kunst alles Vernünfteln, alles Hadern mit dem Leben, jeden unmittelbaren Bezug auf das Leben und jede direkte Nachahmung des Lebens, sondern die einfache Unmöglichkeit: diese schweren Dinge können dort ebensowenig leben als eine Kuh in den Wipfeln der Bäume.
»Den Wert der Dichtung« – ich bediene mich der Worte eines mir unbekannten aber wertvollen Verfassers – »den Wert der Dichtung entscheidet nicht der Sinn (sonst wäre sie etwa Weisheit, Gelahrtheit), sondern die Form, das heißt durchaus nichts Äußerliches, sondern jenes tief Erregende in Maß und Klang, wodurch zu allen Zeiten die Ursprünglichen, die Meister sich von den Nachfahren, den Künstlern zweiter Ordnung unterschieden haben. Der Wert einer Dichtung ist auch nicht bestimmt durch einen einzelnen, wenn auch noch so glücklichen Fund in Zeile, Strophe oder größerem Abschnitt. Die Zusammenstellung, das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, die notwendige Folge des einen aus dem andern kennzeichnet erst die hohe Dichtung.«
Ich füge zwei Bemerkungen hinzu, die sich beinahe von selbst ergeben:
Das Rhetorische, wobei das Leben als Materie auftritt, und jene Reflexionen in getragener Sprache haben auf den Namen Gedicht keinen Anspruch.
Über das allein Ausschlaggebende, die Wahl der Worte und wie sie gesetzt werden müssen (Rhythmus), wird immer zuletzt beim Künstler der Takt, beim Hörer die Empfänglichkeit zu urteilen haben.
Dies, was allein das Wesen der Dichtung ausmacht, wird am meisten verkannt. Ich kenne in keinem Kunststil ein Element, das schmählicher verwahrlost wäre als das Eigenschaftswort bei den neueren deutschen sogenannten Dichtern. Es wird gedankenlos hingesetzt oder mit einer absichtlichen Grellmalerei, die alles lähmt. Die Unzulänglichkeit des rhythmischen Gefühles aber ist ärger. Es scheint beinahe niemand mehr zu wissen, daß das der Hebel aller Wirkung ist. Es hieße einen Dichter über alle Deutschen der letzten Jahrzehnte stellen, wenn man von ihm sagen könnte: Er hat die Adjektiva, die nicht totgeboren sind, und seine Rhythmen gehen nirgends gegen seinen Willen.
Jeder Rhythmus trägt in sich die unsichtbare Linie jener Bewegung, die er hervorrufen kann; wenn die Rhythmen erstarren, wird die in ihnen verborgene Gebärde der Leidenschaft zur Tradition, wie die, aus welchen das gewöhnliche unbedeutende Ballett zusammengesetzt ist.
Ich kann die »Individualitäten« nicht gut begreifen, die keinen eigenen Ton haben, deren innere Bewegungen sich einem beiläufigen Rhythmus anpassen. Ich kann ihre Uhlandschen, ihre Eichendorffschen Maße nicht mehr hören und beneide niemanden, der es noch kann, um seine groben Ohren.
Der eigene Ton ist alles; wer den nicht hält, begibt sich der inneren Freiheit, die erst das Werk möglich machen kann. Der Mutigste und der Stärkste ist der, der seine Worte am freiesten zu stellen vermag; denn es ist nichts so schwer, als sie aus ihren festen, falschen Verbindungen zu reißen. Eine neue und kühne Verbindung von Worten ist das wundervollste Geschenk für die Seelen und nichts Geringeres als ein Standbild des Knaben Antinous oder eine große gewölbte Pforte.
Man lasse uns Künstler in Worten sein, wie an dere in den weißen und farbigen Steinen, in getriebenem Erz, in den gereinigten Tönen oder im Tanz. Man preise uns für unsere Kunst, die Rhetoren aber für ihre Gesinnung und ihre Wucht, die Weisheitslehrer für ihre Weisheit, die Mystiker für ihre Erleuchtungen. Wenn man aber wiederum Bekenntnisse will, so sind sie in den Denkwürdigkeiten der Staatsmänner und Literaten, in den Geständnissen der Ärzte, der Tänzerinnen und Opiumesser zu finden: für Menschen, die das Stoffliche nicht vom Künstlerischen zu unterscheiden wissen, ist die Kunst überhaupt nicht vorhanden; aber freilich auch für sie gibt es Geschriebenes genug.
Sie wundern sich über mich. Sie sind enttäuscht und finden, daß ich Ihnen das Leben aus der Poesie vertreibe.
Sie wundern sich, daß Ihnen ein Dichter die Regeln lobt und in Wortfolgen und Maßen das Ganze der Poesie sieht. Es gibt aber schon zu viele Dilettanten, welche die Intentionen loben, und das ganze Wertlose hat Diener an allen schweren Köpfen. Auch seien Sie unbesorgt: ich werde Ihnen das Leben wiedergeben. Ich weiß, was das Leben mit der Kunst zu schaffen hat. Ich liebe das Leben, vielmehr ich liebe nichts als das Leben. Aber ich liebe nicht, daß man gemalten Menschen elfenbeinene Zähne einzusetzen wünscht und marmorne Figuren auf die Steinbänke eines Gartens setzt, als wären es Spaziergänger. Sie müssen sich abgewöhnen, zu verlangen, daß man mit roter Tinte schreibt, um glauben zu machen, man schreibe mit Blut.
Ich habe Ihnen zu viel von Wirkung versprochen und zu wenig von Seele. Ja, denn ich halte Wirkung für die Seele der Kunst, für ihre Seele und ihren Leib, für ihren Kern und ihre Schale, für ihr ganzes völliges Wesen. Wenn sie nicht wirkte, wüßte ich nicht, wozu sie da wäre. Wenn sie aber durch das Leben wirkte, durch das Stoffliche in ihr, wüßte ich wieder nicht, wozu sie da wäre. Man hat gesagt, daß unter den Künsten ein wechselseitiges Bestreben fühlbar sei, die eigene Sphäre der Wirkung zu verlassen und den Wirkungen einer Schwesterkunst nachzuhängen: als das gemeinsame Ziel alles solchen Andersstrebens aber hebt sich deutlich die Musik hervor, denn das ist die Kunst, in der das Stoffliche bis zur Vergessenheit überwunden ist.
Das Element der Dichtkunst ist ein Geistiges, es sind die schwebenden, die unendlich vieldeutigen, die zwischen Gott und Geschöpf hangenden Worte. Eine schöngesinnte Dichterschule der halbvergangenen Zeit hat viel Starrheit und enges Verstehen verschuldet, indem sie zu reichlich war im Vergleichen der Gedichte mit geschnittenen Steinen, Büsten, Juwelen und Bauwerken.
Mit dem obigen aber ist gesagt, warum die Gedichte sind wie die unscheinbaren aber verzauberten Becher, in denen jeder den Reichtum seiner Seele sieht, die dürftigen Seelen aber fast nichts.
Von den Veden, von der Bibel angefangen, können alle Gedichte nur von Lebendigen ergriffen, nur von Lebendigen genossen werden. Ein geschnittener Stein, ein schönes Gewebe gibt sich immer her, ein Gedicht vielleicht einmal im Leben. Ein großer Sophist hat an den Dichtern dieser Zeit getadelt, daß sie zu wenig von der Innigkeit der Worte wissen. Aber was wissen die Menschen dieser Zeit von der Innigkeit des Lebens! Die nicht Einsam-sein kennen und nicht Miteinander-sein, nicht Stolz-sein und nicht Demütig-sein, nicht Schwächer-sein und nicht Stärker-sein, wie sollen die in den Gedichten die Zeichen der Einsamkeit und der Demut und der Stärke erkennen? Je besser einer reden kann und je stärker in ihm das scheinhafte Denken ist, desto weiter ist er von den Anfängen der Wege des Lebens entfernt. Und nur mit dem Gehen der Wege des Lebens, mit den Müdigkeiten ihrer Abgründe und den Müdigkeiten ihrer Gipfel wird das Verstehen der geistigen Kunst erkauft. Aber die Wege sind so weit, ihre unaufhörlichen Erlebnisse zehren einander so unerbittlich auf, daß die Sinnlosigkeit alles Erklärens, alles Beredens sich auf die Herzen legt, wie eine tödliche und doch göttliche Lähmung, und die wahrhaft Verstehenden sind wiederum schweigsam wie die wahrhaft Schaffenden.
Sie haben mich kommen lassen, damit ich Ihnen von einem Dichter erzähle. Aber ich kann Ihnen nichts erzählen, was Ihnen seine Gedichte nicht erzählen können, weder über ihn, noch über andere Dichter, noch über Dichtung überhaupt. Was das Meer ist, darum darf man am wenigsten die Fische fragen. Nur höchstens, daß es nicht von Holz ist, erfährt man von ihnen.
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Poesie und Leben (Aus einem Vortrag) ist ein am 16. Mai 1896 in der Wiener Wochenschrift Die Zeit erschienener Essay Hugo von Hofmannsthals. Das Werk ist für die Poetik des jungen Dichters ebenso wie für sein Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst von besonderer Bedeutung
Weiterführend →
Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.
→ Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.
→ Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung