Das Bronzepferd

 

Im siebten Jahr verliebte sich Janus. Er sah das Mädchen mit den tiefblauen Augen und den langen schwarzen Haaren in der Mittagsstunde, als er auf dem Weg von der Schule nach Hause in die Große Steinstraße einbog. Schon lange war sie ihm aufgefallen, und schon einmal, als er die Akazienblätter rupfte, dachte er an sie und stellte sich ihre Nähe vor. Er dachte, sie könnte nur Christa heißen. Das Mädchen im Großen Steinweg spielte im Vorgarten mit Blumen, flocht eine Kette aus Gräsern und Blüten und band sie sich ums Handgelenk. Janus sah sie schon aus der Ferne vom Trottoir aus, es ging leicht bergauf. Er ging langsam, er war ein Trödelkind, er beobachtete alles, was er auf dem Weg sah, die Steinplatten auf dem Bürgersteig und die Kreidebilder der Kinder darauf, das Springspiel „Himmel und Hölle“, oder „Deutschland erklärt den Krieg“, die weggeworfenen Dinge, die Pfützen in den Absenkungen der gepflasterten Straße, den Sand in der Bordsteinrinne, die Pfeiler und Eisengitter der Vorgärten, Hausnummern und Fassaden. Er kannte jedes Haus, jeden Eingang, jedes Auto, das da parkte. Er sah die weiße Haut unter Christas schwarzen Haaren, wie sie ihren Kopf drehte und so tat, als sähe sie Janus nicht. Janus blieb am rostigen Gitter des Vorgartens stehen und schaute ihr zu. Nun konnte sie nicht mehr so tun, als ob sie in ihr Spiel versunken wäre. Sie kauerte auf dem Kiesweg an einem Blumenbeet. Janus sagte nichts. Er wartete, bis sie zu ihm hoch schaute. Sie ließ die Blumen sanft auf den Kies fallen, erhob sich und sah ihn an. So standen sie beide eine ganze Weile. Janus fasste die Gitterstäbe und versuchte seinen Kopf durchs Gitter zu stecken. Dabei rieb er sich Schläfen und Ohren rostig. Sein Kopf passte nicht durch. Aber mit dem Gesicht war er zwischen den Stäben. Christa verließ den Kiesweg und trat auf den Rasen am Gitter. Sie ließ den Blick nicht von Janus. Die Augen schauten tief in ihn hinein, und er schaute sie genauso an. Ihm wurde heiß, das Blut stieg ihm in den Kopf, die Haut brannte. Er sah, wie auch Christa sich verfärbte und das leuchtende Weiß verlor. Er sah ihren Pulsschlag und fühlte ihn als den eigenen. Er hob den Kopf leicht an, damit der Mund auf der Höhe ihres Mundes war. Sie umschloss mit ihren Händen seine Hände an den Gitterstäben, beugte sich vor und berührte mit ihren Lippen seine, zuerst ganz zart, dann fester. Ihre Augen blieben geöffnet. Janus wusste nicht mehr, ob er noch mit offenen Augen in die blaue Tiefe schaute oder die Augen geschlossen hatte. Sie presste ihre Lippen auf seine Lippen. Sie glühten beide. Keiner störte sie, keiner sah sie. Wann sie sich wieder lösten, wussten sie nicht. Sie sprachen kein Wort. Janus fragte nicht nach ihrem Namen, er kannte ihn auch so. Er kam wieder zu sich, als er nach Hause lief. Usch war nicht da. Er schloss die Tür auf und rannte in die Vorderwohnung zu Mama Louise. Sie sah, wie rot ihr Junge bis über beide Ohren war. „Was ist denn passiert?“ „Nichts“, sagte Janus. „Mama Louise, gib mir das Bronzepferd von Robert!“ „Was willst du damit?“ „Ich will es nur zeigen, ich bring es gleich wieder.“ Sie holte das Pferd, das Robert vor dem Krieg im Turmspringen gewonnen hatte, aus dem Salon, wo es auf Carls Schreibtisch stand. Janus bekam es zur Taufe von Mama Louise, damit er an seinen Vater in Sibirien dachte; er wollte das Pferd, mit dem er nicht spielen konnte, weil es in der Größe nicht zu seinen Indianern und Rittern passte, auf Carls Schreibtisch haben, denn da saß er am liebsten, wenn er las. Auch die Hausaufgaben erledigte er an Carls Schreibtisch. Mama Louise gab ihm das Pferd: „Es ist sehr wertvoll.“ „Ich weiß“, sagte Janus, lief durch Uschs Wohnung, stürzte die Treppe hinunter, über den Hof auf die Straße, rannte zu Christa und gab ihr durch die Gitterstäbe das Pferd: „Das  schenke ich dir.“ Sie nahm es in beide Hände, brachte kein Wort heraus und wurde so rot wie vor einer Viertelstunde. Janus sagte auch nichts und lief überglücklich nach Hause. Als Usch am Abend von der Büroarbeit zurückkam, spürte sie sofort, wie unruhig Janus war. „Was ist nur mit dir los?“, fragte sie. Janus sagte: „Nichts.“ Usch ging in die Küche, Janus zu seinen Spielsachen. Er wühlte in der Kiste und fand die Spieluhr. Er zog sie auf und sah zu, wie sich die Walze drehte und eine Melodie zum Erklingen brachte, die er mitsummte und variierte, wenn die Mechanik stillstand. Die Spieluhr wollte er Christa morgen geben. Da klingelte es an der Wohnungstür, Usch öffnete, und Janus hörte, wie sie mit einer Frau sprach. Er schlich auf den langen Flur, aber da ging die Frau schon wieder und Usch schloss die Wohnungstür. „Hier hast du dein Bronzepferd wieder“, sagte sie ohne Vorwurf, als sie Janus im Flur stehen sah. Janus stand starr und weinte still in sich hinein. Usch nahm seinen Kopf in beide Hände, drückte ihn an ihren Bauch und sagte: „Es ist alles gut.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Hörst du, wie das Herz schlägt?“ „Ja“, sagte Janus. „Es sind zwei Herzen, die du schlagen hörst“, sagte Usch. Janus schwieg, er dachte nach. Zwei Herzen?

 

 

***

Doppelhimmel, Roman von Ulrich Bergmann. Free Pen, Bonn 2012

Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Janus Rippe wächst bei Usch, seiner Mutter, und den Großeltern in Halle an der Saale auf. Robert, sein Vater, lebt als Kriegsgefangener in sowjetischen Straflagern und wird für tot erklärt. Usch heiratet sieben Jahre später den DDR-Richter Hardy. Kurz darauf kommt Robert aus der Gefangenschaft wieder …

Ulrich Bergmann schreibt den Roman einer Kindheit im geteilten Deutschland. Es ist die Geschichte einer vom Krieg 1939-1945 verwundeten Familie. Er erzählt von Flucht und Trennung, und wie Janus in Bonn am Rhein eine neue Heimat findet und wie seine Kindheit endet.

Weiterführend →

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Lesen Sie auf KUNO zu den Doppelhimmel einen Rezensionsessay von Holger Benkel. Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier.