Wenn man aus der Hochburg der Provinz herausfährt, verwandelt sich die Gegend ins Vorstädtische. Die Suburbia passt sich den Bedürfnissen der Mittelschicht nach Eigenheim, Shoppingmall und einem naturnahen Umfeld an. Man bewegt sich im blechgepanzerten Auto zur Arbeit, zum Shoppen oder zum Golfclub. Diese Aktivitäten stehen unter der Prämisse des Privaten. Öffentlichkeit holt man sich bei einem Event in der Stadt ab, oder zappt sie sich im TV her. Angenehm leer ist es in dieser Landschaft, seitdem die Menschen in der demografischen Zeitenwende ziellos mobil geworden sind.
Heiner Zelmer fährt mit seinem Fahrrad, vorbei an Kiefern und Seen durch eine liebliche Hügellandschaft, das Grün der Weinberge vor den in der Ferne gestaffelten Mittelgebirgshöhen, die hingekleckerten Dörfer mit ihren gefältelten Kirchturmspitzen scheinen Postkartenbilder einer Idylle zu sein, in der es ein bisschen südlicher zugeht als anderswo. Wie man vom Sonntagsausflug nicht erwartet, dass er Überraschendes bietet, Neues zeigt, schätzt er an dieser Gegend die Verlässlichkeit. Heiner Zelmer stellt sich auf den Erkundungen die Frage nach der reinigenden Kraft der Zerstörung. Im Forst sammelt er Steinpilze, Maronenröhrlinge, Rotkappen, und Totentrompeten. Pilze sind für ihn das Wappenzeichen des Lebens: Organismen, die nicht zu den Tieren und nicht zu den Pflanzen gehören und die aus dem Verfall, aus der Fäulnis, ihr Leben gewinnen. Er trocknet die Pilze für den Winter. Schiesst Reh, Fasan und Wildschwein, tiefgefriert es, um später ein Couplet mit den Schwammerln zu kochen. Nimmt sich vor, dazu seine Geschäftspartner einzuladen, wenn die Kürbisse im Garten, vor allem der Hokaido, essensreif sind.
Sein neues Laboratorium liegt in einem Industrieviertel. Aussen Gründerzeit, innen High–Tech. Ein glasüberdachtes Atrium, innenliegende Glasaufzüge, fluide Innenwände mit Aluminiumprofilen und lichtdurchflutete Räume. Exterritoriales Gelände der Unternehmen. Die Menschen zogen aus dem Reich der Natur in das Inferno des Brennofens, das sie durch die klimatisierte Hölle ihrer Büros steuern wollten. Ob am Fliessband, in der Schaltzentrale eines Atomkraftwerks oder am Verbrennungsofen im Lager: die zur Maschine gewordene Welt wollte den Störfaktor aus Fleisch und Blut überflüssig machen. Vorbei die Zeit, in der man die Exkremente des Fortschritts von anderen entsorgen lässt. Die hypermodernen Menschen haben den Erfolg zum Gegenstand ihres Begehrens gemacht. Heiner Zelmer hat zum Schleifen einstiger Herrschaftsansprüche und zu dem Bleiben der Bauten in ihrer grandiosen Erhabenheit beigetragen, baut nun ästhetische Bastionen auf und will einen Neuen Menschen befördern. Die Bürger des wohl organisierten Landes machen sich mit den Grenzen der Wirksamkeit ihres Staatswesens vertraut. Der Fürsorgestaat ist ebenso am Ende wie es die Staatsmaschinen der absolutistischen Zeit waren. Was einst für Zünfte und Gilden galt, gilt nun für Gewerkschaften. Die Gesellschaft wird in das freie Wirtschaften zurückgestossen. Der Spagat zwischen Anpassung und Individualität wird zur sportlichen Höchstleistung. Heiner Zelmer konstatiert eine Diskrepanz zwischen dem Herstellen und dem Vorstellen, zwischen den praktischen und den ethischen Kapazitäten des Menschen. Die Befreiung von bürokratischen Fesseln erfolgt wie die Resozialisierung von Strafgefangenen.
Das Verhältnis zu seiner zweiten Frau Natascha zeichnet sich durch Nachsicht aus. Familien haben Ärger und Konflikte mit der Aussenwelt, nach innen hält man zusammen. Der Streit, den es gibt, bleibt im engen Raum, er wird nicht nach aussen getragen. Die romantischen Ideale, mit denen die Beziehungspartner ihre Ehe in Sankt Petersburg begannen, überfordern sie restlos. In der Verwandlung ist die Erstarrung zu erkennen. An die Stelle der notwendigen Rebellion ist das brave Bedürfnis „alles richtig zu machen“ getreten. Sie leben in der Totalität abendländischer Mobilmachung und dröhnender Selbstwiederholungen, pflegen souveräne Spiessigkeit und huldigen einer Diktatur der verlogenen Bourgeoisie. Bewegen sich an der Grenze zwischen dem, was man wissen muss, und dem, was man sagen darf. Die Stummheit der Verzweiflung schlagen sie mit der Rede tot, und überreden sie mit allen Mitteln der Kommunikation zur Hoffnung. Ihr Ideal ist das gekränkte Schweigen.
Nach der täglichen Auseinandersetzung mit der Göttergattin, erzählt er Steffen vom letzten Feuersalamander, den er zwischen den Totentrompeten gesehen hat. Sein Sohn lächelt spöttisch, nichts wirkt auf ihn so antiquiert wie die Avantgarde von vorgestern. Originalität hat für ihn nichts mehr mit dem Original zu tun.
Heiner Zelmer schätzt das Solide: morgens früh aufstehen, zur Arbeit gehen, seine Arbeit machen, abends nach Hause. Er hat eine Sehnsucht nach Ruhe, nach einer überschaubaren familiären Oase, ohne deshalb die traditionellen Familienmodelle nachleben zu wollen. Sein Midlife–Konservativismus ist gepaart mit Erscheinungen physischen Alterns und der Rückkehr zu wahren Werten. Gelegentlich mit den Kumpeln zum Fussball oder auf ein Bier in die Kneipe und auf rebellische Weise konservativ sein. Popmusik ist die letzte Strömung, in der sich die Vergemeinschaftung vollzieht.
»Rock’n‘ Roll war mal richtige Musik, höllischer Krach, als Zugabe angewandte Konsumkritik, die als Gewalt gegen Dinge zudem kythartisch wirkte«, propagiert er einen neofeudalen Kommunitarismus mit einer Zunge die so schwer ist, als habe sie über Nacht in Cognac gelagert. Allem Sprechen ist ein Gran Verachtung beigemischt. Er erfindet eine Sprachmelodie voller Girlanden und Windungen, die es ihm erlauben, das eigene Echo zu geniessen. Seine Kauwerkzeuge sind immer in Bewegung. Wenn er an seinen Lippen nagt, weiss man, dass er jetzt eine Idee fängt, die durch seinen Kopf saust. Er gefällt sich als Raubtier, mit dem Gebiss will er das vertickende Leben festhalten. Die Zähne bleckt er mehr für sich selbst, so wie er alles hauptsächlich für sich selbst tut, im Schein seines Gebisses erhellt sich der dunkle Weg, der vor ihm liegt.
»Rock’n‘ Roll wandelt sich zu einer Museumskultur! Das rockistische Authentizitätsideal bedeutet: die Lippen stülpen. Runter in die Knie, den Oberkörper nach hinten biegen, bis die Haare Hinterkopf den Boden berühren, dabei weitersingen und sich nicht vom Mikrophonkabel behindern lassen«, macht sich Steffen mit einer Bedeutsamkeitsanleihe über den Lieblingstraum seines Vaters lustig: auf einer Autobahn herumbrausen, an den Reglern des Autoradios drehen, und dann auf einem der unzähligen Kanäle einen der Songs aus der wilden Jugendzeit hören. Der Alte wendet sich gekränkt von seinem Sohn ab. Die Niederschläge haben nur die Pilze hervorgelockt. Wenn er kotzen könnte, würde er stehen bleiben und einen Rastplatz versauen. Manchmal sind Erwachsene jünger als Jugendliche – weil sie wissen, wie man überlebt.
Natascha strahlt eine Mischung aus umgänglichem Charme, gebieterischer Strenge und Nervosität, die aus gebändigter Leidenschaft kommt, aus. Sex spielt für sie die Rolle des Generators von Phantasien. Zur Imagination gehört der Verlust, phantasiert wird über das Abwesende. Sie spielt eine melancholische Pfadfinderin auf der Landkarte der Sehnsucht. Döst in einer Zwischenwelt aus Schläfrigkeit, in der sie Details wahrnimmt, nicht aber den Sinn für Dramaturgie.
Steffen kostet vom sündigen Leben, doch es bleibt hinter Milchglas verborgen. Er ist da und bleibt doch seltsam schattenhaft. Seine Realität ist eine Markenwelt, die Reklame ist Teil der modernen Kreativität. Der Sex mit seiner Freundin hat Verabredungscharakter. Sie verabreden sich fürs Bett, wie sie sich für die Disco verabreden. Leihen sich die fremde Haut und stellen die eigene zur Verfügung. Haben keine Herzensangelegenheiten, sondern Drüsenangelegenheiten. Getriebene ohne Erdung suchen Sex und verwechseln ihn mit Nähe. Der Voyeur ist irritiert, als ihm seine masturbierende Stiefmutter mit der linken Hand zuwinkt.
Unbedingt in der Liebe wie in ihren Rachegelüsten, kaum zu bändigen und doch von jener Anmut, die Beschützerinstinkte weckt. Steffen haucht Küsse auf ihr Gesicht. Wird direkter, streichelt ihre Brüste. Ihre Brustwarzen werden hart, sie beginnt leicht zu stöhnen. Natascha sucht seinen Mund und ankert ihn mit einem Kuss. Er wandert tiefer und saugt sich an ihren Brüsten fest. Gleitet weiter zu ihrer blank rasierten Möse. Sie schmeckt herrlich, weil kein Härchen stört. Sie reiben ihre angeheizten Körper aneinander. Lustvolle Wärme durchdringt Rücken und Oberkörper. Ihr Atmen wird lauter und schneller. Er legt seinen Pint zwischen ihre Brüste, drückt sie zusammen und schiebt ihn hin und her. Sie biegt sich ihm entgegen, fordert harte Stösse und bringt ihm beim Vögeln des Fliegen bei.
Natascha und Steffen verstellen sich nicht, verbergen sich bloss auf ungeschickte Weise. Fliehen auf eine Insel im Atlantik, wo die Sonne ihre Vergangenheit ausbrennt und ein neues Lebensgefühl entsteht. Haben nichts gemeinsam, ausser dem prüfenden Blick, mit dem sie durchs Leben gehen und das Privileg, sich in jedem Moment neu zu erfinden. Planen kein Leben, höchsten den nächsten Monat. Lassen sich leiten von der Landschaft, schauen nicht in die Ferne, auf den Horizont. Lieben es, wenn sie etwas anzieht, lockt, treibt. Ideen und Bilder kommen zusammen, wie vor dem Einschlafen.
Als er den Abschiedsbrief liest, wird Heiner Zelmer klar, dass er die Anzeichen so leicht übersehen hat wie die Tauben auf den Gehsteigen. Nun erlebt er den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Wie alle hypermodernen Menschen ist er einsam, deshalb verletzlich und manipulierbar. Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur nebeneinander. Es handelt sich um nichts anderes, als um die Inszenierung einer Fantasie gegen eine todkranke Melancholie. Einsamkeit kann einen umbringen, Alleinsein kann ein sehr erleuchtender Zustand sein. Dieses Verlangen, nicht einsam sein zu wollen, zieht sich durch Tragödien wie durch Komödien, und es lässt alles Mögliche tun: eine Frau aus Russland umwerben oder eine Killerin engagieren. Grausamkeit ist untilgbarer Teil der menschlichen Triebhaftigkeit. Sie gibt es, ohne dass jemand gegen einen anderen grausam sein muss. Der Mensch ist in der Lage, grausam an sich selbst zu leiden. Was geschehen ist bleibt, als Narbe, als Erinnerung und Erfahrung im Gedächtnis seines Lebens. Heiner kommt einen grossen Schnitt weiter, als er N@sty B. auf seinen Sohn und seine Frau ansetzt.
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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.