ich liege reglos auf einer wiese und feiner blütenstaub bedeckt mich, den insekten zerstäuben, wodurch er ständig aufwirbelt und niederfällt. und ich spüre, wie in mir der wein verbrennt, den ich zuvor getrunken habe. plötzlich sehe ich rauch aus meinem körper aufsteigen. die atmosphäre dünstet, denke ich. der qualm erdrückt die luft und droht mich zu ersticken. ich merke, daß mein kopf über den augenbrauen bereits taub wird, springe auf und laufe über abgestorbene wurzeln davon, wobei ich dutzenden entenküken begegne, die vor mir flüchten.
da kommt jäh ein sturm auf, der die sonne verdunkelt, mich wirbelnd umschlingt und mir den blütenstaub ins gesicht schlägt. ich erreiche mühsam eine weggabelung, habe aber jede orientierung verloren. um dem sturm zu entgehen, kriech ich in ein erdloch, das sich jedoch als fallgrube erweist, worin sofort käfer und maden über mich herfallen. ich fliehe in eine nahe tropfsteinhöhle und stehe einer uralten lederhäutigen frau gegenüber, die in einem aus knorrigen ästen errichteten verschlag hockt und ununterbrochen mit entsetzlich ernstem gesicht wechselweise früchte entkernt und geflügel ausnimmt und dabei vor sich hin murmelt: »blütenstaub zu totenstaub und totenstaub zu blütenstaub.«, ohne mich eines blickes zu würdigen. diese frau enthäutet auch menschen, denke ich. da hebt die alte ihren kopf und sagt: »der mensch wird nicht zu retten sein, wenn er sich nur als mensch erlebt.«
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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2023
Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.
Weiterführend →
In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.
Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013
Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.
Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015