Ganz oben am letzten Ende der Alm hatte er einen genehmen Patz gefunden, hier konnte er unbeachtet die Wanderer beobachten, der mal mehr, mal weniger entspannten Sprache der Mitmenschen lauschen, ohne auch nur ein Wort zu verstehen. Eher der Melodie ihres Sprechens. Zwischen weich fließendem Singsang und maschinengewehrartigem Stakkato war alles möglich. Insgesamt aber ergab sich eine Symphonie menschlicher Kommunikation. Es schien ihm Idylle pur. Junge Familien mit meist zwei, selten mehr Kindern, vor allem die italienischen imponierten durch die ihnen eigene zur Schau getragene Entspanntheit. Die Männer meist oberkörperfrei, als habe die Welt noch kein Ozonloch gesehen, die Frauen folgend mit Mädchen und Jungen im Schlepptau. Gar nicht so sehr bekleidet, wie man dies im Gebirge immerhin kurz unterhalb der Felsen vermuten würde. Zwar hat sich auch bei dem Letzten inzwischen herumgesprochen, dass festes Schuhwerk wohl von Vorteil gegen Umknicken ist und man sieht nur noch selten Flipflops dort oben, gerade auf den unebenen Strecken, die auch in Zukunft hoffentlich nicht asphaltiert werden. Doch an allen Ecken sieht man auch hier Turnschuhe auftauchen, Halbschuhe wohlgemerkt. Nur eine Frau mit hochhackigen „Pömps“ hat es hierher geschafft. Eine solche Leistung müsste eigentlich hoch ausgezeichnet werden. Man kann sich den Balanceakt gar nicht groß genug ausmalen. Etwas abseits sitzt ein echter Einzelkämpfer des Alpinraums, ausgestattet mit den besten Kletterklamotten der bekanntesten Firmen. Auf dem Kopf ein breitrandiger Schattenwerfer, das Gesicht ziert eine sehr dunkle Sonnenbrille. Nein, es handelt sich nicht um Chuck Norris, aber eben ein echter Almabenteurer. Die Hose hat natürlich schwarze Abnäher an den Knien. Graue Haare lugen leicht strähnig unter dem Hut hervor. Die Oberlippe ziert ein weißer, streng wirkender Bart. Zunächst wirkt er mit seinem gesenkten Kopf schlafend oder zumindest dösend, vielleicht auch in Tiefenmeditation vor dem beschwerlichen Aufstieg versunken, Ja, echte buddhistische Zazenmeister können zu jeder Zeit und an jedem Ort die höchste Stufe der völligen geistigen Leere erreichen. Bei genauer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass er lediglich sein I-phone beschattet und offenbar fleißig Nachrichten über Geleistetes in alle Welt verschickt.
Am Nachbarplatz trifft ein Pärchen vom Zeltplatz ein. Heute scheinen die beiden ihre Räder unten gelassen zu haben. Sie sind zügigen Schrittes angekommen, fragen andere Italiener nach dem richtigen Weg. Eine lebhafte, offen Sympathie bekundende Unterhaltung entspannt sich. Die Männer holen geschäftig ihre Wanderkarten heraus und vergleichen mit Zeigefingern ihre Streckentheorien. Die Damen der Schöpfung plaudern freundlich, als würden sie sich seit Jahren kennen, vielleicht sogar Jahrzehnten. Diese Form des freundlichen, aber völlig nichtssagenden Smalltalks, der so verbindlich erscheint, ist beiden nur zu sehr vertraut. Als das Gespräch wegen Einmischung der Männer immer lauter wird, weiß Herr Nipp, dass der Höhepunkt erreicht ist, die Verabschiedung bevorsteht. Man tauscht Grußformeln und jede Gruppe geht ihres Weges. In über zweitausend Metern Höhe ist jeder dem anderen Freund, auf bestimmte Weise, sollte es zumindest sein. Wahrscheinlich werden sie sich nie wieder sehen, aber das ist jetzt egal. Herr Nipp ist klar, sie waren Freunde, für einige Minuten zumindest, Verschworene in einer Zeitblase. Das ältere Pärchen setzt sich nach wenigen Schritten unvermittelt nieder. Sie beginnt eine atemlose Rede. Ja, auch hier ist jeder und zu jeder Zeit telefonisch erreichbar.
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Weiterführend →
Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
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