Blicke auf Stimme
Worte für Stimme
Musik
Trocken gesagt eine Sprache
eine Win-Win Sache und darüber
rentabel: ein Mal komponiert
spielbar mannigfach ohne
Materialermüdung dazu universell.
Sie ist Freilauf des Gehirns.
Auf Hörpromenaden klingende Skulpturen
changierend in Form zwirbelnd
wellend angelegte Variationen.
Mit ihr kann man dem Materiellen
das Andere entgegensetzen das grösser ist
Die Formel offen:
wo die Interpretation
mehrdeutig wird
wird mehrdeutig
die Interpretation.
Was ist des Tons Chronologie?
Wie lange dauert die Farbe eines Lauts?
Wie schmeckt Dur wie Moll
ist C vertrauter Freund?
In der Stille wird sie geschaffen.
Aus der Stille tönt sie heraus.
Die Stille ist in ihrem Klang zugegen.
Jeder hat sie. Sie ist täglich im Gebrauch. Träger, Übermittler, ein Medium von Sprache, Inhalt. Der, der spricht mit und mittels ihr, er benötigt die Stimme, um die Worte, Sätze heran zu tragen zu dem, der hört, zu dem, der verstehen will. Was gesagt wird, ist vordergründig wichtiger als wie es gesagt wird, wenngleich das Wie auch ungehört wahrgenommen wird. Die Stimme übertrage Emotionen, heißt es. Die Stimme gelte als Fenster zur Seele, sagt man. Ist sich der Träger seiner Stimme bewusst – ob, um das Gesagte hervorzuheben oder ob um der Stimme an und für sich Ausdruck zu verleihen – gilt die Stimme als gesteigert. Besonders dann, wenn die Stimme sich mit dem Element Musik verbindet. Im Gefäß der Musik, die, egal welcher Art, in einem Korsett aus Regeln steckt – Rhythmus, Harmonien, Melodielinien, Begleitinstrumenten, der Struktur allgemein -, empfindet man die Stimme als überhöht. Eine Stimme, die in der Musik aufgehoben ist, betritt eine neue Sphäre und knüpft sich ab von der Stelle, die alltäglich ist, die allgemein gültig ist. Sie wird zu einer besonderen Stimme. Zu einer Stimme, die für alle sprechen kann, einer, die nicht diese Stimme sind und nicht sein können, erst gar nicht jetzt, wo sie doch ihren momentanen und einzigartigen Soloplatz mittig der Musik eingenommen hat. Dort entfaltet sie sich, für sich, für den Träger, den Zuhörer und für die Musik.
G.H., Berlin 2009, Aufnahmestudio, 17.20 Uhr:
Erste Mikrophon-Probe. G.H.’s Stimme wird mittig gesetzt, etwas vorne. Die Band ringsum. Der Hall kommt später hinzu. Vorläufiges Reiseziel erreicht. Das Setting ist da und der Rest beim künftigen Hörer: er wird den Ort mit seiner Vorstellung anreichern, etwas von sich hineinlegen, wird das eine Ereignis vor Ort zu einem neuen Ereignis, seinem Ereignis machen.
Nicht immer muss die Transformation von Sprech- zur Gesangstimme etwas Göttliches darstellen, was es hierzulande oftmals ja tut. Da ist viel Kult um den Gesang, um den Sänger. Hier, die langbeinige Bandfrontfrau mit Löwenmähne. Dort, das ausdrucksstarke Starlet am Opern- oder Musicalhimmel. Wir verschwenden keine Zeit das uns Beeindruckende auf den Sockel der Bewunderung zu heben.
In gewissen Ländern werden die Sprechstimmen und die Gesangstimmen nicht als in zwei verschiedenen Welten stattfindende Phänomene angesehen. Da geht die eine leicht in die andere hinüber. Da werden die Schritte zwischen einem nebenbei gesagten Wort und einer gesungenen Melodie ganz klein gehalten. Hierzulande jedoch, wo man Showbühnen kennt und pflegt, kennen wir das Phänomen nur allzu gut, wo die sprechende Stimme angesichts einer singenden in ihrer Wirkung nachsteht. Freilich, wer singt, nimmt erstmals einen größeren, meistens auch lauteren, (Klang)Raum ein. Mitunter ist die Gesangsstimme effektvoller, weil die gesungenen Noten in der Regel länger dauern als die im Vergleich relativ kurzen, eher im kleineren Tonumfang stattfindenden Töne der gesprochenen Sätze. Man fällt dem Singenden auch nicht so leicht ins Wort – und jedes singende Einklingen würde quasi zu einem Duett -, sondern man lässt den Singenden, was er zu singen hat zu Ende singen, wo demgegenüber das Ausredenlassen in der Praxis nicht immer so gut funktioniert. Und dies ironischerweise, obschon der Sprecher meistens von sich aus etwas sagt, etwas, das ihn direkt betrifft, wo hingegen der Sänger oftmals etwas interpretiert, das ein anderer komponiert, vertextet hat. Er stellt also etwas dar, was zwar aus ihm kommt, aber ihn nicht unbedingt auch darstellt. Der Sänger lebt etwas, das er sein könnte, sein möchte, aber möglicherweise gar nicht ist. Gerade das scheint besonders wertvoll und unantastbar zu sein.
T.T., Barcelona 1996, 20.40 Uhr:
T.T. singt sich ihren Raum frei und befreit bei ihrem Publikum einen gespiegelten. Aber es ist mehr. T.T. hat den Raum, den sie zur Verfügung hat geöffnet und die Zuschauer vor deren Raum in ihren herbeigeführt. Der abgeholte Zuhörer ist äußerst wach. Die Stimme hier, das Ohr dort. Verschiebung der Räume. Teilung der Zeit durch Sinne. Eine Welt entsteht neben der wirklichen, wodurch die wirkliche noch präziser, noch echter erscheint.
Was bei einem Gänsehaut hervorruft, bedeutet für einen anderen ein sanftes Anrühren, ein Innehalten, ein tiefer Atemzug, erzeugt durch etwas Äußeres, wenn auch nicht Fassbares. Es kann ein Aufwirbeln einer Sehnsucht sein, die etwas in ihm wachruft ohne merkliche äußere Anzeichen. Berührt im Innern, unsagbar in Worten, angeknüpft an etwas, das ihm vielleicht abhanden gekommen ist. Im Hörerlebnis die Befreiung des Überlagerten und Verschütteten. Und wenn es nur Augenblicke der Illusion sind.
Man spricht von der Tragkraft der Stimme. Je nach Veranlagung, Training und Einsatz trägt die Stimme mal mehr, mal weniger. Wenn sie aber absolut trägt, ist sie in dem Moment imstande unter Umständen alles zu tragen. Und somit Fragen erst gar nicht entstehen zu lassen.
B.D., Los Angeles, 1952, 23.02 Uhr:
B.D.’s Stimme ist klein. Geringer Umfang, tendenziell wenig Durchsetzungskraft, eher unscheinbarer Natur, die einer sparsamen, sorgfältigen Begleitung bedarf. Umso größer der Charakter selbst, welcher sich weder in der Stimmfarbe, noch in artifiziell herbeigeführten Effekten zeigt. Er drückt sich vielmehr dadurch aus, dass B.D. eben mit der Stimme zu singen vermag, die ihr gegeben ist. Ohne jeglichen Zusatz, der kaschiert, beschönigt oder mehr sein will als vorhanden ist. Dies lässt B.D. umso authentischer, von äußeren Erwartungen unbeirrt, wirken. B.D. ist frei, was ihr Stil verleiht.
Der Personenkult um Sängerinnen und Sänger ist gelegentlich derart groß, dass man, abgelenkt durch Visuelles oder die Art, wie die Stimme zum Ausdruck kommt oder wie sie in Szene gesetzt wird, das eigentliche Hören vergisst. Angeregt durch eine immanente Präsenz von Gesangsstimmen und Gesangsmusik fühlt sich so mancher zum Experten berufen, darüber zu urteilen, welcher Sänger, welche Sängerin über eine gute Stimme verfügt und wer nicht. Wobei die Kriterien gelegentlich zu einem einzigen subjektiven Kriterium zusammenklumpen, ohne weitere Differenzierung. Innerhalb weniger Sekunden weiß der Beurteiler offenbar Bescheid: gute Stimme, guter Sänger, respektive umgekehrt.
Fürwahr ist es nicht einzig an den Experten oder an den Musikern über Musik zu urteilen. Denn gerade den Musikern fehlt mitunter jene Distanz, die das durch Musik leidenschaftlich Geweckte übersetzbar macht. Kann sich der Musiker in die Lage versetzen, die tatsächlich vorliegt, wenn Musiker während des Musizierens miteinander im Dialog sind, ist er gut beraten, weder allzu sehr in den Fachjargon zu greifen noch allzu allgemein zu werden. Eine Band, die „die Bude rockt“, ein Sänger, der „mit warmer Stimme das Publikum berührte“, führt zu einem austauschbaren Vokabular, das genauso wenig aussagt wie die Kritik darüber berauschend wirkt, nämlich, dass der vierte Takt zu hektisch in den fünften wechselte und dass die Triole im zweiten Satz zu kapriziös ausfiel. Eine präzise und zugleich leidenschaftliche Beschreibung, die an die Musik heranführt, neugierig macht oder gar bildet, ist eine rare Qualität.
R.K., San Francisco, 1982, 11.00 Uhr:
Überzeugt durch eine hervorragende Diktion. Man hängt an den Lippen dieser Sängerin, ist begeistert zudem von ihrer Leichtigkeit, zwischen den Noten spielerisch mit ihrem Pianisten zu flirten oder vielmehr mit ihm durch die Songs zu flirten, als würden sie gerade etwas tun, das leichter nicht sein kann. Wie ein unbeschwertes, vergnügliches Flanieren durch einen Park.
Musik, respektive die Wahrnehmung von Musik ist eine komplexe Angelegenheit, nicht einfach in Worte zu fassen, da sie auch abstrakt ist. Unzählige Bilder und Metaphern, die sich auftun, nachvollziehbare Analysen, die verlocken aufgezeigt, erläutert zu werden. Dann die Passion selbst, vor der sowohl der Laie als auch der Profi nicht Halt machen kann und die artikuliert werden möchte. Darüber hinaus hört, beziehungsweise fühlt sich dasselbe Musikstück an einem Tag ganz anders an als an einem anderen. Das Gehörte ist von einer zärtlichen Konstitution und daher vielleicht bloß mit Vorsicht in Worte zu zerlegen. Die zum Genuss offen liegenden Stellen können auf verschiedene Weisen entkernt werden. Egal, wie meisterlich am Ende eine Beschreibung präsentiert wird, stets ist sie auch von eigenen Ansprüchen und vom individuellen Geschmack geprägt.
F.M., Dublin, 1999, 11.08 Uhr:
F.M. hat sich entwickelt. Wurde von Auftritt zu Auftritt professioneller, selbstsicherer. Studioalbum nach Studioalbum. Der ehemals rohe Diamant wurde geschliffen und überschliffen. Denn obschon F.M. technisch besser wurde, mehr stimmliche Möglichkeiten demonstrieren konnte, ist etwas Unperfektes verloren gegangen, das in den früheren Aufnahmen charmant war und nun fehlt. Die Fragilität war einst eine Brücke von einer besonderen Qualität, über die der Zuhörer gerne ging.
Von einem selbst hängt es auch ab, ob man es lieber der Umgebung überlässt Einfluss auf einen zu nehmen oder ob man sich seine eigenen Vorstellungen selbst erarbeiten möchte. Wobei die Vorstellungen anfangs nur vage sein können. Geschmacksbildung ist ein Prozess, der allemal empfohlen ist. Nicht, um am vermeintlichen Ende einzig gut von schlecht unterscheiden zu können, sondern, um sich der musikalischen und sängerischen Vielfalt zu vergegenwärtigen. Es geht um die Reise, mehr denn als um das zu erreichende Ziel. Denn auf dem Weg zur Unterscheidung und zur angeblichen Übersicht, begegnen einem Unmengen an Darstellern und Interpreten. Wer sich am Anfang seiner Reise befindet, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht, selbst wenn er sich nur auf die menschliche Stimme, ein bestimmtes Genre, eine kurze Zeitepoche oder ein Land konzentriert. Wer in die Tiefe geht, dem ist noch mehr Tiefe sicher.
C.R., Dallas, 1963, 19.00 Uhr:
Die kräftige Stimme ist das eine. Beeindruckend ist, dass C.R. bei jedem Song eine Geschichte erzählt als wäre es die eigens hautnah erlebte. Jeder Seufzer, jeder Glücksmoment sind somit Einladungen, mitzuleiden, sich mitzufreuen und mehr: man geht in die eigene Vita, erinnert, erlebt erneut, hofft. Man hört gebannt zu. Und jede Wiederholung, die Wort für Wort dasselbe aussagt, verweist auf die Nuancen und Facetten, die subtiler nicht vorgetragen werden können. Selbst zwischen den Noten oder innerhalb eines einzigen Wortes sind Abstufungen anzutreffen, die sanft elektrisieren. Nicht selten sind sie befreiend, da von selbstironischer Selbstreflexion. Wir folgen C.R.’s Spur, lösen uns in der Spur auf und kommen bei uns an.
Es gibt keinen diesen einen Wald, so wie es diesen einen Weg nicht geben kann. Wer aufbricht, weiß anfangs nicht, ob er sich im Zick Zack durch dornige Büsche irren wird, ob er von Lichtung zu Lichtung geführt wird oder ob er dem Waldrand entlang schleicht. Überall Irrwege, Umwege, Verwässerungen und Ablenkungen inmitten einer angenehmen Form von Einsamkeit.
K.E., Paris, 2001, 22.45 Uhr:
K.E. bietet viel. Die Band geht mit, das Publikum ist bestens eingebunden. Die Liebe für die Musik ist spürbar, gleichwohl ist etwas von K.E.’s Haltung ebenfalls deutlich wahrnehmbar, das viel Platz und Energie einnimmt und womöglich auf Kosten von etwas anderem geht: K.E. hört sich gut zu. Bisweilen hat es den Eindruck, sie suhle sich im eigenen Sound. K.E. liebt die eigene Stimme offensichtlich sehr. Erstaunlich ist, wie viel Raum diese Liebe einnimmt und wie K.E. es schafft diesen Raum Wort für Wort, Strophe für Strophe für sich herauszuschälen bis zur Hörbarkeit. Mit ihren Gesten entfacht K.E. ein Feuer, das nicht lodert. Es besteht aus Kohlestücken, die nach und nach verglühen.
Wo beginnen? Man beginnt chronologisch. Oder beim Bekanntheitsgrad. Man geht über die scharf Kritisierten oder die Verkannten. Man wählt die Literatur zum Einstieg. Oder man nimmt Querverweise. Man geht Anregungen und Nebenbemerkungen nach. Man fängt irgendwo mittig an, von wo die Wege in alle Richtungen möglich sind, auch in die falschen. Oder man nimmt sich die Nebenfiguren, um sich an die Hauptfiguren heranzutasten, vor.
Sich dabei vom eigenen Geschmack leiten zu lassen, ist nicht verkehrt. Doch inwiefern ist dieser Geschmack die Vorliebe von unserem Umfeld, geprägt von der uns umgebenden Kultur? Sich dabei nicht in die Irre führen zu lassen, ist nicht minder schwierig, als sich die eigene Neugierde zu bewahren und ihr nachzugehen. Neugier ist eine Verwandte der Lust, und Lust ist auf der Erkundungsreise ein wichtiger Antrieb. Vor allem, wenn sich die geglaubten Neigungen als Irrungen herausstellen und Korrekturen bedürfen.
D.F., Malibu, 1995, 23.20 Uhr:
Keine schöne Stimme, vielleicht sogar eine hässliche Stimme: näselnd, manchmal sprechend, kratzend, knarrend, röchelnd und flach. Faszinierend geschmeidig jedoch bettet sich diese Stimme in die Musik. D.F. begleitet sich selbst, unterstreicht das Knarzende, bahnt sich den Weg durch die folgenden Akkorde. Das Timing der Pausen, die sich als leicht betonte Höhepunkte herausstellen, ist bemerkenswert unaufdringlich. Es ist das fließende Gesamtpaket, das einen einnimmt, vom ersten gesungenen und angespielten Ton an. D.F. knurrt wie ein Tier, trifft den einen oder anderen Ton wie zufällig. Stimmumfang klein, Stimmfarbe nicht unbedingt angenehm. Manchmal ist die Stimme fast sprechend, bricht ab. Schurke oder Meister? Das Lied ist jedenfalls da. Was anderes sollte D.F. tun, als es zu singen. Und weil D.F. ist, der sich um nicht viel schert als um den Moment, darf das Stück entsprechend charakteristisch ausfallen.
Vielleicht zieht sich durch die Phase der Erkundung etwas durch wie ein ausgeleiertes T-Shirt, das uns begleitet und das wir nicht wegwerfen können, obschon alles darauf hindeutet, sich ihm zu entledigen, es endlich hinter uns zu lassen, darüber zu stehen, weiter zu ziehen. Oder aber wir ändern die Ansichten auf dieser Reise komplett und krempeln alles mehrfach um, so, als würden wir selber in einem Waschgang durchgeschleudert. Diese Exkursion mit und für sich zu tun, heißt, die einzelnen Hörerlebnisse zu Ereignissen werden zu lassen. Ereignisse, die sich an persönliche Erfahrungen anknüpfen lassen. Diese Ereignisse stehen zeitlich voneinander, sind in der jeweiligen Zeit und im jeweiligen Raum eingefangen und sind somit einmalig.
A.D., Athen 1973, 23.45 Uhr:
Die Töne nie wirklich rein, immer ein wenig kantig, von unten angeschlagen, just an der Grenze zu etwas, das erwartungsvoll macht. Der Hinweis zählt und die meisterliche Art auf diese Weise den Song zu einer Skulptur zu meißeln. Kokett ohne aufgesetztes Gebaren. Sexy durch den Mut daneben zu hauen oder sexy dadurch diesen Mut zuzulassen.
Es gibt Vorlieben für bestimmte Stimmfrequenzen. Ob sie im Verhältnis zur eigenen Stimme stehen oder Erfahrungswerte sind, die von unserer Kindheit her rühren oder anders geprägt sind, bleibt Spekulation. Auf alle Fälle vermögen jene Stimmfrequenzen, die wir besonders mögen etwas in uns anzuschlagen, das uns glücklich macht. Diese Vorliebe hat etwas Hartnäckiges wie Faszinierendes. Vielleicht ist diese Vorliebe ein Ankerpunkt oder ein Kompass, der unsere Urteilskraft überhaupt in Bewegung setzen kann.
E.C., Mailand, 1970, 19.18 Uhr:
E.C. ist eine minimalistische Sängerin in dem Sinne, da sie die Stücke einzeln zu nehmen scheint und sie behutsam für den Zuhörer präsentiert, als wäre es das Kostbarste auf der Welt oder zumindest in dem Moment, wo E.C. singt. Sie hat ein beispielloses Gespür für besondere, aussagekräftige Stellen innerhalb eines Stückes und sie nähert sich ihnen behutsam und mit größter Sorgfalt an, aber auch mit Sicherheit. Sie präsentiert dem Zuhörer die Stellen mit Stolz, führt sie aber nicht vor, demonstriert nie, sondern schließt ihren Schatz und diesen offen gelegten Kern, den sie mit dem Zuhörer teilt, nach dem kurzen Moment der Offenbarung gleich wieder, weil er kostbar ist.
Die Unmengen an Hörerlebnissen zu bewerten, zu ordnen nach Merkmalen, nach vorgegebenen oder sich heraus kristallisierenden Kriterien, benötigen logischerweise nicht wenig Zeitraum. Man wird der Musik nicht gerecht, wenn wir nur taktweise Schubert hören oder einzig Zeit für die Musik übrighaben, wenn wir dabei noch lesen oder andere Dinge verrichten.
Vielleicht kann sich jemand der Faszination für eine bestimmte Stimme von Anfang an nicht entziehen. Ein anderer kommt möglicherweise auf eine Stimme als Qualität zurück, wenn er fünfzig andere Stimmen gehört hat.
Die Musik in einen musikalischen Kontext zu stellen, ist eine einfache Methode, um geordnet vorzugehen. Auch die einzelnen Interpretationen desselben Stücks zu vergleichen, ist ergiebig. Wichtiger aber ist es, die Hörschule als spielerisches, persönliches Experiment zu betrachten, bei dem die Musik selbst niemals verlieren darf, in dem Sinne nicht, dass man ihrer nie überdrüssig werden sollte. Diese Experimentierräume können nächtliche einsame Stunden sein mit einem Glas Wein, Kopfhörer auf den Ohren, oder aber Live-Konzerte, die mit anderen geteilt werden. In thematische Radiosendungen reinzuhören lohnt sich. Ebenso legitim ist es, beim Plattenverkäufer nach Lust und Laune quer durch die Empfehlungen des Verkäufers oder durch eine intuitive Wahl der LP/CD der Covers in die Alben reinzuhören. Es gibt keinen richtigen Weg, aber es ist gut, ihn zu suchen und zu gehen.
A.J., 2011, Genf, 22:43 Uhr:
Der Ansatz klar und frei von Pathos. A.J. singt äußerst werktreu. Jede Note ist am richtigen Ort. Man merkt ihr die Ernsthaftigkeit, die Überzeugung, mit welcher sie eine Linie ansetzt, an. Diese korrekte Art könnte zur These verleiten, dass A.J. brav klingt, doch stattdessen ist ihr Gesang innig. Die Nuancen, die sie individuell einflicht, sind derart klein, dass sie kaum hörbar, sondern nur zart fühlbar sind. So klingt jede Strophe just bloß wenig, nur subtil anders als die andere, und trotzdem bleibt man als Zuhörer mit Spannung dabei. A.J. singt wie ein japanischer Kalligraph zeichnet: akkurater Strich, schwarze Tusche auf handgeschöpftem Papier. Wenige Striche, keine unnötige Gefühlsregung und ein einziger Durchgang.
Jemand singt. Moduliert Schall, macht Töne, bringt sie zum Klingen und der, der zuhört, ist fasziniert. Zum einen die Person vor ihm, zum anderen die Verschiebung von Wirklichkeiten. Eben noch war die Person eine sprechende Gleichgesinnte; eine, zwei, drei Noten weiter und schon ist sie dabei davon zu fliegen. In eine Sphäre, die sie fort trägt und umso eine intensivere zu sein scheint als die, die soeben war. Doch ebenso richtig ist, dass diese Sphäre genauso da ist, im Jetzt, transformiert durch den Gesang. Sie erhebt sich im Klang über das Unmittelbare hinaus. Dazu das Verbindende. Oder vielmehr ein neuer Wunsch im Raum entfacht, verbunden zu werden. Man ist ganz Ohr, dem Klangraum zugetan. Man vergisst sich selbst. Diese Selbstvergessenheit fühlt sich gut an.
O.R., Turin, 1998, 15.20 Uhr:
Durch die Kopfhörer hindurch gelangt O.R. direkt in dein Wesen hinein. Takt für Takt schleicht sie sich durch die verschiedenen Kanäle, die nicht filtern können ob all der Nähe, ja ob all der hyperrealen Intimität. Die angenehm rauchige Stimme ist wie ein Schlüssel, mit dem sie deinen Gehörgang öffnet, sich Räume in dir schafft bis zum Bauch, bis zu deinem Rücken, Deinen Zehen und Haarspitzen. Angenehm nah singt die Stimme wie allerlei Geheimnisse ins Mikrofon, zuweilen fast geflüstert. Der Atemhauch, das Ansetzen einer neuen Linie spürbar wie ein leichter Wind. Brilliante Aufnahme, die keine Fragen aufwirft. O.R. erreicht dich wie jemand, der es versteht mit großer Eleganz zu ködern.
Der Weg der Geschmacksbildung vermag bestenfalls unentwegt zu verführen. Eine Ideologie jedoch, die über längere Zeit nicht aufrecht erhalten werden kann. Der Anker wird sich gelegentlich vom Boden lösen, Wegweiser auf falsche Fährten führen. Eine Reise eben, die an einem Punkt beginnt und zu einem anderen Punkt führt. Bis all die Muster, die wiederkehrenden Merkmale, die ästhetischen Herausforderungen erkennbar werden, braucht es Zeit, mitunter, weil es Wege gibt, die nicht auf der Karte zu finden sind, ergo mögliche Umwege sind. Die Anzahl an Hörerlebnissen, die notwendig ist, um zu kategorisieren, auszusortieren, mit adäquatem Vokabular zu versehen, kurzum, um differenziert zu bewerten, ist nicht an einer Zahl festzumachen. Sie kann von Wenigen, Dutzenden bis zu Hunderten reichen oder einen das ganze Leben lang in unabgeschlossener Form begleiten.
L.L., Brügge 1948, 19.10 Uhr:
Wie nur schafft es L.L. sofort da zu sein. Ehe man das Glas auf den Tisch stellt, ist L.L. mitten drin, nach nur zwei Taktsekunden mitten drin. Und was in dieser Unmittelbarkeit auch möglich ist: sie nimmt dich mit. Ohne zu fragen, beziehungsweise, weil du da bist. L.L. ist im Stück, das sie singt zugegen. Sie besingt es nicht, sie beherrscht es. L.L. vertraut dabei auf ihr Können und auf ihre Präsenz. Wie aus dem Epizentrum der Komposition singt sie, was zu singen das Stück abverlangt, ohne je zu schreien, ohne sich hervorzutun und ohne verführerischen Mittel des Sounds. Es ist eine mittige Position, die es L.L. erlaubt, dabei gänzlich locker, ohne Attitüde ihr Ding zu machen. Sie ist hier, gerade jetzt, am einzigen richtigen Ort. Wie im Auge des Orkans steht sie und singt, während die Musik um sie kreist wie die Planeten um die Sonne kreisen.
Es gibt den Ratschlag nicht. Es gibt den einen, den möglichst gut asphaltierten Pfad, der effektiv zu sein vorgibt, nicht. Streckenweise hilft jemand einen Wegweiser aufzustellen oder sich als Begleitung zur Verfügung zu stellen, weil er vermeintlich dieselben Interessen teilt. Vermeintlich deswegen, weil es keine genau gleichen Interessen geben kann. Sie werden nach und nach geweckt und sind an gewissen Punkten immer auch rein subjektiv geprägt. Wer erfahren will, muss daher wirklich erfahren. Mit dem, was er zur Verfügung hat, dem einen und einzigen Leben nämlich. Die Erfahrung findet innerlich statt. Auch wenn man sich gerne selbst darin täuscht und meint, – da man schließlich über diese Erfahrung mit Gleichgesinnten sprechen kann – dass diese Erfahrung im Miteinander geschieht. Es ist nicht schwer zu glauben, dass es das gemeinsame Eine gibt, wenn man schließlich gemeinsam Musik erleben kann. Die Sprache vermag nicht in Worte und somit in andere Werte zu hüllen, was vorher andernorts erfahrbar war. Wir können nicht aus unserer Haut heraus, schaffen es nicht wirklich aus unserem Denken und Fühlen heraus zu treten. Es ist folglich eine innere Reise, die man macht und die sich bezahlt machen kann, wenn man sich aufrichtig auf den Weg begibt.
J.N., Berlin, 1984, 14.35 Uhr:
Unprätentiös, schlicht, reichend bis zur Rohheit. Die Ästhetik des Lieblichen wird für das Pure geopfert. Wobei man nichts vermisst in dem Sinne, dass etwas fehlen könnte. Jegliche Eitelkeit wird im Dialog mit den Musikern erstickt. Der Dialog und die dort stattfindende Sprache ist das Wichtigste. Das Instrument ist dem anderen Instrument gleichgestellt, selbst die Komposition errichtet sich nicht wie ein Monument vor einem, sondern geht in diesem Dialog, der hin und hergeht, unter, verbindet sich zu den Bausteinen und Elementen, ohne, dass man als Zuhörer merkt wie nach und nach etwas erschaffen wird. Etwas, das man später nicht sehen wird, denn es ist nur, wenn J.N. mit den Mitmusikern mit der Gesangsstimme spricht.
Bis man weiß, welche Musik man für sich als eine musikalische Perle definiert hat oder meint zu ahnen, welche Muschel eine Perle beherbergt und welches vordergründig schimmernde Muschelgehäuse trotz Glanz für immer geschlossen bleibt, benötigt nicht nur der Auslesezeit. Das Ohr zu schulen, indem man sich einen Wortschatz aufbaut, der einen befähigt zu kategorisieren, was man hört, empfiehlt sich nicht nur deswegen, weil man fachkundig, urteilssicher Fakten benennen kann, sondern weil die Möglichkeit das Gehörte einzuteilen einem erlaubt systematisch vorzugehen. Ein System grenzt ein, macht die Unterscheidung deutlich. Es lässt die Lücken zwischen dem einen und dem anderen immer kleiner werden und somit die einzelnen Nuancierungen immer größer.
A.P., Casablanca, 1967, 22:30 Uhr:
A.P. singt viele Noten. Nicht nur die, die zu singen sind, sondern singt sie auch jene, die zu den notierten Tönen hinleiten und solche, die von ihnen wegfädeln. Nach einer halben Stunde Zuhören stellt man fest, es sind zu viele Töne. Sie sind richtig, aber nicht notwendig, da musikalisch nicht von einem Mehrwert. Später merkt man, A.P. beruft sich auf ein paar bewährte Tonfolgen, die, einst identifiziert, sie vorausschaubar beziehungsweise voraushörbar werden lassen. Viele Noten, viel Gesang und zu wenig Musik. Ein unentwegtes, nervös machendes Sprudeln und Schäumen lauwarmen Wassers, das nie zur Mündung gelangt.
Ob das Ohr von Anbeginn an ganz leer ist und offen für alles oder ob in ihm bereits Vorlieben angelegt sind, nur schon dadurch wie wir denken, wo wir aufwachsen, in welchem Verhältnis wir zu unserer Umwelt stehen, in dem zur Stimme unserer Mutter, unseres Vaters, der Vorbilder beispielsweise, ist unklar. Durch Lust, Wille, Geduld, Arbeit, Intelligenz und nicht zu vergessen – vielleicht am wichtigsten -, den Geschmack selbst, welcher wiederum an die oben genannten Attribute stark angeknüpft ist, kristallisiert sich nach und nach die eigene Hörschule.
S.P., Rom, 2000, 19.36 Uhr:
S.P. ist in die Stücke, die er singt, enorm vertieft. Er erobert mit jeder angesetzten Zeile um das Vielfache von vorher. S.P. erobert sich die Stücke, einen nach dem anderen. Temporäre Lieblingsstücke, die gefeiert werden, indem sie da sind. Wir dürfen S.P. erstaunt dabei zusehen. S.P. ist ein Taucher. Er holt Muscheln, Korallen, Seesterne aus der Tiefe und macht nicht mehr, als die glänzenden Stücke ins Sonnenlicht zu halten.
Die Vergleiche nur außerhalb, in der Musik alleine zu suchen, wäre nicht die ganze Wahrheit. Der Hörende muss auch sich selbst, seinen eigenen Empfindungen zuhören und diese bewusst nachvollziehen können. Dabei ist durchaus möglich, dass etwas von einer Musik, die er zunächst nicht mag, erst in ihm anklingen und Gefallen an dieser Stimme finden kann, wenn er die Musik im Kontext mit einer anderen Stimme oder Musik hört. Der richtige Zeitpunkt sollte ebenfalls stimmen. Denn manchmal ist man noch nicht bereit für etwas. Dies führt zum Schluss, dass es vorteilhaft ist, sich einerseits mehrere Chancen zu geben und andererseits, dass es nicht schaden kann sich selbst gut zu kennen. Um dies zu erreichen, muss man das zunächst wollen, was wiederum bedeutet, dass man möglichst oft und aufrichtig mit sich selbst in Kontakt bleibt. Das eigene Stilgefühl bleibt auf jeden Fall etwas hochgradig Individuelles und Subjektives, das immer lebendig, aber weder richtig noch falsch sein kann.
O.K., Malta, 1995, 21.45 Uhr:
O.K. ist eine sinnliche Sängerin. Sie kostet alles aus: die Bühne, das Publikum, die Mitmusiker. Wie tief ihre Blicke gehen können! Die Pausen zwischen den Noten genießt sie, ebenso wie ihre Stimmfarben, die sie, je nach Stück, variieren kann und stets weiß, welche wann und wie einzusetzen ist. Vor allem kostet O.K. aber die einzelnen Wörter aus, sie reizt sie beinahe aus, schmeckt sie, malmt, kauft spuckt sie frech wieder aus. Die einzelnen Wörter sind es, die einem unvergesslich bleiben.
Es ist ein großartiges Geschenk, dass wir uns Musikaufnahmen kaufen und sie beliebig oft hören können. Dazu sind wir frei, die Aufnahmen in allen möglichen Lautstärken – konzentriert mit Kopfhörer, laut unterwegs oder leise im Hintergrund – zu genießen. Dank unserer Fähigkeit, uns mental in eine andere Lage zu versetzen, bereichern die Live-Aufnahmen, wo die Akustik des Raums, das vorhandene, raunende, klatschende Publikum und die Atmosphäre eines einzigen Abends eingefangen sind, ganz besonders. Zwar muten Aufnahmen dieser Art im Sinne der Makellosigkeit für den einen oder anderen weniger perfekt an als kristallklare Studioaufnahmen, doch besitzen sie etwas durch und durch Echtes. Denn allfällige unerwartete, nicht beabsichtigte Zufälle, Zuspitzungen bis zu momentanen Höhepunkten, konnten hier nicht im Nachhinein wiederholt oder korrigiert werden. Perfekte Studioaufnahmen hingegen liefern eine saubere Situation, die es – außer im Studio – so nicht gibt. In die man aber, wie durch einen Trichter gezogen dennoch hineinfindet. Gleichzeitig filtert der Zuhörer ja auch die unmittelbare Akustik der Umgebung heraus, und schafft so selber eine zweite Ebene der künstlichen Umgebung.
M.U., Krakau, 1969, 22.58 Uhr:
Man kann nicht entscheiden, wo diese unglaubliche Souveränität angelegt ist. Einerseits ist M.U. ein stiller Sänger, der auf eine unscheinbare Art und Weise vorträgt. Andererseits ist er wach und da, und er gibt. Nicht etwa subtil, sondern raffiniert durch gelegentliche Akzentuierungen. Als ob M.U. es nicht nötig hätte, mehr zu tun als leicht anzutippen, um die ganze Maschinerie in Gang zu bringen. Denn ganze Musik macht er mit den wenigen Anstößen allemal. Als würde er das gesamte Orchester in sich tragen, als hätte er sich vor dem Auftritt, jahre-, gar jahrzehntelang von nichts anderem ernährt als von Klängen.
Bevor ein Werk da ist, geht ihm ein langer, manchmal zäher, komplexer Weg voraus, sodass eine Arbeit, die über sich hinaus in eine endliche materielle Form mündet – wie in die einer Aufnahme beispielsweise –, ist trotz der heute technischen Möglichkeiten und Zugang zu den hier nötigen Mitteln keine Selbstverständlichkeit. Wenn man innehält und sich vergegenwärtigt, dass auf Musikträgern eine Zeit eingefangen wurde, ist dies zutiefst faszinierend und auch Dankbarkeit kann man empfinden dafür, dass irgendwann irgendwo in bestimmter Konstellation Menschen mit derselben Vision in eine musikalische Kommunikation eingetreten sind, von der man als Zuhörer noch immer zehren und daran teilhaben kann. Die Überzeugungen, Wünsche, jahrelanges Proben, zunächst jeder für sich, dann die Suche nach dem Einander, nach den Stücken, nach den jeweiligen Rollen innerhalb der Musik, nach den Möglichkeiten der Darbietung. All das jedenfalls führte letzten Endes zum Entschluss, in diese kumulierte, räumliche und zeitliche Gegebenheit durch das Aufstellen von Mikrofonen diese Entfaltung für Dritte freizugeben und teilbar zu machen und die Geschichte weiterzutragen.
J.J., Strassburg, 1985, 02.20 Uhr:
Ob J.J. eine Natursängerin ist, akademisch gut geschult wurde oder durch Erfahrung gut geworden ist, ist nicht wichtig. Auf jeden Fall hat J.J. ein Ohr für Musik. Dieses Ohr wirkt sich nicht rein stimmlich aus, es drückt sich dadurch aus, dass J.J. scheinbar nie das Verkehrte macht und es immer irgendwie zutreffend, passend und pointiert klingt. J.J. hat, was man Geschmack nennt. Eine musikalische Intelligenz. Das große Ohr, eher passiv und für die Musik zuständig. Das kleine Ohr aktiv, direkt in Verbindung mit der Stimme. Das große öffnet, das kleine korrigiert und im stimmlichen Klang entsteht das Richtige. J.J.’s Stabilität und Zuverlässigkeit weckt Vertrauen.
Das Faszinierende an der eingefangenen Zeit einer Aufnahme ist, dass sie nicht vergleichbar ist mit einem Präparat, das in Alkohol in einem Glas konserviert einem eher tristen Dasein frönt, sondern, dass jedes Mal, wenn man den Play-Knopf drückt, sich diese Zeit als Musik und Kraft aufs Neue entfesselt, sich befreit und damit das Potential in sich birgt, sich auf den Zuhörer zu übertragen, seine Sinne anzusprechen oder noch gerade verborgene Kräfte innert kürzester Zeit freizusetzen.
J.E., Kairo, 1980, 23.52 Uhr:
J.E. ist absolut formsicher. Aber nicht nur die Form innerhalb eines Stücks ist bemerkenswert, selbst einzelnen Textteilen gibt J.E. Gestalt. Außerdem ist der ganze Abend abgestimmt wie es ein gutes Menu ist. Die Vorspeise leitet intelligent zum Hauptgang über, das Dessert als Krönung. Es fehlt nicht an Konsistenzen, Texturen, weder an Biss noch an unsichtbaren Geschmacksträgern. Die Aromen sind vielfältig, der Abgang angenehm, der Nachgeschmack lang.
In einer Musikaufnahme ahnen wir, wohl mehr als wir sie hören, nämlich die Tatsache, dass in jeder Note des einzelnen Spielenden oder Singenden, nicht bloß sein wahrnehmbares Können vorhanden ist, sondern diese Leistung sich aus vielen Bestandteilen zusammensetzt: da liegt einer Note mehr zugrunde als eine Tonfrequenz, zugegen ist der ganze lange Weg bis dahin, bestehend aus Versuch und Irrtum, Enttäuschung, Glaube, Hoffnung, Anspruch und Wirklichkeit. Ebenso ist darin auch der noch nicht gegangene Weg angelegt: die Vision, das noch ungenutzte Potential, das erkannte Unvermögen und der mögliche Weg der Befreiung daraus durch Dazulernen, durch Umgehung der Schwächen, die ganze Zukunft mithin liegt in einer solchen Note.
Was es auch ist, was uns an einer Aufnahme fasziniert: wir können dabei sein und mitreisen, mitschwingen. Es darf uns gerne immer wieder auch an einem anderen Punkt fesseln, je nach unserer Lebenslage oder unserem Zustand. Dieses Etwas manifestiert sich vielleicht in einer bestimmten musikalischen Stelle. Oder es ist tendenziell in einer gewissen Tonart, dem allgemeinen Klang des Zusammenspiels oder einer bestimmten Akkordfolge zu finden. Vielleicht ist es in einer zutreffenden Textaussage eines Liedes festzumachen, oder wir können es dem Lead-Instrument, der Stimme selbst, zuordnen. Allenfalls versteckt es sich in einem Groove, einem Sound, in einer ganz bestimmten einen Note, vielleicht in der oft zitierten Pause zwischen den Tönen.
R.Y., Hamburg, 2009, 22.40 Uhr:
R.Y. findet innerhalb der ersten Sekunde, in der sie zum Singen ansetzt, sofort ihren Platz in der Musik. Dieser Ort ist ein melancholischer, elegisch schöner Ort. Er färbt auf alles ab, vereinigt alles, verbirgt alles, so wie er auch alles offenbart. Daher ist R.Y. in der Lage, mit der Kraft ihrer Stimme alles von allen Seiten zusammen zu halten. Zudem strahlt und wirkt R.Y.’s Stimme etwas überhöht Wehmütiges aus, ohne, dass man fassen könnte, wie sie es schafft, sich diese riesengroße, rein aus Gefühlen bestehende Welt, zu ergattern und jede einzelne Gefühlsperle, die aufsteigt, majestätisch auszufüllen, ihr wissend und mit Selbstverständlichkeit, und nicht etwa mitfühlend, stattzugeben. R.Y.’s Stimme fließt wie Sahne in den dunklen Kaffee der Musik und macht alles cremig.
Dieses Etwas ist ein unbedingter wie wesentlicher Teil, mitunter ist er auch Teil des Schaffers selbst und es findet sich daher in seinem Schaffen wieder. Es ist ein Etwas, das in Bewegung ist. Der eine mag dies als Energie oder als Ästhetik sehen, ein anderer entdeckt darin ein Stück Gefühl. Mal ist es eine Frage des Dialogs, auf den man sich einlässt, mal findet die Entdeckung dieses Etwas’ still im inneren Prozess statt. Fehlte dieses Etwas, würde womöglich auch ein Stück Seele fehlen. Nicht zuletzt ist das für jeden anders wahrnehmbar, ist anders verortet und daher in Worte so nicht fassbar. Dieses Etwas ist ein Faszinosum, das zu berühren vermag. Es geht auf den Hörenden über, klingt an von subtil bis deutlich und entfacht eine andere Dimension. Wir überqueren, wenn wir Musik hören, mitunter eine Brücke ins Zeitlose, ins Ewige.
R.C., Malibu, 1974, 15.05 Uhr:
R.C. singt nicht blutleer, aber gänzlich ohne Widerstand. Alles an R.C. ist leicht, der Klang formt sich zu einer schnörkellosen Gestalt, die einfach ist. Es bleibt R.C.’s Geheimnis, ob sie dieser schlichten Beschaffenheit mehr Körper, mehr Ecken und Kanten geben könnte oder ob diese Natürlichkeit es ist, die R.C. als stilistische Mittel perfekt beherrscht und niemals über die Grenzen der Machbarkeit gehen würde. Ein Gesang wie eine Übergangsphase. Wie Streicheln.
Ein Album zu besitzen ist wie ein Buch in der Hand zu halten oder ein anderes kulturelles Gut in Anspruch zu nehmen: nicht nur verbirgt sich in der Musikaufnahme die besagte Zeit, jene, die war innerhalb der Aufnahme, jene die auch davor gewesen sein musste oder das Potential der künftigen, sondern ist eine Musikaufnahme gleichermaßen Hüter unserer eigenen Zeit. Denn in der Aufnahme selbst ist unsere Zeit enthalten, welche sich dann dartut, wenn wir beschließen das Album zu hören und bereit sind unsere Zeit zu schenken und sich auf dieses Abenteuer, das immer auch zeitlich passiert, einzulassen.
N.B., Rio de Janeiro, 1979, 22.07 Uhr:
N.B. hat von Natur aus eine äußerst flexible Stimme, mit der N.B. vieles anstellen kann, was sie auch praktiziert. In ihren Interpretationen hört man an unzähligen Stellen die Einflüsse anderer namhaften Sängerinnen und Sänger. Das ist eindrucksvoll. Fast zu verschwenderisch jedoch geht N.B. mit den Ausführungen um. Stilbildung und Authentizität, statt Nachbildung und offensichtliche Beeinflussung, würde für N.B. unweigerlich auch Einschränkung bedeuten. Doch wie soll sich jemand entscheiden können, wenn ihm quasi alle Wege offen stehen?
Seit es Mikrofone gibt, werden logischerweise auch die gegebenen technischen Möglichkeiten genutzt. Dabei geschieht es oft, dass man die natürlichen Gegebenheiten übergeht und sie intensiviert, verfälscht, manipuliert, ob im negativen oder im positiven Sinne. Nicht, dass ein Mikrofon per se bedeutet, dass aus einer schlechten Stimme per Knopfdruck eine gute Stimme wird. Doch es kommt vor, dass kleine Stimmen durch gewisse Tricks von Aufnahme- und Mikrofontechnik und der damit einhergehenden Gesangstechnik, größer erklingen können als sie es tatsächlich sind. Auch werden die Stimmfarben gelegentlich an die aktuellen Trends angepasst. Denn nicht nur die Musik verändert sich andauernd – selbst innerhalb eines Genres wie der Klassik –, auch die Stimmen sind wandelbar und unterliegen den Gesetzen und Gepflogenheiten, Vorlieben, Entwicklungen der bestimmten Zeitepochen.
Einzelne Stimmen werden heutzutage derart hauchzart und leise aufgenommen, dass sie nicht im Verhältnis stehen zu den akustischen Instrumenten vor Ort, sondern künstlich vergrößert und überhöht sind. Ob durch die Platzierung inmitten des Sounds der Begleitinstrumente, ob durch die Lautstärke oder durch die Potentierung der Stimme selbst: eine zurückhaltende Stimme kann vorne und zentral wirken, während die Begleitmusik dezent und im Abstand gehalten wird; ein äußerst leise gesungenes Stück kann ein ganzes Bläserorchester überstrahlen; eine mehr gehauchte als gesungene Interpretation wird mit Volumen und Klangraum versehen und ertönt imposant.
T.Y., London, 15.25 Uhr:
T.Y. steckt in sich selbst fest. Fast jede Strophe beginnt er auf dieselbe Weise und ähnlich beschließt er sie. Es ist wie ein Tick der, wenn man ihn einmal diagnostiziert hat, sich derart stark in die Wahrnehmung drängt, dass man nichts anderes mehr wahrnimmt und T.Y. mit der Zeit nicht mehr ertragen kann.
Gewisse Ergebnisse führen zu einer eindrücklichen Wirkung, sie schaffen eine Intensität, welche die denkbare Künstlichkeit, die dahinter steckt, der faszinierte Zuhörer nicht ahnt. Diese Möglichkeiten wirken sich umgekehrt und unmittelbar ebenso auf die Stimmen aus. Denn sie verlangen den Sängern neue Techniken ab. Die Anpassung der Technik eines Sängers an die Mittel, die im Studio vorherrschen, ist gang und gäbe, und man macht sie logischerweise stets zum Guten des Sängers Stimme. Was diese Techniken freilich nicht vermögen, ist, aus einem schlechten Musiker einen guten Musiker zu machen.
O.L., Wien, 2004, 19.49 Uhr:
O.L. hat Klasse. Sie würde nie alles preisgeben, was sie kann. Zumindest nicht unmittelbar nebeneinander und undosiert. So wie O.L. nie ein Abendkleid anziehen würde, das sowohl glitzert, als auch Rüschen hat und darüber hinaus knapp und durchsichtig ist. Genauso handhabt es O.L. mit ihrer Stimme: wo sie in dem einen Song eine bestimmte Stimmfarbe offenlegt, verbirgt sie sie gekonnt in einem anderen Lied. Was sie vor allem tut, ist auf ihr Potential hinzudeuten, es jedoch möglichst lange hinauszuzögern versteht ihr Gesangsvermögen in voller Größe zu zeigen.
Um einem Musiker oder einer Stimme eine faire Chance zu geben, sie umfassend zu beurteilen, ist es ergiebig, diese Stimme in verschiedenen Konstellationen und über eine längere Zeitspanne zu hören. Die Entwicklung eines Musikers kann entscheidend sein, ob eine Stimme, von der wir beeindruckt sind, halten kann, was wir glauben sie uns versprechen lässt oder ob sie eine temporäre Faszination auf uns ausübt. Das ist gerade in Verbindung mit starken Songs nicht unüblich. Wiederum kann ein neues Stück oder eine neue Musikformation, aus der die Stimme herausklingt, dazu führen, dass wir eine anfängliche Skepsis ablegen und einer Stimme stattgeben, die wir ursprünglich nicht verfolgen wollten.
Manche Sänger legen ein imponierendes Album vor, doch die Live-Situation wirkt möglicherweise desillusionierend. Vielleicht ist die Abstimmung auf der Bühne nicht kohärent, oder die geschätzte Stimmfarbe kommt live nicht zur Geltung. Unter Umständen ist es die pure Akustik vor Ort, die vom einwandfreien Studioalbum abweicht. Auch umgekehrte Erfahrungen sind möglich: dass ein Live-Erlebnis beeindruckt, wo einen eine Aufnahme, die man im Radio hört, wenig bezaubert. Es macht sich jedoch bezahlt, den Erwartungen oder den Bedenken, die in uns sind, nachzugehen und zu versuchen herauszufinden, ob eine geachtete Stimme diese Spannungen aufrecht halten kann, respektive, ob eine Stimme, die uns durch eine Aufnahme wenig ergreift, es im Konzert hingegen vermag.
R.K., Washington, 1982, 00.15 Uhr:
R.K. singt nüchtern, frisch. Sie nähert sich einem Stück vorsichtig und mit Respekt an, aber messerscharf. Gelegentlich drückt etwas Scheues durch, als würde Schmalz durchsickern wollen, doch R.K. lässt ihn nicht wirklich zu. Sie singt zuweilen, als wäre sie mit dem Komponisten im Dialog, als würde sie gelegentlich von ihm an die Hand genommen werden wollen, mit ihm und seinem Wohlwollen den nächsten Schritt nehmend. R.K. ist in ihren Gesten sparsam. Die Stimme im Grunde durchschnittlich, jedoch von großer Natürlichkeit. Man vermisst nichts. R.K. macht nicht Musik, sie singt nicht, sie interpretiert nicht. Sie lässt stattdessen geschehen, lässt Musik durch sie hindurch laufen und das Gesamte zu einer kleinen, überschaubaren und entspannten Angelegenheit werden. Ein wohliges Schaukelerlebnis.
Ein Konzertbesuch macht sich bezahlt, nicht nur, weil man mit eigenen Augen sieht, wie sichtbare Bewegungen zu Tönen und verschmelzenden Klängen werden, sondern weil man sich dort auch der Vorstellung hingeben kann, in einem einzigen Zeitraum zu sein mit allem, was uns in diesem Konzert umgibt. Wir sind mit den anderen Zuhörern Eins, gleichwohl sind die Musiker in dialogischer Harmonie. Wir gehen in Musikstücke hinein, gehen mit den Rhythmen, dem Fluss der Melodien mit. Zugleich beobachten wir, was auf der Bühne geschieht. Wir beobachten mitunter, was dabei mit uns selbst passiert, welche Gefühle beim Zuhören und Wahrnehmen entfacht werden, wohin uns diese Reise führt. Wir können uns dem zugleich innen wie auch dem außen stattgebenden Spiel hingeben und Sinnesreize erleben, die uns und unser Denken durchdringen. In den meisten Fällen ist die Musiklautstärke, die in einem Konzertsaal, einem Club vorherrscht, um einiges lauter als in den eigenen vier Wänden, was bisweilen bedeutet, dass wir dabei Glückshormone ausschütten.
Das Zuhören der Sologesangsstimme entpuppt sich als besonders einfach, da nicht nur die Stimme zentral aus der Musik hervortritt, auch ist diese singuläre Erscheinung des Singenden ein Gegenüber, mit dem wir uns im Nu identifizieren können. Die Stimme überträgt Worte und Inhalte, welche wir imstande sind nachzuvollziehen, uns zu diesen Worten etwas auszumalen, es dann mit unserer Geschichte zu assoziieren, Erinnerungen, Wünsche freilegen. Songtexte sind in den allermeisten Fällen sprachlich so verfasst wie die Menschen mit dem vertrauten Du sprechen, egal in welcher anderen Fachsprache sie kundig sind und brillieren. Liedtexte behandeln Themen, die die meisten betreffen. Dadurch sind sie allgemein verständlich, gar universell. Durch gesungene Worte erschließt sich uns die Musik sehr direkt. Selbst banale Aussagen können durch die Musik überhöht, durch Wiederholung pathetisiert erscheinen und kommen bei uns nachdrücklich an. Die Aussagen sind dank der überschaubarer Begrenzung und des musikalischen Rahmens innerhalb eines Liedes auf positive Weise eingeschränkt. Die Aussagen bewegen sich in einem Raster, entrinnen nicht ohne diese Ordnung, und diese Einschränkung wirkt sich so aus, dass sie keiner weiteren Überzeugung bedarf und sich das Stück bedeutend, glaubwürdig anhört.
G.G., Lissabon, 1973, 11.20 Uhr:
Ob G.G. Amateurin ist, die die Musik liebt, aber nie gelernt hat korrekt mit ihrer Stimme umzugehen, weshalb die Stimme heiser klingt, bricht, manchmal flach ist oder im Gegenteil, ob G.G. ein Profi durch und durch ist und seit Jahrzehnten auf allen Bühnen zuhause, was ihr diese Schroffheit einverleibt, ist die Frage. Doch G.G. hat es geschafft, ihre schlechte Technik in Effekte zu verwandeln. Eine Meisterin – da exakt und konsequent – des frechen Kaschierens und des kindlichen Offenbarens der Mängel zugleich. Nicht nur ihre Mitmusiker, auch das Publikum zollt ihr dafür viel Respekt.
Wie gut tut die Übersichtlichkeit und Selbstregelung, wenn wir in einem Konzert sitzen: der Alltag, die Sorgen, das Banale bleiben draußen. Hier ist anderes Licht, die Gespräche verlaufen anders, die Rollen des Alltags verschwinden, man ist Gast und Teil einer Atmosphäre. Hier wird zudem etwas gestaltet, kumuliert, aufrecht erhalten, emporgehoben, entfaltet, und dies alles ist im Grunde für uns da, für die, die gekommen sind. Ein Angebot und ein Deal. In uns werden all diese offenkundigen und verborgenen Bestrebungen münden und etwas mit uns anstellen. Eine Form von Spannung, aber auch von Übersicht und Ordnung. Wenn es losgeht, gibt es keine Willkür mehr, sondern übernimmt hier das gewollte Konstrukt. Der Zufall wird in kleinen Portionen gewährt.
Was auch Teil der Präsentation ist, kann man als Treue, Lust, Besessenheit betrachten: Die jahrelange Treue des Musikers zur Musik, die Lust am Musizieren und die Besessenheit, die es braucht für all dieses Schleifen und Feilen, Ausprobieren, ja Scheitern bis zur Beherrschung des Instruments, bis zum Verständnis der Musik, die es braucht, und was den Musikern ermöglicht, all das Genannte auf der Bühne uns, den Zuhörern, als Ausbeute, als berauschendes Happening anzubieten und in einer neuen Reise fortzusetzen.
Diese beständige, lustvolle, leidvolle und leidenschaftliche Tat zieht uns in ihren Bann, verzaubert uns. Wir spüren die Energie und die Schöpfung, die sich in den Tönen und Klangfarben zeigt. Wir sind in diesem Konzertrahmen angehalten von A bis Z da zu sein. Wir schalten nicht zwischendurch ein wie wir das vom Radiohören kennen, weil die Musik in den meisten Fällen schon spielt, wenn wir auf den Knopf drücken und die Musik oder die Stimmen immer weiterlaufen, wenn wir am Zielort angekommen sind und den Apparat wieder ausschalten. Hier sind die Gesetze anders. Wir fügen uns zur Publikumsgruppe, treten mit Erwartung ins Geschehen ein. Wir lassen uns mitnehmen, vielleicht fesseln, und wir harren dabei bis zur Zugabe aus. Wir können eingrenzen zwischen Beginn und Schluss und freuen uns, wenn etwas vom Refrain in uns hängenbleibt.
U.T., 14.3.1983, Oslo, 17.16 Uhr:
Verführerin, umschmeichelnd, tänzelnd, manchmal kokett. Sie bereitet dem Zuhörer größtes Vergnügen durch die Art wie sie ist. Sie fesselt. Ihre Blicke, die Körperspannung sind Teil ihrer Stimme. Betritt U.T. die Bühne, macht sie mit einem Augenaufschlag bereits Beute. Dann sticht sie mit ihrem Stachel unmerklich zu. Die Süße ihres Giftes wirkt für den Rest des Abends angenehm lähmend. Man möchte keine andere Betäubung als diese. U.T. hat keine samtige Stimme, aber Samt ist in der Art wie sie singt. Eine sinnliche Sängerin durch und durch.
Wir schauen zur Bühne und sehen: Es singt. Jemand singt. Jemand singt etwas. Zudem das Phänomen, dass etwas durch jemanden singt und zu dem Hörer hinzu, über ihn hinweg und in ihn hinein. Der Blick zur Bühne ist ein Blick auf jemanden, der seine Seele offenlegt, sich entfaltet, das Innere nach außen transportiert und sich ein Stück weit ausliefert. Die singende Erscheinung wird zu einem zu betrachtenden Objekt, das zugleich sein Subjektivstes preisgibt. Dieses unschuldig Anmutende, Entblößte und Angreifbare auf der einen Seite. Auf der anderen die Stärke der Eigenheit, welche sich nicht nur optisch einfindet, sondern die auch akustisch erklingt. Sie erklingt innerhalb der Gesetze eines musikalischen Gebildes, das in sich nicht fassbar, nicht durchdringbar ist und in der Konsequenz auch den Zuhörer schutzlos macht.
B.F., La Rochelle, 2010, 19.47 Uhr:
Das Comeback von B.F. war ein mediales Ereignis, was unweigerlich zum ausverkauften Konzert im kleinen, aber feinen Club führte. B.F. versprach, was eine einstige Diva zu versprechen hat: Bühnenpräsenz, manieristisches Gebaren, Glamour, gelegentlich gestreute Sprüche sowie die Darbietung ihrer bekanntesten Hits. Dreißig Jahre jedoch, ohne die Stimme regelmäßig zu benutzen, können katastrophal sein, wenn man es verpasst, eine stilistische Anpassung an die gegenwärtigen Möglichkeiten zu machen. B.F. hat es versäumt, da anzuknüpfen wo sie heute steht und sich selbst auf ihrem Weg zu begleiten. Es ist der Unterschied zwischen der pittoresken Patina einer alten Hausfassade und einer heruntergekommenen.
Der Sänger ist Mensch mit Stimme. Seine Stimme und sein Körper ist das Instrument. Des Sängers Funktion befindet sich in einer geregelten Musikkapsel, deren Codes die anderen Musiker permanent lesen, und die aber äußerst durchdringbar ist für jene, die außerhalb stehen und das Gesamtkonstrukt erfassen. Nicht nur kanalisieren auch die Zuhörer das Abstrakte in etwas für sie Konkretes und Einzigartiges, sie sind gleich mit vielen Sinnen mit der Darbietung beschäftigt: mit den Augen, die auf die Bewegungen achten, mit den Ohren, durch die alles geht, mit dem Fühlen, dem Denken, das sie durch die musikalischen Impulse durchdringt.
D.R., Johannesburg, 2010, 21.11 Uhr:
D.R.’s Glaubwürdigkeit geht darauf zurück, dass sich D.R. stilistisch und im Tonumfang relativ stark eingeschränkt hat. Sie changiert wenig zwischen Tonqualität und Betonung von einzelnen Wörtern und singt in leichter Abfolge mal verzögert, mal auf den Takt exakt. Sparsamer Vibrato, gute Diktion, die Noten allesamt mittig genagelt. D.R. bewegt sich im Stück in Begleitung der Noten wie auf einer leicht wogenden Seeplatte, nie die Balance verlierend. Sie scheint das Stück wie durch eine innere Haltung zu tragen. Ihre Stimme bleibt stets unaffektiert. D.R. konzentriert sich darauf, den zu singenden Song unprätentiös zu interpretieren. Sie trägt ihn vor. D.R.’s Stimme findet einen guten Ort im Stück.
Musik ist Bewegung. Im Bewusstwerden eines Nachklangs von einzelnen Noten, sprudeln bereits neue Klänge auf einen zu. Selbst Wiederholungen entfachen nicht dieselben Emotionen. Eine winzige Verschiebung in einem Akkord oder einer Note, eine kleine Hebung oder Senkung, ein Vorhalt, ein minimaler Tempowechsel, gedacht als weiche Überleitung, als Akzent oder subtile Betonung, sind auf der technischen Seite kleine Bewegungen, benennbare Mittel, gängige Methoden und bloß wenige Zentimeter entfernte Schritte auf Tasten, Stegen, Bogenhaltungen, Mundstücken von Blasinstrumenten usw., im Gehörgang des Zuhörers jedoch, bedeuten sie große Welten, Wendepunkte, Zäsuren, bisweilen alles.
U.R., Hong Kong, 2003, 23.10 Uhr:
Eine natürliche Stimme ist es nicht, die U.R. benutzt. Viel zu expressiv, mit zu viel Nachdruck ist diese Stimme versehen, als es dieselbe sein kann, die U.R. benutzte, würde sie just en passant, unbeschwert, singen. Viel zu feierlich scheint U.R. dieser Akt des Singens in diesem Moment, dieser Song und in dieser Atmosphäre, als dass sie es der Natürlichkeit alleine überlassen würde. U.R. möchte diesen Augenblick ganz für sich, er gehört U.R. und sie nimmt ihn: mit verschwenderisch viel Luft, manchmal näselnd, mit extrem langgezogene Linien, Höhen, die eigentlich außerhalb ihres Umfangs liegen. Man leidet nahezu mit, ist aber mit seltsamer Bewunderung dabei. Der Atem stockt, wenn U.R. Sekunden nach ihrer Darbietung regungslos in einer Pose verharrt und ergriffen dem Nachklang lauscht.
Eine singende Stimme vermag die Emotionen der zuhörenden Person zu entfachen, die Person im Ganzen anzuheben, sie zu Aufbrüchen, Höhepunkten oder in Tiefen mitzunehmen, ihr ein Gefühl zu vermitteln, das sich wie eine innere Umarmung anfühlt. So leicht man sich dem Phänomen hingeben darf, so leichtfüßig und rasch alles passiert, werden wir bei den meisten Konzerten mit Gehalten, die in uns angelegt sind, aufs Neue angefüllt und die dann bestenfalls nachhaltig wirken.
Dass die Stimme von einem Menschen kommt, hat etwas Ursprüngliches, Natürliches und Archaisches. Die Stimme ist unmittelbar und doch nicht greifbar. In der Musik gesteigert, künstlerisch erhöht. Dennoch kommt diese Stimme von einem Gegenüber. Wo der Klavierspieler ebenso rasch die Finger auf den Tasten spielen lassen kann, so bespielt er doch mit dem Werkzeug Hand ein Instrument, das außerhalb ist, das andere gebaut haben und das ein Ding ist. Während die Stimme durch den menschlichen Körper hallt. Durch einen Körper, der lebt.
M.D., Tokio, 1977, 00.20 Uhr:
M.D. bringt mit, was man Natur, gute Gene, ein Geschenk nennen kann. M.D. hat das Glück, dass ihre Stimme selbst von einem unglaublichen und einzigartigen Timbre ist. Ein Timbre und ein Sound, die äußerst sängerisch sind in dem Sinne, dass sie eben nicht nur angenehm, wohlklingend und schön sind, sondern alle Instrumente in sich vereinen und mit sofortiger Wirkung Musik schaffen, wenn M.D. zu singen anstimmt. M.D. scheint ein glücklicher Mensch zu sein, der so etwas wie Glück in ihrer Stimme innehat, dass sie es mit jedem Ton, den sie ansetzt frei- und bei ihren Zuhörern anlegt.
Vielleicht ist es für Außenstehende reizvoll zu erfahren wie alles, was als Musikprodukt am Ende daherkommt, entsteht. Dies zu erklären, ist jedoch schwieriger, als wenn zum Beispiel ein bildender Künstler sein Atelier öffnete und in der Lage wäre, durch Dokumentation, die Prozesse seines Schaffens relativ klar zu erklären.
Beim Gesang entfällt vieles davon, was in einem Atelier selbsterklärend ist, weil aufgrund von einzelnen Tonleitern und technischer Schwierigkeiten, die man mit Worten erläutern kann, sich beispielsweise keine Expression erklären lässt, die oft erst im Kontext des musikalischen Dialogs zum Leben erweckt wird. Nicht nur ist die Stimme nicht fassbar, sondern hat die Demonstration in Bruchstücken wenig mit Musik zu tun, ist streckenweise nichts als eine Trockenübung.
Ein Ton ist immer schon wieder vorbei, wenn er gesungen ist. In der Musik geht es immer weiter, es ist ein Elaborat ohne Stillstand. Kaum hat man eine Gesangszeile hinter sich gebracht, die, bevor sie war, dies oder das bedeutete, schon ist sie nichts als Vergangenheit, die etwas gemeint hat. Was aber nur nachträglich erfassbar ist, denn während des Singakts ist eine eigentliche Reflexion für den Sänger aus Zeitgründen kaum möglich. Der Sänger ist bereits wieder vier Takte weiter, setzt zu einer neuen Wendung, einem neuen Höhepunkt an. Selbst, wenn er irgendwo länger verbleibt, und beispielsweise auf einer Note Halt macht – hallend, präsent und eindringlich –, ist dennoch kein musikalischer Stillstand zugegen, denn im Hintergrund pulsiert es, ob hörbar oder unhörbar, stets weiter. Die Musiker bleiben nie stehen, die Reise geht immer weiter, immer weiter.
D.G., Sydney, 1990, 19.45 Uhr:
Wenn D.G. singt, wird es in der ganzen Musik ruhiger. Alles wirkt minimalistisch, auf das Wesentlichste reduziert. D.G. ist gut vorbereitet, aber auf der Hut. Sie lauscht, ergibt sich wachst dem Dialogischen. Man kann sich nicht ausmalen, was als nächstes passieren wird. Es ist nie Zögern, sondern alles Teil eines einzigen dramatischen Akts. Die Spannung muss gehalten werden. D. G. suggeriert, dass alles, was bisher geschah, bloß die Vorbereitung auf eine Steigerung ist. Dadurch wird die Erwartung aufs Höchste ausgereizt. Welche Steigerung? Mitunter die der Pausen zwischen den Tönen. Pausen, die bei D.G. voll von Klang und voller Wissen sind.
Es geht nicht darum die Pause zu rühmen, deren Wichtigkeit zu betonen und festzuhalten, welches Temperament des einzelnen Musikers oder Sängers es bedarf die Pause zur Krönung werden zu lassen. Doch es ist Tatsache, dass jede Musik darin entsteht und nur dort entstehen kann, wo keine Musik ist. Und die Pause eine temporäre Metapher für diese Basis sein kann. Musik findet aus der Stille und Ruhe heraus statt. Sie kommt und entsteht von dort, wo kein Ton ist. Dies ist, angesichts des Klangs und Schalls, die wir unter Musik verstehen, mitunter eine Herausforderung, sich nämlich diese abstrakte Leere vorzustellen, in der der alles stattfindet.
Der Sänger übt mitunter jahrelang an einem bestimmten Vokal bis er feststellt, dass einzig die Kieferposition um zwei Millimeter versetzt werden musste, um einen bisher nicht gut erreichbaren Ton in der gewünschten Qualität zu erlangen. Das kann im Sänger selbst die Welt, ja eine neue Entwicklungsstufe und Dimension bedeuten; für die äußere Welt ist dieser Erfolg wahrscheinlich nicht einmal hörbar oder gar nicht einmal nötig.
Sehr viel passiert im Kopf des Sängers. Der Kopf muss das Richtige denken, sich vorstellen, sich wünschen oder erfahren haben, damit das, was Stimme und Ohr ist, im Akt des Singens greift. Dieses Denken zu erfassen, zu begreifen und sich bei der Durchführung daran zu orientieren ist eine Crux. Denn beim Singen selbst sollte jegliches Denken und Reflektieren möglichst wieder verschwunden sein, so notwendig es ist, dass es zuvor da war oder später sein wird, und sich um den Gesang herum manifestiert. Denn Singen ohne Vorstellung und ohne innere Haltung kann zuweilen prekär sein, wenn sich die natürliche sängerisch-musikalische Intelligenz nicht durchsetzen kann und ohne diese Vision Fehlentscheidungen während des Singens getroffen werden.
Der sanfte Beginn, weich und leicht in dem einen spezifischen Stück kann die Garantie für den späteren Flug sein. Wo der gleiche Anfang, anstelle vielleicht eines klaren und dominanten, in einem anderen Stück einen Sturzflug bedeuten kann. Oder der allzu klare Fokus auf eine bestimmte Tonfolge, auf die sich der Sänger freut, weil er darin aufgeht, etwas für kurze Sekunden öffnet, das ihm Glücksgefühle beschert, bewegt sich dank Konzentration und Fokus mit einem Sicherheitsseil im Gepäck, oder er entscheidet sich für das freie Laufen auf einer schmalen Kante am Abgrund, weil der gewünschte Effekt eben dieses Risiko benötigt, ansonsten die Sache schulmeisterlich, affektiert oder schal wirken kann.
Auch eine nur um wenige Töne zu hoch oder zu tief gelegte Tonlage lässt den Sänger vielleicht im falschen Moment scheitern, wo eine behutsam gewählte Tonlage diesen kritischen Punkt umgehen könnte, wenn immer auch auf die Gefahr hin, dass dadurch die Spannung abhanden kommt und das Endresultat würzlos wirkt. Es ist immer eine Gratwanderung zwischen dem Anspruch, alles leicht aussehen zu lassen und doch die dramaturgische Spannung halten zu müssen, damit es wörtlich spannend bleibt.
K.T., Ischia, 1998, 00.07 Uhr:
Man wird das Gefühl nicht los, K.T. singe so wie sie meint singen zu müssen, damit es richtig klingt. Doch gerade deshalb hört es sich nie ganz richtig an. Dieser Anspruch klebt an K.T. wie eine schlecht sitzende Hose, die einem nur auffällt, wenn man sich achtet. Erstaunlich dennoch, dass sie Erfolg hat. Die Show ist gut aufgezogen, es hat von allem und somit für jeden etwas dabei. K.T. lehnt sich nicht weit aus dem Fenster, jedoch stets gut gelaunt, mit schönem Lächeln im Gesicht und dem entsprechend kurzen oder engem Kleid. Das Management hinter K.T. ist äußerst strebsam. Ehe man sich versieht etwas zum Konzert X zu sagen, ist schon das nächste Album auf dem Markt.
Der nicht singende Zuhörer denkt, wenn er sich das Singen vorstellt, gelegentlich zu sehr an zu erreichende Höhen, an Stimmübungen, an die leidenschaftliche Expression des Sängers, die herauszustechen hat, eine unmittelbar und höchst emotional mit dem Leben des Sängers verbundene Geschichte, die sich durch die Stücke ziehen muss und so weiter. Dabei ist die Realität viel verworrener und steckt in unzähligen Details.
Im Laufe seiner sängerischen Zeit durchläuft, wie alle Musiker, auch der Sänger Tiefen und Höhen. Er lebt in Widersprüchen. So muss er fokussiert sein auf das, was er singt, gleichzeitig muss er wie ein Radar auf der Hut sein für die Wahrnehmung seiner musikalischen Begleiter, um trotz Konzentration auf das eigentliche Singen, die kleinsten Veränderungen mitzubekommen und darauf zu reagieren. Der Sänger wird beim Studium mit Lehrern oft mit einer Unmenge von Bildern konfrontiert, weil beispielsweise der Gesangsunterricht nicht so anschaulich durchgeführt werden kann wie Instrumentalunterricht, da die Stimme ja ein Instrument ist, das nicht sichtbar ist. Der Sänger muss sowohl eine Vorstellung davon haben wie er klingen möchte, gleichwohl muss er herausfinden, wie er selbst am besten und am authentischsten klingt und muss damit leben, zwar besser werden zu wollen, jedoch darüber im Klaren sein, dass er sein einziges Instrument ist, welches er nicht austauschen kann und somit per se eingeschränkt ist. Er muss also darauf bauen, was er hat, was seine Stimme hergibt und er muss an seine Stimme glauben. Ebenso wie er sie und ihre Grenzen kennen sollte und wissen, in welchem Gebilde sein Ausdruck und seine stimmlichen Bewegungen und musikalischen Reisen mittels der Stimme am besten gelingen.
Nicht jeder Sänger hat ein bestimmtes Idol, so aber doch bestimmte Vorstellungen von Lieblingsstimmen, ob in Kontexten oder generell. Er wird sich mit diesen anderen Stimmen auf diese oder jene Art konfrontieren: ob in der praktischen Nachahmung, im theoretischen Vergleich oder in der Bewunderung. Der Sänger hat zudem eine eigene Vorstellung davon wie er selbst klingt, und er wird eine bestimmte Zeit brauchen, um sich an seine Stimme zu gewöhnen, wenn er sie auf einem Tonträger zum ersten Mal hört. Er wird davon schockiert oder im Positiven Sinne überwältigt sein, und diese Erfahrung wird erneut Einfluss nehmen auf sein Singen, wenn gelegentlich nur temporär. Nach einer bestimmten Zeit wird er mit einer musikalischen Distanz dieser anderen Stimme auf dem Tonträger zuhören können. Er wird eine feine Grenze ziehen können zwischen derjenigen Stimme, die dort erklingt und der Stimme, die noch unmittelbarer da und in ihm ist, wenn er sie im Singen selbst gewahrt und nutzt.
Der Sänger probiert sich aus, experimentiert mit Klängen, Klangfarben, erklimmt Klanghöhen und Tiefen, versucht sich in verschiedenen Färbungen und Effekten, am besten dennoch darum wissend, dass es trotz all der spielerischen oder durchaus ernst gemeinten Eskapaden, die er freilich auch in der Praxis später anwenden kann, seine natürliche Stimme, die sich stets ein wenig um die Indifferenzlage herum bewegt, nie ganz aus dem Fokus und aus dem Ohr verlieren sollte. Die sogenannte natürliche Stimme ist jene, die immer ohne Anstrengung da ist. Dennoch verlieren sich viele Sänger auf ihren experimentellen Pfaden und finden nicht mehr zu dieser eigentlichen Naturstimme zurück.
Aber nicht nur die natürliche Stimme und das Bewusstsein darüber sind elementar wichtig. Auch die Körperspannung des Sängers ist eine unverzichtbare Basis, da eine entspannte, offene Haltung die verschiedenen Resonanzräume (wie Kehlkopf, Rachen, Mundhöhle, Nasenhaupthöhle), in denen die Stimme stattfindet, in ihrer jeweiligen ganzen Größe ausgefüllt und zum Schwingen gebracht werden kann. Nur in großen Klangräumen, den inneren wie den äußeren, kann sich das Stimminstrument voll entfalten und im Gesamtumfang hörbar werden.
Doch selbst der beste Sänger wird irgendwann mit der Beschränkung seiner technischen Mittel konfrontiert. Denn es gibt keinen Sänger, der alles machen kann. Das ist so schmerzhaft wie lehrreich. Ein gut beratener Sänger wird sich durch diese neue Bestandesaufnahme zu einer neuen Annäherung herangeführt sehen und die Karten von Wunsch und Realität neu für sich mischen. Dies kann mitunter sogar der Beginn einer neuen Entwicklung bedeuten, die ihn sogar bis zu einem unvergleichlichen Stil führen kann.
Der Anspruch und die Wirklichkeit können sich auch in einer einzigen Vokabel abspielen. Die Arbeit an einem einzelnen Wort, das nicht nur nach der Vorstellung des Sängers artikuliert werden soll, sondern er das Wort als das erklingen lassen möchte, was der Sänger fühlt und damit ausdrücken möchte – als Funke, als Metapher, als Etwas, das vorher eingeengt war und just in diesem Wort explodieren sollte –, geht immer wieder über die technischen Mittel hinaus. Doch was den Sänger nicht befriedigt, weil er dieses Wort zwar immer genau so denkt und singt wie es sich in seiner Vorstellung abspielt, aber er es dennoch nicht genauso hören kann wie er es hören möchte, ist es die Anstrengung allemal wert. Denn möglicherweise vermag ein Zuhörer diese Anstrengung und die Absicht trotzdem mühelos zu erleben, beziehungsweise das vom Sänger gewünschte Resultat.
Viele Übungen, wie das Herumreiten auf einer Tonfolge bis man sie richtig kann und danach die Erkenntnis, dass man sie nicht mag, weil sie sich schlecht anfühlt, nicht das entfacht, was einem zuvor vorgeschwebt ist, sind Trockenübungen, ohne, dass der Sänger das hier Gelernte unmittelbar in der Interpretation eines Stücks beim Singen anwenden kann. Dennoch braucht der Sänger viele solcher kleinen Reisen, auch jene, die äußerst unmusikalisch daherkommen, um vielleicht im richtigen Moment etwas aus dem Vokabular hervorzuholen, das dem Sänger als reines Werkzeug in der musikalischen Darbietung weiterhilft.
Die Reduktion aus der Fülle heraus ist eine andere als eine Reduktion aus einer kleinen Auswahl heraus. Nicht zuletzt entscheidend für das Zünglein an der Waage ist der eigentliche Geschmack des Sängers und wie er selbst als Mensch ist. Der eine muss ausprobieren und Material anhäufen, ein anderer reduziert sich von vornherein aufs Minimum.
Viele Anstrengungen finden durchaus im Kopf des Sängers statt oder in einer Zeit, wo er sängerisch gar nicht aktiv ist. Und keine Frage ist Kehlkopftätigkeit anders anstrengend als ein Marathonlauf. Die Muskelarbeit an den Stimmbändern zeigt sich in einer eher subtileren Form. Es ist wenig auch nicht allzu aufregend, den Sänger bei der Arbeit an Vokalen, ihn bei der Suche nach den richtigen Klangfarben, der Diktion, dem Ansatzrohr, dem Vibrato usw. zu beobachten. Manche Übungen sind oftmals Versuche, sich einem Musikstück anzunähern. Der Stimmeinsatz und -Absatz am Anfang und am Ende einer Zeile oder eines Liedes will geprüft sein. Immer wieder soll auch die Koordination mit der Atmung, die für eine bestimmte Länge ausreichen muss, geprüft werden. Die Stütze, wichtig für die Artikulation, welche wiederum trägt, muss vorbereitet werden. Das Stimmregister will richtig gewählt sein, je nach gewünschter Dynamik und Ausdruck. Sowie muss sich der Sänger überhaupt unzähligen musikalischen und ästhetischen Fragen stellen und sie für sich lösen. Dies alles tut er gelegentlich sogar ohne eine Sekunde bewusst darüber nachzudenken, sondern geschieht dies unbewusst und im Singen selbst.
F.R., Chicago, 17.23 Uhr:
F.R. ist ein reifer Musiker. Er versteht, was er tut und lässt das Publikum nicht daran zweifeln, dass F.R. alles, was er macht, fest im Griff hat. F.R. ist ein erfahrener Weltenbummler, der schon viel gesehen und erlebt zu haben scheint, und dem man deshalb nichts vorzumachen braucht. Er hat den bestimmten Dreh raus, ist aber ein Wiederholungstäter, was ihm zwar eine gewisse Mattheit verleiht, die aber nicht ohne Charme ist. Es ist reizvoll zuzuwarten, F.R. Zeit zur Entfaltung seines Raums zu geben, weil er garantiert noch andere Räume öffnen wird, und ein paar Nummern im späteren Programm hat, die ihn subtil aus seiner Haut werden fahren lassen und auf die es sich lohnt, geduldig und zuversichtlich zu warten. Trotz seiner überlegten Art, seiner Routine, ist F.R. ein konzentrierter Sänger, der sich den Stücken ergibt und durch seinen Gesang immer wieder aufs Neue der Musik dienlich ist.
Geht der Sänger wörtlich und physisch an seine Grenzen, ist dieses Phänomen auch beim Zuhörer spürbar. Er hört, geht mit, spürt die erklommene Höhe, die erforschte Tiefe, die kratzende, fast brechende Stimme. Gekonntes Einsetzen dieser Mittel kann magisch sein. Ein falscher Einsatz allerdings kann entlarvend sein, die Grenzen vorführen und spätere Höhepunkte unnötig trüben.
Ein neues Stück ist fast immer, zumindest punktuell, eine neue Herausforderung. Nicht nur wegen der zu erlernenden Melodie oder dem Vertrautwerden mit den Akkordfolgen. Die Stilistik ist zu untersuchen, ebenso die Findung der für den Sänger richtigen Interpretation. Der Sänger möchte sich auf ein Stück einlassen, will offen sein, gerade am Anfang. Doch am Anfang lässt das Stück viele Interpretationen zu und der Sänger muss sich irgendwann für die eine, seine, entscheiden, ohne vorher alle ausprobiert zu haben. Er geht dabei behutsam vor, sucht bestimmte Stellen, den Spannungsbogen, den roten Faden, damit die Echtheit der Intention nicht verloren geht. In einem Musikstück sucht der Sänger sehr lange, manchmal mehr als in den Möglichkeiten seiner Technik. Gelegentlich vergehen Jahre, bis er dieses besondere Etwas, das er aufgespürt hat. Das Etwas, das Seins ist, das in seine eigene Geschichte passt, ob der gelebten oder der ungelebten, und welche dem Stück aus seiner Sicht gerecht wird.
Doch selbst wenn er diese besondere Stelle gefunden hat, bleibt die Frage, wie er an sie herangeht, wie er sie singend immer wieder aufs Neue entdeckt und nicht zu früh verrät, sodass sie möglichst lange geheimnisvoll bleibt und dann feierlich enthüllt werden kann im Teilen mit dem Zuhörer. Mit welchen Verführungen oder zielgeraden Annäherungen soll der Sänger daran gehen? Mit Fokus oder mit Flirt? Enthüllend oder andeutend? Genießend oder Teil des Genusses jemand anderem überlassend? Und wie kommt der Sänger aus der Stelle wieder heraus, ohne darin plump stecken zu bleiben, ohne zu pathetisieren, ohne manieristisch zu werden? Mit vernebelnder Leichtigkeit oder mit klarem Schnitt? Wie kann die Stelle erahnbar sein vor deren Erreichung, wie nachwirken, nachdem sie geschah, und wie soll sie in den verbleibenden Rest des Stücks einfügt sein?
G.E., Dubrovnik, 2007, 22.18 Uhr:
G.E. ist pure Energie. Schreit sich förmlich die Seele aus dem Leib. Sie vibriert, dehnt die Töne bis zum schieren Auseinanderfallen, sie jauchzt und stöhnt. Sie holt das Publikum dort ab, wo die Masse abgeholt werden möchte: in den musikalischen Kapriolen, den eingängigen Vamps, den stimmlichen Höhepunkten, die allesamt irgendwo um das hohe C herum liegen müssen, der rhythmischen Maschine in den Tiefen. G.E. lässt ihre Hüften kreisen, tanzt mit den Armen, stampft mit den Füssen, schwitzt und kreischt und bringt auf diese Weise den einen oder anderen um den halben Verstand. Eine unverschämt belebende Erscheinung.
Manche Stücke betonen sosehr die Schwächen, dass der Sänger sich dieser Stücke entledigen muss, auch wenn er sie liebt und bei anderen Interpreten schätzt. Im passiven Hören oder aktivem Mitsingen mit anderen scheint alles möglich. Doch ist man lediglich vom Gerüst der musikalischen Begleiter im Stück gehalten, befindet man sich mitunter wie in einem Vakuum, verliert die Orientierung, tappt im Dunkeln, handelt nach Gesetzen, die man sich anders gedacht hat oder die sich anders angefühlt haben als mit dem Playback. Das geliebte Stück entpuppt sich als Falle, als Herausforderung, als Grenzerfahrung. Man möchte vergessen durch das Stück hindurchgleiten, das Ich darin verschwinden lassen, und ist in Wirklichkeit neben dem Stück oder bloß am Stück dran, aber nicht darin selbst, sogar, wenn man technisch alles richtig zu machen scheint.
K.T., Buenos Aires, 1981, 01.17 Uhr:
Ein Virtuose, ohne Frage. Man merkt K.T. eine umfangreiche und praktische Bildung an. Er scheint hier wie dort zu Hause zu sein und wird dadurch für den Zuhörer nicht wirklich fassbar. Was nicht schlimm wäre, wenn sich in diese vermeintliche Harmonie nicht auch der Eindruck von leichter Verlorenheit, ja gar Gleichgültigkeit mischen würde. Scheinbar ohne Strapazen klettert K.T. Tonleitern rauf und runter, zieht Register, beeindruckt durch wagemutige Sprünge, beherrscht das Vokabular, egal ob in einer superschnellen Uptempo- oder ob in einer schmusigen Latin-Nummer. Man kann qualitativ nichts bemängeln und doch ist das, was K.T. bietet, an vielen Stellen nichts weiter als Demonstration. K.T. ist nicht angebunden an das Eigentliche, an das Gerüst, an das Herz der Musik, sondern scheint wie davon abgekoppelt. Man geht berauscht und beeindruckt aus dem Konzert, begleitet von einem faden Nachgeschmack.
Des Sängers Arbeit ist nicht die eines Handwerkers, der vor der Aufgabe die Möglichkeit hat alles auf einen Plan zu zeichnen, seine Werkzeuge bereitzulegen. Das Jetzt, in dem der Sänger aktiv ist und welches sofort gleich wieder verschwindet, verunmöglicht, dass der Sänger von vorne bis hinten abgesichert ist, vor allem, wenn er bereit ist, ein wenig Risiko einzugehen, in dem Sinne, dass er sich auf das Risiko der Mitwirkenden einlässt und minimale Korrekturen macht, spontan entstehende Interpretationsvarianten erlaubt. Gerade im Jazz ist dieses Tanzen auf dem Seil ohne Sicherheit etwas Gewohntes und Routiniertes, das aber dennoch vor allem als Einstellung geübt werden kann. So gesehen kann sich mancher Sänger lediglich auf die eigene Vorstellung stützen und darauf vertrauen, dass er sich quasi automatisch oder auf Abruf der richtigen gestalterischen Mittel bedient, wenn es das Stück erfordert. Und während ihm gelegentlich allerlei Aspekte durch den Kopf gehen, entströmen seinem Mund gleichzeitig die Melodien. Die Musik ist flüchtig, spielt immer vorwärts. Und bevor der Sänger merkt, was geschehen ist, ob er sich bei einem Fehler ertappt oder eine positive Wendung einfängt, ist es zugleich klar, dass eine exakte Wiederholung mit dem selbem Gefühl nicht wahrscheinlich ist, bloß die Annäherung daran. Und währenddessen ist man wiederum ein paar Takte weiter, weil man sich in der Gleichzeitigkeit befindet.
C.W., Montréal, 1999, 23.37 Uhr:
Die Intonation lässt bei C.W. deutlich zu wünschen übrig. Da ihr Anschlag jedoch im Bereich des Zumutbaren liegt, da er noch immer innerhalb der jeweiligen Tonfrequenz stattfindet, wird es einzig für denjenigen, der mit einem absoluten Gehör ausgestattet ist, zu einer Anstrengung, wenn er C.W. zuhören möchte. Die Konsequenz, mit welcher C.W. immerzu leicht daneben, unscharf, nämlich unterhalb des Grundtons intoniert, machen C.W. allemal unverwechselbar und unikal. Diese leichte Schiefe, an die man sich gut gewöhnen kann, ist substanziell bis auf die Knochen.
Der Sänger möchte zeigen, nicht sparsam sein, sich selbst im Akt entfalten. Er hat eine vage oder klare Vorstellung davon, was er erreichen möchte, muss aber selbst herausfinden und ausprobieren wie er dies erreichen kann. Dabei ist er ganz auf sich selbst gestellt. Nicht selten bewirkt er etwas – das zwar technisch durchaus erklärbar ist –, was aber anderes angedacht war. Ein Tempo beispielsweise, dass er verschleppt, aber nicht, weil er vorhatte, das Tempo zu verschleppen, sondern, weil er dadurch, dass er es verschleppt, etwas Bestimmtes aussagen wollte. Oder er denkt daran, den Text eines Stückes so zu präsentieren, dass er richtig ist, dass der Text gelebt, erzählt wird, wobei er sängerisch etwas umsetzt, das mitschwingt und am Ende zentraler wird, als die ursprüngliche Idee von diesem Text. Vision und Vorhaben vermischen, überlagern sich häufig. Der Effekt ist ein Stilmittel, nicht selten jedoch von einer anderen Auswirkung auf den Hörer. Dimensionen und Sinne gehen ineinander über. Der Gesang ist einmal mehr nicht greifbar.
Der Sänger möchte eine Steigerung herbeiführen, einen Höhepunkt erreichen. Wie oft aber gelingt ihm das wirklich? Vielleicht muss er sich zufrieden geben, wie einst ein Lyriker über seine Gedichte meinte, nämlich, dass wenn er nur ein einziges Gedicht zu schreiben imstande wäre – von all den Hunderten, die er schrieb – dann könne er sich glücklich schätzen über dieses eine vollkommene. Bei einem Sänger sind es mitunter wenige Sekunden eines einmaligen Glücks, auf dem er jahrelang baut und hofft, und dieses Glück immer wieder aufs Neue ersehnt. Und welche Überraschung, wenn nicht durch Willen, sondern mitunter beim unbeschwerten Drauflossingen sich etwas loslöst und einen eigenen Weg geht, das Betörung auslösen kann.
Die Zeitwahrnehmung beim Singen ist eine andere. Drei Minuten können sich wie zehn Sekunden anfühlen oder eine Pause, ein zu kurz beendeter Satz wie eine kleine Ewigkeit, die Tausend Fragen und Unsicherheiten auslösen kann. Was für ein Glück jedenfalls, dass die Musik da ist, die Begleitung trägt, dem Sänger pulsierend zur Seite steht, ihm treu ist, ihm den Weg weist.
T.R., Moskau, 1995, 18.24 Uhr:
T.R. gibt der Musik und der im Gesang dargestellten Komposition eine menschliche Dimension. T.R. belebt, ist expressiv, fesselnd. Der Himmel ist T.R.’s Bühne. Dort kreist sie wie ein Milan durch die Lüfte, taucht, schießt empor, segelt erneut, zeichnet unsichtbare Linien, während ihre Musiker wie Wolken vorüberziehen.
***
Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7
Weiterführend →
Holger Benkel schrieb einen Rezensionsessay über „Der Faden im Kopf„. Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.