Der Rundfunk hat die Literatur zu einem stummen Gebiet gemacht.
Alfred Döblin, 1921
A.J. Weigoni erlag der Faszination des Mediums Radio in seinen Kindertagen, als der Rundfunk zu einem Zauberinstrument des Wortes wurde, zur akustischen Probebühne der Poesie, zum Atem der Vernunft. Er saß vor einem Rundfunkempfänger mit „Tigerauge“ wie vor einer Kultstätte und vergaß, als er vor dem Lautsprecher saß, die Apparaturen und Stationen. Das Medium Radio erlebte er als zauberhaft und seine Unmittelbarkeit als bestechend. Wenn er den Empfang optimieren wollte, mußte er nur geradewegs ins magische Auge des Empfangsgeräts schauen, das aufging oder sich schloß, wie eine sogenannte Abstimmanzeigeröhre, welche die Stärke des Signals veranschaulichte. Der Himmel war nicht nur der Himmel der Erde, sondern auch das Firmament der Kunst.
Wer der akustischen Komplexität literarischer Texte gerecht werden will, sollte Literatur auch in ihrem gestalterischen Potential ernstnehmen.
Auf Vermittlung von Hubert Winkels trafen sich A.J. Weigoni und Frank Michaelis. Die Kunstakademie hatte sich als installativer Diskursraum auf die Ratinerstraße ausgedehnt. Als künstlerische Grenzgänger betreiben A. J. Weigoni und Frank Michaelis mit der Literatur, in einem hocharbeitsteiligem Virtuosentum mit den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Diese Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, sie haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, der Verbindung von Melodie und Experiment, der Offenheit und das In-der-Schwebe-Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen, eine Bricolage aus Pop-Klischees und Erwartungen. Weigoni ist ein Experimentierer, der in einem Übermut seine Fähigkeiten durchprobierte, eine nach der anderen, wie während eines rauschhaften Testlaufs. Das Wort Vera leitet sich vom Wortstamm Wahrheit ab. Der Zyklus VERA STRANGE TAPES ist eine Hommage an die Kassette und ästhetische Erwiderungen zu Rap, Reggae und rheinischem Karneval. Unter the last pop-songs formierten sich 1989 Kurzhörspiele die sich tanzen lassen zu einem luziden Klanggewitter. Die Artisten bedienten sich rigoros aus dem Arsenal der Rockmusik und machen deren Zeichen zu ihren eigenen. Eines der vielen Faszinosa an diesen Popsongs ist ihre tendenzielle Unabgeschlossenheit, welche die Hörer sofort zur interaktiven Ergänzung animiert.
Life is Xerox. You’re just a copy
Die Geschichte der Fotokopie begann mit der Geschichte der Fotografie. Um 1906 wurden zwei Fotokopierer auf den Markt gebracht. Diese Geräte wurden unabhängig voneinander auf den Markt gebracht, das eine war das Fotostatgerät, das andere das Rektigraphgerät. In der Rückschau auf die Elektrografie lassen sich diese Entwicklungslinien nachzeichnen. Mit dem Kopierer wurde in den 1990-ern die Textur der Elektronik erkundet und sich auf die Suche nach Bildern begeben, die man sich selbst nie hätte ausdenken können. Gerade aus Unfällen entstand vieles, was sich erst im Netz durchgesetzt hat. Nicht der Mensch ist kreativ, sondern die Fusion aus Mensch/Maschine findet wie von selbst ihre Bilder und ihre Sprache. Den Abschied vom Schöpfergenius haben Copy-Art-Künstler wie Klaus Urbons vorweg gedacht. Den Weg vom automatischen Fotokopierer zur Elektrografie, die künstlerischen Anwendung als Copygraphy, Copy art + Electrography, die Differenz zwischen analogen und digitalen Bildern, beschreibt deer Hörfilm Das kleine Helferlein von A.J. Weigoni, feat. Klaus Urbons. Er ist er erschienen als Compact Cassette bei instant music, D-Dorf, 1990
Poetische Performance
Man kann sich die Zusammenarbeit von Weigoni und Michaelis als ähnlich glückliches Produktionspaar vorstellen wie sonst nur noch Lennon / McCartney oder Marx / Engels. Ihrer Studioarbeit liegen umfangreiche poetische Performances zugrunde, die u.a. mit dem Life-Mitschnitt Amaryll dokumentiert sind. Bei dieser Aufnahme ist die wunderbare Akustik der romanische Kapelle Drüggelte zu hören, die auf einem Plateau zwischen Haarstrang und Möhnetal, nahe der Möhnetalsperre, steht. Als zwölfeckiger Zentralbau wurde die Kapelle vermutlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut. Von außen wirkt die Kapelle recht unauffällig: Ein polygonaler Zentralbau mit zwei sichtbaren Anbauten (Vorhalle und Apsis), abgeschlossen von einem schiefergedeckten Dach, bekrönt von einem kleinen Glockentürmchen. Beim Betreten der Kapelle wird die Besonderheit des Bauwerks sichtbar. Insgesamt 16 in zwei Ringen angeordnete Säulen tragen die Decke des nur etwa 11 m im Durchmesser messenden zwölfeckigen Raumes. Der äußere Säulenkranz besteht aus 12 Säulen. Auf schmalen Pilaster und ebendiesen Säulen ruht ein Kreuzgewölbe. Der innere Kranz besteht aus zwei Säulen und zwei deutlich dickeren, gemauerten Pfeilern. Zwischen dem ersten und dem zweiten Säulenkranz ist ein Tonnengewölbe gespannt, in das die Stichkappen des Kreuzgewölbes einschneiden. Die vier Innensäulen tragen ein kleines Kuppelgewölbe, in dem eine Klappe den Zugang zum Dachboden bildet. Der Klang der Kapelle gab der Rezitation einen Nachhall, den Weigoni durch ironische Brechungen vor dem weihevollen bewahrt.
Hörspiel-Live im Gutenbergmuseum
Mit Live-Hörspiel verbindet man immer noch Orson Welles CBS-Live-Thriller Krieg der Welten. Die Ansprüche an das heutige Hörspiel schienen lange Zeit unabhängig vom Genre in Anspruch und Produktionsweise kaum mehr für den Live-Auftritt geeignet. Dennoch gibt es einen Gegentrend: Qualität in Wort und Regie zeigte die Uraufführung im Gutenbergmuseum zu Mainz, ein Hörspiel, das sich Gedanken macht über die veränderten Wahrnehmungen durch eine von Medien dominierte Welt. Das Live-Hör-Spiel 5 oder die Elemente verdankt seine Wirkung vor allem den darstellerischen Fähigkeiten von Kai Mönnich und Marion Haberstroh, die sowohl exzellente Sprecher, als auch äußerst wandlungsfähige Schauspieler sind. Bravourös meistern sie die Klippen der komplexen Textcollage, verschmelzen philosophische Reflexionen, Streitgespräche und lyrische Passagen zu einer Einheit, die das Publikum bald in ihren Bann zieht. Eine Rolle leben und erleben ist für Kai Mönnich das Ziel seines Schaffens. Unprätentiös, aus der emotionalen Welt agierend und der Spur der inneren Logik seiner Figuren nachfolgend, landet Kai Mönnich in den Herzen der Zuschauer.
Diese Aktivitäten konnten nicht lange verborgen bleiben und so entstanden im Laufe der Jahre auch Hörspiele für das DeutschlandRadio, den ORF und den WDR. So ein weiteres Live-Hörspiel mit Oden an die Zukunftsseelen zum 100. Todestag von Sisi, Kaiserin von Österreich.
Das Aufnahmestudio als Klanglabor nutzten
Jede Generation hat eine eigene Vorstellung davon, was ein Album ist, ihnen ist die Erzählung am Wichtigsten, das Tonträgerformat ist eine Limitierung. Der erste Schriftsteller, der den künstlerischen Wert der CD erkannte war A.J. Weigoni. In 1991 produzierte er mit dem Komponisten Frank Michaelis die LiteraturClips auf CD (der Claim Hörbuch war noch nicht abgesteckt) realisierte, und das für das Label Constrictor, weil die großen Verlage weiterhin die Compact Cassette für das Medium der Zukunft hielten. Es gibt nicht wenige, die haben Weigoni für verrückt gehalten.
Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten.
Diese Titelgebung ist reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der Pop-Literatur. Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen oder ignorieren. Eine Konfrontation der Ästhetiken der digitalen Medien mit dem Kassettenuntergrund erweist zweierlei: Zum einen, daß das Pensum, das eine digitale Ästhetik für sich reklamiert, bereits von den avancierten Werken der Analogepoche überboten wurde, zum andern, daß die Theoretiker einer digitalen Ästhetik die Entwicklung der Technologie notorisch einem ästhetischen Fortschritt gutschreiben. Die Stichworte dieser Fortschrittsvorstellung sind allzu bekannt: Interaktivität, Synergie von Mensch und Maschine, Ende der Gutenberg–Galaxis. Wie einst die politischen Losungen ihre Weihe aus einem Erlösungspathos bezogen, so eignet auch den Verheissungen der Ästhetiker des Digitalen ein quasi-religiöses Pathos. Die Erfindung des LiteraturClips war nicht eine einzelne große Erfindung, sondern die Konvergenz vielfacher und zuweilen auch erfolgloser Schritte der Zuhandenheit. Somit kommt diesen „Hörbuchpionieren das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben“ (lyrikwelt.de). Eitelkeit scheint ihnen ob dieses literaturhistorischen Beitrags fremd, es sei denn, es gäbe eine Eitelkeit des uneitlen Betragens. Das ganze Gewese des deutschen Literaturbetriebs und der Wortverwertungsindustrie prallt an ihnen ab.
Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.
lyrikwelt.de
Als Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 seine LiteraturClips auf CD (der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. 1995 begann ihre Zusammenarbeit, die mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluß findet, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebiert oder bei dem zweiten Monodram Unbehaust eine Klang-Collage aus Papiergeräuschen anfertigt. Weigoni schält die Klänge aus den Wörtern, er bewegt sich auf Gedichte in der Intermedialität von Musik und Dichtung und sucht mit atmosphärischem Verständnis die auditive Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!
Ein redaktioneller Nachtrag:
Obzwar Weigoni seit 2013 nicht mehr aufgetreten ist, hat er in Zusammenarbeit mit Tom Täger mit 630 eine letzte „Lesung“ gemacht. Aus einem musikalischen Einfall heraus entwickelt Tom Täger ein 24-teiliges Stück. Der Hörspielkomponist verarbeitet das Thema dabei unterschiedlich, in Sequenzen, Transpositionen und Diminutionen kommen seine Inventionen zu den Vignetten daher. Der Klang der Fremde trifft auf den Verlust von Erinnerung. Kontraste sind für Täger selbstverständlich, die schwelgerische Melancholie gedeiht direkt neben krassen Dissonanzen, und die Intensität des Schrillen verstärkt diejenige des Stillen. Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien. Wie sich der Klang an den Rändern zum Verstummen bewegt, wird das Reisen, und sei es eines in die Wüste des versehrten Ichs, zu einem Akt der Vergeblichkeit, die Kreisbewegung führt zum Verlust von Verankerung und Identität. Die Vertonung Tägers fügt – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Oft gibt es das Missverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. In der Hörspielmusik dieses Soundtüftlers gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da unentwegt ein Energiefluss spürbar, es brodelt etwas.
Bei 630 möchte man jedem einzelnen Wort hinterher lauschen. Hier entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist.
A.J. Weigoni spürt der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach. Dieser Sprechsteller gibt der Sprache einen Körper, verleiht ihr Gestalt und Kontur, er gehört damit zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Rezitator verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philosophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts. Jedes Kapitel für sich genommen, ist ein kleines Kunststück der Verdichtung.
Weiterführend →
→ Eine Werkübersicht über die akustische Kunst von A.J. Weigoni finden Sie in der Reihe MetaPhon.
→ Alle Gedichtbände von A.J. Weigoni sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch Gedichte in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.
→ Auch die Prosa von A.J. Weigoni ist in einem Schuber erhältlich. Und nur darin enthalten ist das Hörbuch 630 und der Band Vorlass.