An Vernissagen von Galerien würde man ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit begegnen, denn gewissermassen ist es seine Pflicht, an solcherlei Anlässen zu erscheinen. Diese Feierlichkeiten – eher von politischer und banaler denn ästhetisch-philosophischer Natur. Er ist also zugegen, hat seine Atelierumgebung verlassen, hat seine übliche Arbeitsgarderobe gegen eine andere getauscht. Er fühlt sich möglicherweise unwohl, ist irritiert ob der vermeintlich interessierten Kreise, die durch seltsam gesponnene Netze ihre Wege zu diesem Abend gefunden haben. Der Künstler inmitten derer, die wahrscheinlich nie hungern, und welche mehr Faible als aufrichtiges Kunstverständnis auszeichnet.
Er steht wahrhaftig da, und doch entfernt. Potentiell steht er Red und Antwort, und wer etwas später ins leise Glasklirren und Parfümgewölk kommt, der wird den Protagonisten des Abends möglicherweise lange suchen. Denn sehr oft ist es der kleine Unscheinbare, der den Spiess umgedreht hat und selber in eine Beobachterrolle geschlüpft ist. Man erkennt ihn weniger am stolzen Gang oder am Posieren als an dem auf den zweiten Blick Erkennbaren; oft erst im Vergleich zu den aufgetakelten und angeblichen Schöngeistern fällt sein schlichtes Schuhwerk auf, das eher schlecht gebügelte Hemd, der subtil eingestickte Markenname auf der linken Brusttasche abwesend. So pedantisch Künstler, die mir bisher begegnet sind, sein können, die Übergenauigkeit bezieht sich auf ihr Werk und Tun, nicht auf ihr aussehen. Im Gesicht ein verschlagen-leuchtendes Augenpaar, das etwas Verschmitztes ausstrahlt und einen kindlichen Geist erahnen lässt.
Wenn ich von einem Künstler spreche, meine ich aber keineswegs Äusserlichkeiten, die für alle gleichermassen da sind, für die Schauenden und Sehenden. Das Visuelle, wie die Sinne überhaupt, sind in ihrer potentiell jederzeit entflammbaren Art naiv demokratisch, stehen unvoreingenommen zur Verfügung auch für Ignoranten und Fanatiker. Nur die Erkenntnissuchenden nehmen die scheinbare Oberfläche als Schlösser und Türen wahr, die lohnen und leise fordern geknackt, geöffnet zu werden. Wenn ich vom Künstler spreche, dann spreche ich auch nicht vom Werk und jenen Spiegelungen und Reflexionen, die vom Macher kommen. Mit Künstler meine ich die Künstlerseele.
Die Künstlerseele ist es, die einen Künstler zu einem Künstler macht. Es ist nicht das artistische Werk, nicht das Nochnichtdagewesene, weder das Provokative noch das historisch, handwerklich gut Umgesetzte. Eine Künstlerseele ist auch nicht messbar an Qualitätsbarometern. Selbst das Genie seines Genres gewährleistet keine Garantie. Am wenigsten meine ich mit dem Begriff das Künstlerklischee des verschrobenen Menschenbildes. Oder jenen erfolgsverwöhnten Mann, der sich geschickt im Netzwerk der Galeristen, Mäzene und Agenten bewegt, sich ihrem Vermittlungsspieltreiben opfert und dies mit keiner Faser seines Gemüts bezahlt, was ihn für mich verdächtig macht.
Zweifelsohne kann eine Künstlerseele auch einen Sieggekrönten beleben, und sie tut es immer wieder. Aber die Faktoren, die für Aufstieg und Durchbruch stehen, lassen sie jedenfalls unberührt. Einzig aus sich heraus soll sie tun oder unterlassen, triumphieren oder scheitern. Eine Künstlerseele ist eine Seele, die nicht fordert und nicht muss. Sie darf sich in ihrem Ausdruck, sei er nun elegant und tiefsinnig oder dahingeschmiert und von willkürlicher Anrührung, austoben. Potentiell darf sie immer inaktiv bleiben. Es genügt, wenn sich ihr monologischer Dialog im Innern abspielt, wenn sie ans Ausserhalb anspruchslos Grösse zeigen kann. Wenn sie in jenem richtigen Moment versteht, wo es um das Wahre geht, ohne das pro-aktive Zutun. Das Schaffende und Erschaffte also ausser Acht. Sie begreift ihr Sein mit dem Verzicht auf schmückende Attribute oder Werte, denn sie ist genügende Tatsache.
Es ist also nicht das Tun und nicht das Resultat, das ihre Existenz stützt. Eine Künstlerseele benötigt kein Leid oder eine Zäsur, um ans Ziel zu gelangen. Sie kennt das Ziel nicht. Auch muss sie nicht viel erlebt haben an Welt. Eine Künstlerseele als solche ist roh und bereits ausgewachsen. Sie ist nicht von unendlicher Auswucherung. Dazu ist sie zu sehr mittiger Stillstand. Sie hat kein Geschlecht und kein Alter. Einzig ist sie. Das Sein als Matrix.
Die Künstlerseele nämlich ist im Sein bereits entfaltet. Ob sie glücklich oder betrübt gefärbt ist, hängt vom „Träger“ ab oder vom Zufall der Tageszeit. Dass es von diesem An-Sich-Sein Abervarianten und -versionen gibt, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Dass man von ihr weniger spricht als vom Künstler, gründet vielleicht in unserer Vorstellung, Sachen wie Personen dingbar, fassbar machen zu wollen. Auf einen Künstler kann man mit dem Finger zeigen. Gegen ein Gemälde ein Wortreich erbauen. Aber selbst die akkurateste Wahl der Worte und Hintergründe ist in ihrer Form physischer als die Vorstellung davon, was die Künstlerseele ist: körperlos.
Ohne Seele keine Künstler. Aber viele Werke muten seelenlos an. Das Werk also ist es nicht, an welchem wir eine solche Seele erkennen. Dem Mann mit dem leicht unbekümmerten Gesicht – der in der Galerie seinen potentiellen Kunden, für die er weder lebt, aber vielleicht von ihnen, gegenüber steht – man wird es ihm nicht ansehen, ob er sie nun hat oder nicht. Dieser gelobte Künstler, der in der Ausstellung so nah ist, als lebe er just in derselben an Widerspruch und Kompromiss reichen Welt.
Vielleicht trösten wir uns ein Stück damit, dass er ja da ist und es ihn sichtlich nicht „besser erwischt“ hat als unsereinen, Besserbetuchten, die uns zynisch Brötchenverdiener nennen und uns manchmal, in einem Anflug von Ausbruch, aberwitzig kleiden wie gerade jetzt, uns in sog. Künstlerkreise mischen, das Sektglas lässig in der Hand, eine entrückte Aufgeregtheit im Blick, als wäre man gerade verliebt, und die von einer lokalen Zeitungsreporterin versehentlich um ein Interview gebeten werden. Zunächst beschämt, erleben wir sogleich ein Gefühl von Anerkennung. Und das Paradoxe der Situation und die Phantasie lassen es zu, dass wir uns hinleiten zu diesem romantischen Bild, auf dem Land, in einer malerischen Scheune, wie wir aus einem Stück roher Marmormasse die für unser erfahrenes Auge schon erkennbare Form meisseln. In dem Moment haben wir gegenüber den anderen kostümierten Gästen gesiegt und verloren in dem Moment, wo sich unser Blick mit dem wahren Künstler trifft.
Aber nicht nur auf Vernissagen trifft man Trittbrettfahrer an. Sie verstecken sich in durchgestylten Bürogebäuden, sie tauchen als spruchreife Ausreden auf, wenn der durch Gänge schlurfende Buchhalter weder einen Satz auf die Reihe kriegt noch über Zahlenflair verfügt, aber mit dem Künstler-Stempel eine ihn fast friedlich anmutende Aura von Akzeptanz umgibt. Oder der Chef, der es schlichtweg nicht im Griff hat, pünktlich den Lohn seiner Untertanen zu bezahlen, weil er sich selber für einen unantastbaren und unerreichbaren Künstler hält. Und er diese Nachricht mit einst gelerntem Marketingflair zur Legende macht, bis er selber wirklich daran glaubt und auf dieser Grundlage seine Marotten züchtet. Das Klischee Künstler, das zum Manierismus verkommt.
Dieses ehrfürchtige Wort „Künstler“ ist ein Phänomen, das sich ausbreitet, ist es einmal verlautbart, bis hin zu den Kreisen, in denen tatsächlich von Kunst die Rede ist. Dass dem auf dem Begriff als Sprungbrett abgehobenen Möchtegern-Künstler keine Beweise abverlangt werden, spricht für die Tatsache, dass ein Künstler auch der sein kann, der keine Werke schafft. Und auch jener, der aus reiner Disziplin unter einer Art Käseglocke Form nach Form erzeugt. Der Ausdruck als Wiederholung eines Glücksmoments, das mit jenem Moment bereits entschwand. Kunst indes hat keine Grenzen. Und nicht weniger als im Angesicht einer erschaffenden Kontinuität, die im Dialog mit dem Ausserhalb steht, kommen mir die grössten Zweifel, ob es sich nicht lediglich um Produktion und Kontaktpunkt, gepaart mit dem fahrlässigen Umgang mit der Figur Künstler, handelt. Der Wahn, der in einer Künstlerseele innewohnt, kann manchmal und oft vor lauter Wollen nicht mehr.
Dem Künstler an der Vernissage sind solche Überlegungen möglicherweise zu anstrengend. Zu sehr nimmt ihn seine Künstlerseele in ihren Gehorsam. Sie verlangt nichts, denn sie ist in ihrem So-Sein gefangen. Sie kann nichts dafür und ist somit nicht schuldig und unschuldig. Erst, wenn der Macher ausbricht und sich in Künstler-Nichtseelen mischt, nimmt die ansonsten leichte Sache einen Weg des Widerstandes. Der Künstler als Seelenzustand – Ruhe in sich gepolt. Zahlreiche Künstler, die ihre Vehikel nicht finden, um sich durchs Werk erkennbar zu machen. Ausserdem Künstler, die durch allzu glatte Umstände im Gesellschaftsrad eine Funktion fanden und davon nicht loskommen, so dass ihre nie alternde Künstlerseele einem kümmerlichen Dasein frönt. Verkannte Künstler und Künstler, die nicht wissen, dass sie Künstler sind…
Auf der anderen Seite die gellenden Künstler, clever und produktiv – die Negativform vom verkanntem Künstler? Ein für mein Empfinden wirklich wahrer Künstler, der Werk und Schaffen nicht aktiv auslebt, sagte mir, dass er einen anderen, in seinen Augen wahren Künstler bewundere dafür, dass jener nichts weiter benötige als fast nichts zu tun – und dieses Fast-nichts mit niemandem zu teilen brauche und dabei eine neutrale Zufriedenheit lebe. Das imponiere ihm – und während er sich seine Pfeife stopfte, sagte er zu mir: „Ist das nicht wunderbar? Ich wäre so glücklich, wenn ich schon dort wäre“. Vielleicht lag es an seinem zerbrechlichen Tonfall und seinem tief sitzenden Verständnis, die mir in jenem Moment die leise Anerkennung weckte, als wäre mein Bekannter da gerade oder überhaupt nicht weniger als eben ein Künstler-Seelenverwandter. Jemand, der nie den Anspruch haben würde, das Wort „Künstler“ für sich zu beanspruchen, weil es zum einen seine Bescheidenheit und Demut nicht zuliessen und zum anderen, weil er das Wort „Künstler“ zu sehr im entwürdigten Status sieht.
Leicht kommen einem die Worte „Künstler“ – ggf. noch mit dem Anhängsel „halt“, das vorflunkert wirklich zu wissen, worum es da gehe – über die Lippen. Worte und Tugenden wie „Ehrfurcht“, „Übermenschliches“, „Sosein“ wirken auf der Zunge plump und pathetisch. Vielleicht deswegen spreche ich lieber von der Künstlerseele. Ich wage zu behaupten, ich hätte es damals gespürt in jenem beinah flüchtigen Moment, als seine eigene über die andere Seele sprach. Als es um das Irgendwo und Irgendwen ging, um das Fast Nichts im Nicht-Dialog mit Niemand. Da war es. Zwischen seinen Worten: wahre Grösse spürbar. Überwältigung schwang mit, die mir die Sprache verschlug und mich augenblicklich klein fühlen liess. Es war ein nicht zu beweisender Beweis, dass auf einmal beide zugegen waren. Oder etwas. Ein kurzes Anleuchten auf ein Dasein fern physischer Grenzen. Künstlerseelen.
Denn es gibt sie wirklich. Und vielleicht ist die Achtung vor dieser nicht in Worten zu fassenden Tatsache ein kleines Verbindungsglied, das filigrane Brücken schlägt zu diesen auf wunderbar geheimnisvolle Weise verborgenen Künstlerseelen.
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Der Faden im Kopf, Aufsätze und Reflexionen von Joanna Lisiak, 2018, mit Illustrationen von Barbara Balzan 236 Seiten, isbn 978-3-74816-716-7
Weiterführend →
Holger Benkel schrieb einen Rezensionsessay über „Der Faden im Kopf„. Lesenswert ist gleichfalls das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verlieh der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.