Borges’ Erzählung Der Süden (El Sur) gelesen.

 

Der Bibliothekar Juan Dahlmann hat deutsche und argentinische Wurzeln. Besonders stolz ist er auf seine argentinischen Vorfahren mütterlicherseits. Zu seinen Erbstücken zählt eine Farm, die Dahlmann noch nie aufgesucht hat. Im Februar 1939 ersteht Dahlmann ein Exemplar von Tausendundeine Nacht. Er will das Buch so schnell wie möglich lesen und rennt er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, er stößt sich dabei den Kopf an einem frisch gestrichenen Fensterflügel. Er wird in ein Krankenhaus eingewiesen, wo er sich dem Tode nahe wähnt.

Nach einigen Tagen wird Dahlmann entlassen. Er entschließt sich, seine Farm zu besuchen, um sich dort zu erholen. Auf dem Land angekommen, geht er als erstes in ein Restaurant, wo er die „Geschichten aus tausend und einer Nacht“ liest. Ihm gegenüber sitzen drei betrunkene Landarbeiter. Sie bewerfen ihn mit Brotkrumen. Dahlmann ignoriert dies zunächst. Doch die Betrunkenen bewerfen ihn erneut und lachen. Schließlich stellt Dahlmann sich den Störenfrieden entgegen. Als einer der Landarbeiter sein Messer zieht, wirft ein alter Gaucho Dahlmann einen Dolch zu. Trotz der Beschwichtigungsversuche des Restaurantbesitzers und wissend, dass er, der noch nie mit einem Messer gekämpft hat, keine Chance besitzt, verlässt Dahlmann das Lokal, um sich zu duellieren.

Borges spielt alle drei Typen der Fokalisierung abwechselnd durch. Zudem sorgt die Erzählsituation des unzuverlässigen Erzählers zusätzlich für Verwirrung. Die Erzählung ist problematisch konzipiert, sodass die Geschichte keine eindeutige Auflösung hat. So gibt es mehrere Interpretationsversuche: Der Protagonist Dahlmann stirbt bereits im Krankenhaus an der Blutvergiftung. Die weitere Handlung spielt im Jenseits. Dahlmann befindet sich im Delirium, das Duell symbolisiert den Kampf um Leben und Tod gegen seine Krankheit.

Borges behauptet und rühmt sich, drei Geschichten in einer Erzählung geschrieben zu haben. Das tat und tut aber so mancher Belletrist permanent, das ist nun wirklich nichts Neues oder Außergewöhnliches:  Parodie, reale Handlung des Ganzen und interpretatorische Ebene. Borges gibt an, die zweite Hälfte seiner Erzählung könnte man als Traum vom Sterben bei der Operation lesen. Andere Interpretationen sind möglich, etwa: Dahlmann, eine Art Anti-Held der Innerlichkeit, rechnet mit sich selbst ab, das Ende (show down) ist offen … 

Ist die Erzählung eine Vorstufe zum Magischen Realismus? Auch hier will ich einschränkend bemerken, dass es derlei ‚magische’ Erzählmomente oft gibt, auch in der europäischen Literatur. Ich dachte sofort an Thomas Manns Zauberberg, das Schnee-Kapitel (und nicht nur dieses Kapitel, sondern der ganze Roman). Auch Doktor Faustus … Hesses Steppenwolf … Oder Kafkas Erzählungen … In den genannten Werken, auch bei Borges, sind die Grenzen zwischen Surrealismus, magischem Erzählen (und Expressionismus) fließend. Nun gut, für die südamerikanische Literatur war Borges offenbar stilbildend.

Der Süden (El Sur), der wohl wichtigste Text in Borges’ Ficciones  ist eine bemerkenswerte Erzählung, sie gefällt mir. Sie scheint auch vorzüglich übersetzt zu sein. Und die ironisierenden (parodierenden) Momente der Erzählung sind amüsant. Alles in allem: ein komplexes polysemantisches Ganzes aus einem Guss.

 

 

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Jorge Luis Borges, 1969

Jorge Francisco Isidoro Luis Borges Acevedo wurde vor 100 Jahren 1899 in Buenos Aires geboren. Er verfasste eine Vielzahl phantastischer Erzählungen und Gedichte und gilt als Mitbegründer des Magischen Realismus.

Literarisch beeinflusst wurde Borges vor allem von Macedonio Fernández, Rafael Cansinos Assens, englischsprachiger Literatur (Walt Whitman, Gilbert Keith Chesterton, George Bernard Shaw, Thomas De Quincey), Franz Kafka und dem Daoismus. Seine philosophischen Anschauungen, die dem erkenntnistheoretischen Idealismus verpflichtet sind und sich in seinen Erzählungen und Essays wiederfinden, bezog Borges vornehmlich von George Berkeley, David Hume und Arthur Schopenhauer. Mit dem argentinischen Schriftsteller Adolfo Bioy Casares verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Borges war Mitbegründer der „lateinamerikanischen Phantastik“ und einer der zentralen Autoren der von Victoria Ocampo und ihrer Schwester Silvina 1931 gegründeten Zeitschrift Sur, die sich dem kulturellen Austausch zwischen Lateinamerika und Europa widmete.