Über Analyse und Interpretation

 

Analysieren ist Beschreiben ist zugleich immer auch Deuten. Ohne Deutung keine Analyse, ohne Analyse keine angemessene Deutung.

Interpretieren (Deuten) bedient sich der Analyse als einer Magd; dabei ist die Methode der Analyse nie starr, sondern stets auf (oft mehrere) denkbare Verstehens- und Deutungsansätze ausgerichtet. Auch die Analyse, die vorgibt, zunächst nicht auf Deutung ausgerichtet zu sein, unterliegt der dialektischen Zusammengehörigkeit von Interpretation und Analyse.

Interpretation ist stets ein individueller Verstehensakt, der Konsens anstrebt, hierbei leistet die Analyse wichtige Hilfsdienste als Methode für das Nachweisen, Belegen, Begründen, Verdeutlichen, Erläutern und Herstellen von textinternen und textexternen Bezügen.

Die Analyse ermöglicht eine teilweise Überprüfung der Deutungsmöglichkeiten am Text, vor allem in Bezug auf die Stimmigkeit der Deutung für den ganzen Text.

Deutung ist angewiesen auf Erfahrungen des Lesers in der Welt und mit Texten.

Das Werk steht in einer archäologischen Beziehung zum Schöpfer, etwa: Wann, warum, wo, wie, wozu hat der Autor einen Text geschrieben – diese Fragen sind natürlich für den Leser oft interessant, aber keine unbedingte Voraussetzung, denn der Leser kann den Text auch aus seiner eigenen Lebenswirklichkeit heraus deuten und zu Deutungen gelangen, die für ihn allein, manchmal auch für viele gültig sein können.

Ein Werk hat also vom Autor unabhängige Bedeutungen und Wirkungen.

Es gibt nichts Festes. Alles ist im Fluss. Die einzig adäquate Analyse ist eine Fiktion. Das Gleiche gilt für die Interpretation. Der Wunsch nach einer idealen Interpretation, die für immer Gültigkeit besäße, wäre der Tod der Literatur und des Denkens. Damit wird der Deutungsbeliebigkeit keineswegs das Wort geredet. Die (analytische) Absicherung einer Deutung am Text und die Überprüfung der Gefühle, Assoziationen und Intuitionen des Lesers im Diskurs mit anderen Lesern ist eine notwendige Methode. Hierbei kann die Literaturwissenschaft Wichtiges beitragen; sie ist jedoch nicht der höchste Richter.

Dichtung intendiert oder ermöglicht unabsichtlich Polyvalenz – wäre sie auf Analyse hin geschrieben, wäre sie als etwas Sekundäres, Minderes zu verwerfen. Analyse will Gewissheit, die letztlich nicht zu haben ist und gar nicht primär erstrebenswert ist. Analyse strebt danach, primär zu sein, sie enthält eine zerstörerische Tendenz, wenn sie alles zu rationalisieren versucht. Literarische Werke sind ihrem Selbstverständnis nach keine Rätsel im Sinne naturwissenschaftlicher Phänomene, deren Gesetze vollständig zu entdecken wären.

Im Analysieren liegt das a priori zum Scheitern verurteilte Bestreben, die Welt rationalistisch zu begreifen und dem Willen zu unterwerfen. Der Interpret lässt der Dichtung ihre Autonomie, ihr Primärsein, ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Geheimnisse, die er nur ahnend lüftet, ihren Zauber, den er fühlend und vergleichend zu begreifen sucht. Der interpretierende Leser wird im Prozess seines Verstehens gleichsam selbst zum Dichter, wenigstens zum Nachdichter, er weiß, dass es keine eindeutige Übersetzung des Gelesenen gibt.

Wahrscheinlich wollen aber Analytiker wie Interpreten am Ende das gleiche Ziel erreichen – eine Art von Übersetzung eines literarischen Textes in einen anderen Text im weitesten Sinne des Textbegriffs, welche möglichst viele andere akzeptieren. Dabei ist der Analytiker vorsichtiger, auf Sicherheit bedacht; der Interpret kühner, unsicherer. Sie gehören beide zusammen. Der Leser, der die Schizophrenie von Analyse und Deutung in sich selbst annimmt, überwindet alle drei Aspekte: Er überwindet die Analyse, er überwindet die Deutung und er überwindet das Bewusstsein, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Er findet zur dialektischen Einheit, wenn er das Rationale und die Intuition, Form und Inhalt, Absicht und Zufall, Idee und Sprache als verschiedene Seiten eines Werks in ihrer gegenseitigen Bedingtheit versteht. Wenn dem Leser diese Synthese gelingt, wird er selber zum Dichter.

 

 

Weiterführend →

Ulrich Bergmann nennt seine Kurztexte ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Wir präsentieren auf KUNO eine lose Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente. Lesen Sie zu seinen Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel. Eine Einführung in seine Schlangegeschichten finden Sie hier.