Über die Allegorie

 

Als Philomele ihrer Zunge beraubt war, webte sie die Geschichte ihrer Leiden in ein Gewand und schickte es ihrer Schwester, welche, es auseinanderhüllend, mit furchtbarem Stillschweigen die gräßliche Erzählung las.

Die stummen Charaktere sprachen lauter als Töne, die das Ohr erschüttern, weil schon ihr bloßes Dasein von dem schändlichen Frevel zeugte, der sie veranlaßt hatte.

Die Beschreibung war hier mit dem Beschriebenen eins geworden – die abgelöste Zunge sprach durch das redende Gewebe.

Jeder mühsam eingewürkte Zug schrie laut um Rache und machte bei der mitbeleidigten Schwester das mütterliche Herz zum Stein. Keine rührende Schilderung aus dem Munde irgendeines Lebendigen konnte so wie dieser stumme Zeuge würken.

Denn nichts lag ja dem Unglück der weinenden Unschuld näher und war so innig damit verwandt als eben dies mühsame Werk ihrer Hände, wodurch sie allein ihr Dasein kundtun und ihre Leiden offenbaren konnte.

Eben darum konnte es seiner schrecklichen Wirkung nicht verfehlen.

So war dem unglücklichen Weibe des Collatinus nichts näher als ihr Gatte und ihr Vater selbst, welche durch die bloße Erzählung ihres beweinenswerten Schicksals ein ganzes unterdrücktes Volk gegen die Macht der Tyrannei empörten und die erloschne Freiheitsliebe in aller Busen wieder weckten. Mit seiner eignen unschuldigen Tochter Blut bespritzt, durfte Virginius nur den Mund eröffnen, um alles zur lebhaftesten Teilnehmung an seiner Erzählung hinzureißen – nur durch die einfachste Beschreibung der jammervollen Szene konnte er dasselbe Volk noch einmal bewegen, das Joch der Knechtschaft von sich abzuschütteln.

Eben das nahe Band, welches den überlebenden Gatten und Vater an jenes Schlachtopfer der willkürlichen Herrschaft knüpfte, machte, daß die Erzählung zugleich mit der erzählten Sache auf die Gemüter würkte und bis ins Innerste sie erschütterte.

Denn aus den teuren Überlebenden flehte der Mund der Toten selbst die menschliche Natur um Mitleid an.

Aber wer kann dem Vater, wer dem Gatten nacherzählen? – Wer so rührend Philomelens Unglück schildern als das Tuch, worin sie selbst es würkte.

Daß sie es in dies Tuch würkte, macht ja selbst den rührendsten Zug in der Schilderung ihrer Leiden aus.

Und die Beschreibung durch Worte muß sich hier begnügen, das bloß anzudeuten, was durch sein Dasein selber mehr als Worte sagt. Wer den Schmerz des Virginius würdig beschreiben wollte, müßte entweder wie der Schauspieler streben, auf eine Zeitlang durch ein künstliches Vergessen seiner selbst und durch das darstellende Mitgefühl fremder Leiden soviel wie möglich selbst wieder dieser Virginius zu sein. Oder er müßte wie der bildende Künstler einem der fliehenden Momente Dauer geben, welcher deswegen am stärksten die Seele erschütterte, weil in allem, was in ihm auf einmal sich dem Auge darstellt, immer eines durch das andere, so wie das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird.

Der Geschichtsschreiber hebt durch die einfache Erzählung des Vorhergehenden und Nachfolgenden einen solchen Moment heraus, durch die simple Erwähnung der Umstände, welche die Begebenheit veranlaßten, durch die Beschreibung desEindrucks, welchen der Anblick dieser Szene auf die Gemüter machte, und der wichtigen Folgen, welche dieser Eindruck nach sich zog.

Durch die Hand des bildenden Künstlers dargestellt, kann Prokne von dem aufgerollten Gewebe ihrer Schwester auf den neben ihr stehenden schmeichelnden Knaben einen Blick werfen, der den gräßlichen Vorsatz ihrer Seele schon in dem ersten Augenblick seiner Geburt enthüllt.

Das Vorhergehende und Nachfolgende dieses Moments, insofern es noch durch Worte bezeichnet wer den kann, bestimmt für die Imagination des bildenden Künstlers den Ausdruck, der nun über allen fernern Ausdruck durch Worte erhaben ist, welche eben da aufhören müssen, wo das echte Kunstwerk anfängt. Denn darin besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Teil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt – und also außer dem bloß andeutenden Fingerzeige auf den Inhalt keiner weitern Erklärung und Beschreibung mehr bedarf.

Sobald ein schönes Kunstwerk außer diesem Fingerzeige noch einer besondern Erklärung bedürfte, wäre es ja eben deswegen schon unvollkommen: denn das erste Erfordernis des Schönen ist ja eben seine Klarheit, wodurch es sich dem Auge entfaltet.

Das in die Hülle der Existenz gleich dem elektrischen Funken verborgne Schöne findet allenthalben statt und dient der häßlichsten Oberfläche sehr oft zur Unterlage – wo also die Kunst es auf der Oberfläche darstellen will, muß sie es auch notwendigganz entwickeln und es gleichsam aus sich selbst enthüllen.

Wo dann das echte Schöne sich uns entfaltet, da ist es durch sich selbst die vollkommenste Erklärung der Vollkommenheit, die, im Innern der Natur verborgen, unter tausend Gestalten lauscht und mehr oder weniger sich unserm Blick entzieht.

Es ist eine deutliche Beschreibung dessen, was unserer Sterblichkeit nur dunkel ahndet.

Das Licht, worin sich uns das Schöne zeigt, kömmt nicht von uns, sondern fließt von dem Schönen selber aus und verscheucht auf eine Weile die Dämmerung um uns her.

Darum fühlen wir beim Anblick des Schönen unser Herz und unsern Verstand erweitert, weil uns etwas von demjenigen sichtbar und fühlbar zu werden scheint, was immer unsern forschenden Gedanken sich entzieht, welche durch die schwachen Laute der Sprache nur mühsam ihren Kreislauf beschreiben und immer da in sich selbst wieder zurückfallen, wo sie ihren höchsten Gegenstand zu erreichen hofften.

Je mehr wir nämlich überhaupt beim Anblick der Natur die Ursach in ihrer Wirkung, das innere Wesen der Dinge in ihren äußren Formen und Gestalten lesen, um desto befriedigter fühlen wir uns, und um desto vollkommner scheint uns das zu sein, was durch seine äußere Form zugleich sein inneres Wesen uns enthüllt.

Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwohnende Vollkommenheit der Natur am deutlichsten durch ihre zarte Oberfläche schimmern und uns wie in einem hellen Spiegel auf den Grund unseres eigenen Wesens durch sich schauen läßt.

Die Nacktheit selber, welche jeden Mangel aufdeckt und jedes andere Tier entstellet, ist bei dem Menschen das höchste Siegel der Vollendung seiner Schönheit, die allein ihrer Blöße sich nicht schämen darf, sondern wie die Wahrheit keinen andern Schmuck als sich selber kennt. Denn die Nacktheit selbst entsteht ja aus der vollkommensten Bestimmtheit aller Teile, wodurch alles Zufällige von der vollendeten Bildung ausgeschlossen wird und nur das Wesentliche auf der Oberfläche erscheint.

Sobald die Bildung nicht in allen Teilen so vollkommen bestimmt und vollendet ist, daß sie das innre Wesen des Gebildeten allenthalben auf seiner Oberfläche durchschimmern läßt, findet auch bei der Entblößung keine eigentliche Nacktheit statt.

Denn die letzte ins Auge fallende Oberfläche ist alsdann immer selbst schon wieder eine Art von Bekleidung, die das innere Wesen uns verdeckt – eben weil alsdann die Bildung nicht vollkommen bestimmt und in sich selbst vollendet ist, sondern durch den Auswuchs von Schuppen, Haar und Federn gleichsam über sich hinausgeht – und eben dadurch immer mehr an Schönheit und Bedeutsamkeit verliert, bis sie zuletzt in dem unbestimmtesten Wachstum der Pflanze die harte Rinde um sich herzieht, die den Schatz von Vollkommenheit, den sie umschließt, am neidischsten unserm Blick entzieht. So wie sich nämlich mit der zunehmenden Bestimmtheit alles Ungebildete dem Gebildeten nähert, so nähert sich auch mit der zunehmendenZufälligkeit das Gebildete immer mehr dem Ungebildeten.

Denn der Begriff des Unorganisierten ist mit dem Begriff des Zufälligen unzertrennlich verknüpft.

Der Tropfen fällt dem Tropfen, der Staub dem Staube zu – aber das Gebildete fällt nicht zu sich selber, sondern ist nur insofern gebildet, als es durch die Bestimmtheit seiner Form sich aus seiner nächsten Umgebung sondert und das Zufällige von sich ausschließt.

Das Unorganisierte hingegen, welches dem Unorganisierten zufällt, wird ungehindert mit ihm eins und zieht es mit sich zu Boden.

Der Regen strömt in Tropfen, in Flocken fällt der Schnee herab, die zueinanderfallend in eine Masse sich verlieren.

Die Zufälligkeit seiner Bildung drückt den harten Stein zur Erde nieder, und die Bestimmtheit ihrer Form treibt die Pflanze aus dem Schoß der Erde empor.

Mit dem ersten Anfange der Bestimmtheit und mit der schwächsten Ausschließung des Zufälligen tritt das Wachstum in die zarte Pflanze, wodurch sie in Blättern und Zweigen sich selbst verjüngt und ihre erste einfachste Organisation so oft wiederholt, als ihr Wachstum dauert.

Mit der völligen Bestimmtheit der Bildung und Ausschließung alles Zufälligen durch das notwendige Beisammensein zweier symmetrischen Hälften tritt die Bewegung in den Embryo, der sich den Fesseln seiner nächsten Umgebung entwindet, eben weil er durch die Ausschließung alles zur Erde drückenden Zufälligen seinen eigenen Schwerpunkt und die Achse seines Umdrehens in sich selber hat.

Und mit der allervollkommensten Bestimmtheit in der Gestalt des Menschen, die bis auf die feinsten Züge sich erstrecket, tritt endlich in dem beweglichsten Teile des Organs die redende Stimme selbst ein, welche als das Resultat der vollkommensten Bestimmtheit nun alles übrige selbst wieder in der Natur bestimmt und durch das Wort ihm seine Grenzen vorschreibt.

Je mehr auf die Weise aus der harten, umgebenden Hülle das Zarte, Bewegliche sich entwickelt, um desto redender und bedeutender wird es durch sich selber – bis dahin, wo die allerzarteste Beweglichkeit in dem eigentlichen Werkzeuge der Sprache selbst zur Sprache wird.

Denn da, wo Mund und Wange lächeln, muß auch die Zunge verständlich reden.

Eintönig rauschen die Blätter des Baumes, vom Winde hin und her bewegt.

Die Nachtigall singt auf seinen Zweigen ihr mannigfaltiges Lied –

Indes der junge Schäfer, an seinen Stamm gelehnt, den Namen der Geliebten mit Entzückung ausspricht oder mit scharfer Spitze der wachsenden Rinde ihn einverleibt.

Dieser unabänderliche Name belebt alle übrigen Laute seines Mundes, welche mit den abwechselnden Bewegungen seiner Seele gleichen Schritt halten und mit der schwellenden Empfindung seines Busens steigen und fallen.

Und ist es nicht derselbe Hauch der Luft, welcher in den Blättern des Baumes rauscht, in der Kehle der Nachtigall zu schmelzenden Tönen und auf der redenden Lippe des Menschen zum verständlichen Laut sich bildet?

So ist nun bei dem bloß Wachsenden nichts als seine Bildung, bei dem Lebenden und Atmenden Bildung und Bewegung, bei dem Lebenden und Denkenden aber Bildung, Bewegung und Laut bestimmt – wodurch das Ganze in Harmonie sich auflöst – das Umfassende, sich wieder selbst umfassend, mit leisem Tritt auf seiner Umgrenzung wandelt – und mit dem aufmerksamen Ohre von der äußersten Zungenspitze seines Wesens Widerhall vernimmt.

Hier ist es also, wo Bildung und Laut sich scheiden. – Durch das redende Organ beschreibt die menschliche Gestalt sich selber in allen Äußrungen ihres Wesens – da aber, wo das wesentliche Schöne selbst auf ihrer Oberfläche sich entfaltet, verstummt die Zunge und macht der weisern Hand des bildenden Künstlers Platz.

Denn da, wo das denkende Gebildete in den äußersten Fingerspitzen sich in sich selbst vollendet, vermag es erst das Schöne unmittelbar wieder außer sich darzustellen. – Indes die Zunge, durch eine bestimmte Folge von Lauten jedesmal harmonisch sich hindurchbewegend, nur mittelbar das Schöne umfassen kann, insofern nämlich die mit jedem Worte erweckten und nie ganz wieder verlöschenden Bilder zuletzt eine Spur auf dem Grunde der Einbildungskraft zurücklassen, die mit ihrem vollendeten Umriß dasselbe Schöne beschreibt, welches, von der Hand des Künstlers dargestellt, auf einmal vors Auge tritt.

Worte können daher das Schöne nicht eher beschreiben, als bis sie in der bleibenden Spur, die ihr vorübergehender Hauch auf dem Grunde der Einbildungskraft zurückläßt, selbst wieder zum Schönen werden.

Dies können sie aber nicht eher werden als auf dem Punkte, wo die Wahrheit der Dichtung Platz macht und die Beschreibung mit dem Beschriebenen eins wird, weil sie nicht mehr um des Beschriebenen willen da ist, sondern ihren Endzweck in sich selber hat; und also auch nicht ferner dazu dienen kann, uns eine Sache kenntlich zu machen, die wir noch nicht kennen, indem unsre ganze Aufmerksamkeit mehr auf die Beschreibung selbst als auf die beschriebne Sache gezogen wird, die wir durch die Beschreibung nicht sowohl kennenlernen, als vielmehr sie in ihr wiedererkennen sollen.

Denn es ist offenbar, daß wir uns bei der Dichtung die Sachen um der Beschreibung willen, bei der Geschichte hingegen die Beschreibung um der Sache willen jedesmal wieder denken.

Bei der Beschreibung des Schönen durch Worte müssen also die Worte, mit der Spur, die sie in der Einbildungskraft zurücklassen, zusammengenommen, selbst das Schöne sein.

Und so müssen nun auch bei der Beschreibung des Schönen durch Linien diese Linien selbst zusammengenommen das Schöne sein, welches nie anders als durch sich selbst bezeichnet werden kann, weil es eben da erst seinen Anfang nimmt, wo die Sache mit ihrer Bezeichnung eins wird.

Die echten Werke der Dichtkunst sind daher auch die einzige wahre Beschreibung durch Worte von dem Schönen in den Werken der bildenden Künste, welches immer nur mittelbar, durch Worte beschrieben werden kann, die oft erst einen sehr weiten Umweg nehmen und manchmal eine Welt von Verhältnissen in sich begreifen müssen, ehe sie auf dem Grunde unsres Wesens dasselbe Bild vollenden können, das von außen auf einmal vor unserm Auge steht.

Man könnte in diesem Sinne sagen: das vollkommenste Gedicht sei, seinem Urheber unbewußt, zugleich die vollkommenste Beschneidung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst, so wie dies wiederum die Verkörperung oder verwirklichte Darstellung des Meisterwerks der Phantasie – wenn wir nur einen Augenblick auf den Grund unsers Wesens schauen und dort die Spur uns erklären könnten, welche nach Lesung des Homer dieselbe Empfindung des Schönen in uns zurückläßt, die der Anblick des höchsten Kunstwerks unmittelbar in uns erweckt.

Soviel fällt demohngeachtet deutlich in die Augen, daß die zurückgelassene Spur von irgendeiner Sache von dieser Sache selbst so unendlich verschieden sein könne, daß es zuletzt fast unmöglich wird, die Verwandtschaft der Spur mit der Gestalt des Dinges, wodurch sie eingedrückt ward, noch ferner zu erraten. – So wie denn jede sich fortbewegende Spitze einerlei Spur zurückläßt, die übrige Gestalt des Dinges, woran sie befindlich ist, mag auch beschaffen sein, wie sie wolle.

Das Allerverschiedenste kann daher immer in der letzten Spur, die es von sich zurückläßt, sich wieder gleich werden; wie denn alles, was da ist, sich auf dem Punkte gleich wird, wo seine äußersten Spitzen in unserm Denken zusammentreffen und dort eine gemeinschaftliche Spur von sich zurücklassen, die mit nichts außer sich mehr Ähnlichkeit hat und eben daher von allem, was da ist, ohne Hinderung sagen kann: es ist.

Auf die Weise kann nun auch auf dem Grunde der Einbildungskraft, da, wo die in ihr erweckten Bilder ihre letzte, leiseste Spur zurücklassen, durch das Zusammentreffen aller dieser Spuren etwas von allen den einzelnen Bildern ganz Verschiednes entstehen, das bloß die reinsten Verhältnisse in sich faßt, nach welchen das ganz voneinander Verschiedne sich um-und zueinander bewegt.

Nun gibt es aber in der ganzen Natur keine so sanften und reinen Bewegungen von Linien um- und zueinander als in der Bildung des Auges selbst, in dessen umschatteter Wölbung Himmel und Erde ruht, während daß es das Allerverschiedenste in seinen reinsten Verhältnissen in sich faßt.

Daher kömmt nichts unter allem Sichtbaren dem Sehenden selbst an Schönheit gleich, und die sanfte Spur des Sehenden, in seine ganze Umgebung verhältnismäßig eingedrückt, ist von allem Sichtbaren allein vermögend, uns unmittelbar Liebe und Zärtlichkeit einzuflößen.

Nun gründet sich aber der Genuß des Schönen stets auf Liebe und Zärtlichkeit, insofern es uns jedesmal auf eine Weile aus uns selber zieht und macht, daß wir über seinem Anschaun uns selbst vergessen.

Da nun unter allem Sichtbaren nichts fähig ist, uns unmittelbar Liebe und Zärtlichkeit einzuflößen als die reinsten Verhältnisse in der vollendeten Gestalt des Sehenden, so scheinet es, als müßten wir jedesmal diese Verhältnisse auf eine oder die andere Weise, in uns oder außer uns, wiedererkennen, sooft wir dem Schönen zu huldigen uns gedrungen fühlen.

Und wo könnten auch wohl die unzähligen Widersprüche, die wir im Kleinen und im Großen wahrnehmen, der Druck der Ungleichheit, die Entzweiung des Gleichen, der Raub des Eingreifenden, der Neid des Ausschließenden, die Verdrängung des Mächtigen, die Rachsucht des Verdrängten, die Empörung des Niedrigen, der Fall des Erhabnen und alle die gegeneinander streitenden Kräfte sich endlich in eine sanftere Harmonie verlieren als in den reinsten Verhältnissen der Bildung, welche zuletzt alle diese Widersprüche in sich selber auflöst und vereinigt?

In welcher der Druck des Ungleichen seine Tyrannei, die Entzweiung des Gleichen ihre abneigende Feindschaft, der Raub des Eingreifenden seine zerstörende Gewaltsamkeit, der Neid des Ausschließenden, die Verdrängung des Mächtigen ihre Ungerechtigkeit, die Rachsucht des Verdrängten ihre Unversöhnlichkeit, die Empörung des Niedrigen ihren Haß und der Fall des Erhabnen seine Schmach verliert.

Wo das Auge durch die höchste und tiefste seiner Spuren, Stirn und Wange scheidend, den denkenden Ernst vom jugendlichen, lächelnden Leichtsinn sondert, indem es in dunkler Umschattung hinter dem Schimmer der Morgenröte hervortritt und durch die Wölbung von oben seinen Glanz verdeckt, während daß die Scheidung des Gewölbten über ihm in den einander entgegen kommenden Augenbraunen, sich sanft zueinander neigend, die Wiedervermählung des Getrennten in jedem untergeordneten Zuge vorbereitet und der ganzen sich herabsenkenden Umgebung, bis zu den Spitzen der Zehen, die immerwährende Spur von Scheidung und von Wölbung eindrückt.

So sinkt die erhabene Wölbung der Stirn, gerade da, wo sie durch das Emporragende zwischen Auge und Wangen sich am merklichsten fortpflanzt, auf einmal, unbeschadet ihrer Hoheit, bis zu dem leisesten verlorensten Zuge des Mundes herab, dessen sanftgebogener Rand wiederum auf der stützenden Wölbung des Kinnes ruht, das, durch sich selbst emporgetragen und in sich ruhend, seinen eigenen Umriß um sich selber zieht.

In dieser sanften Hinabsenkung des Gewölbten wird endlich der trennende Zwiespalt selber doppelt und vierfach schön, weil nur durch ihn die völlige Entfaltung des Eingewickelten nach einem bestimmten Maße sich vollenden kann.

Nach welchem Maße das Auseinandertretende dem sich Entgegenneigenden, das Abspringende dem sich Einfügenden, das sich Entfernende dem sich Annähernden nichts an Schönheit nachgibt, aus keinem andern Grunde, als weil das Abweichende mit dem sich Entgegenkommenden, die Entfernung mit der Annäherung einerlei notwendigen Ursprung hat.

Dieser Ursprung ist es, welcher durch keinen bestimmten Laut dem Ohre vernehmbar wird: er bezeichnet sich aber durch die sichtbare Auflösung des Widerspruchs in der sanftesten Trennung des Zusammengefügten und der innigsten Zusammenfügung des Getrennten.

 

 

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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Frankfurt a.M: Insel

Karl Philipp Moritz inszeniert seinem Roman Anton Reiser ein Spannungsfeld zwischen der beengenden Herkunft des Protagonisten und seinem Bestreben, um Erfolg und Anerkennung zu kämpfen. So will der Autor in der Tradition des Entwicklungsromans die Entwicklung eines Jugendlichen beschreiben – zwischen Ehrgeiz, sozialer Not und moralischem Verfall auf der einen Seite und sozialen Klischees und individuellen Hoffnungen auf der anderen. Probleme und Misserfolge werden hier nicht als Ergebnis der Herkunft dargestellt, sondern vielmehr als Folge der Fehlentscheidungen Anton Reisers und der Borniertheit und des Eigennutzes seiner Erzieher und Lehrherren. In diesem Sinne fungiert dieser Entwicklungsroman, der einen begabten jungen Menschen zum Protagonisten hat, erstens als Zerrbild überkommener pädagogischer Konzepte, zweitens aber auch als Beispiel überzogener Empfindsamkeit eines Zöglings, die sich vor allem in dessen Neigung zur Hypochondrie und der Überempfindlichkeit gegenüber seiner Umwelt zeigt. Das Theater wird für Reiser zur Bühne der Selbstdarstellung, aber auch zum Schauplatz einer Empfindsamkeit.

Weiterführend  Einen Essay von Jutta Ludwig über Karl Philipp Moritz finden Sie hier.

Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.