ich fahre nach philippi, usa, wo eine freundin eine gotische kirche erbauen soll, weil die amerikaner so etwas nicht haben und den kinderkreuzzug nach jerusalem inszenieren wollen. ich wurde beauftragt, die dramaturgen zum satanskult zu beraten, und nahm diesen auftrag an, obwohl ich anfangs sagte, hier gehe historisch doch einiges durcheinander. der vater der freundin, deren familie samt großmutter bereits in philippi weilt, ist mit der gestaltung der decke und des altars der kirche betraut.
ich habe inzwischen amerika erreicht, stehe in einer bahnhofshalle und will mir einen fahrschein kaufen, scheitere aber beim bedienen der automaten. daraufhin gehe ich zum schalter und erhalte die auskunft, daß die fahrpreise personenbezogen errechnet werden. ich muß einen fragebogen ausfüllen und meinen ddr-ausweis vorlegen, der das schalterpersonal erst erstaunt und dann entsetzt. und aufgrund meines alters und der herkunft, jüngere menschen und ausländer zahlen mehr, wird der preis enorm hoch und übersteigt meine dollarvorräte. ich durchwühle meine umhängetasche, hoffend, darin läge noch geld. und finde, was mir bis dahin verborgen geblieben war, im umschlag eines briefes, den mir die freundin aus philippi geschickt hatte, eingeklebt zehn dollar, die ich vom übrigen papier ablöse. auf der umschlaginnenseite steht, von der mutter der freundin geschrieben: »dem guten holger zum gedenken«. das geld reicht gerade für die fahrkarte. ich verlange nochmal: einmal philippi, und bekomme mein billett.
unterdessen haben dutzende ddr-touristen die schalterhalle betreten und debattieren erregt über die art, wie man hier fahrpreise berechnet. ein älterer herr ruft: »der reinste manchester-kapitalismus. nichts als ausplünderung.«, und ich ergänze: »wo jeder kalt und kalkulierend seinen privatinteressen folgt, entstehen am ende neue totalitäre massen.«, worauf der herr mich umarmt. die ddr-touristen füllen brav ihre formulare aus. und erst das vorzeigen ihrer ausweise ruft den aufmarsch einer ganzen kompanie uniformierter polizisten hervor, die sich jedoch ruhig verhalten und nur abwartend dastehn.
endlich sitzen wir im zug. der ältere herr springt während der fahrt mehrmals erzürnt auf und bedeutet mir, zum fenster weisend: »schau hin, schon wieder elendsviertel.«, derweil er beim anblick sanfter hügel bloß abfällig bemerkt: »edelkitsch aus natur, zivilisationsstaffage, lifestyle mit bäumen.« unvermittelt beginnt er die »internationale« zu singen, bis auch die anderen touristen, nach einigem zögern, die melodie mitsummen. der schaffner kommt und fragt, ob es sich um deutsches liedgut handelt. »dies ist das allererste volkslied der ganzen welt.«, antwortet der herr. und zeigt dabei vorwurfsvoll auf eben vorüberfahrende blechhütten. der schaffner erwidert, etwas verlegen, »wissen sie, die sind für mich genauso weit entfernt wie afrika.«, und der herr entgegnet: »da hört ihrs«. der schaffner kündigt an, ein deutsches märchen zu erzählen, womit er umgehend anfängt: »treffen sich der große riese, hoch wie ein gletscher, der nach süden driftet, und der kleine riese, der sich an dessen schulter lehnt. sagt großer riese: wenn ich dich nur sehe, hab ich dich zum fressen gern. und kleiner riese: oh, wie mich das freut. beißt großer riese kleinem riesen ohren, nase und finger ab. und wenn sie nicht gestorben sind, dann beißt er noch heute.« betretenes schweigen. »deutsches märchen.«, erklärt der schaffner, »eher amerikanischer witz.«, antwortet der ältere herr. ein büffet wird herangefahren. der verkäufer fordert uns auf, erwas zu kaufen. »wir sind keine säkularisierten epikuräer. wir pflegen keinen kulinarischen lebensstil.«, kontert der herr. der verkäufer fährt irritiert weiter. »marx hat immerhin über epikur promoviert.«, wende ich ein. darauf der herr: »ja, verdammt, aber hats genutzt?«
in der ferne erkenne ich eine insel mit rot leuchtenden apfelbäumen und lese an der straße parallel zur bahnlinie das schild »willkommen in philippi«, als ein unwetter losbricht. wir überqueren auf einer eisenbahnbrücke direkt vorm bahnhof noch einen sund. ich schaue ins wasser, das die herabfallenden blitze spiegelt, sehe darin eine wisentherde laufen und ahne, daß wir niemals ankommen werden.
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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2023
Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.
Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015