Netzer kam aus der Tiefe des Raumes.
Karl Heinz Bohrer am 27. Oktober 1973 in der FAZ
Nein, Aufklärungsarbeit wolle er durchaus nicht leisten, versichert er mir dann beim eigentlichen Einstieg in seine Geschichte, seine Position hinsichtlich dieses Projektes damit beschreibend. Er wolle sich auch nicht der endzeitlichen Stimmung der ersten Wörter unserer Arbeit anschließen, sähe er nun doch erste Möglichkeiten eines Neuanfanges, sein gesamtes Leben betreffend. Sein Scheitern wäre nun einmal eine konsequente Folge beständiger Fehleinschätzungen, aber er wolle es trotz aller Trostlosigkeit mit Humor tragen und er sei bemüht, sich mit dieser Erzählung aller Verluste zu entledigen. Er sei schließlich Co- Autor und Hauptperson dieses Possenstückes, dem er zugleich als Zuschauer beiwohne, und das ihm dabei hinter all den bunten Bildern seine Traurigkeit aufführe. Aber das Leben sei ja selten eindeutig und kein Grund für irgendein Tun zuweilen so einleuchtend, wie seine spätere Bewertung. Und, dies möchte er explizit hier einfügen, er sei ja in den Bildern gescheitert, und nicht an ihnen, also an ihrer irgendwie gearteten Verwertung. Was dies bedeute, würde sich erst in der Schilderung dieses Umstandes erhellend darstellen.
Er sei folglich erst in der Mitte seines Tuns an die Ränder seiner Sprachlosigkeit geraten, welches er hier begründen wolle.
Ihm sei also mehr daran gelegen, die Zeit aufzufüllen, um nicht von totschlagen zu sprechen, die ihm nun bleibe, da er mit der Kunst geendet sei. Was mit diesem Schrift-Bild dann geschehe, interessiere ihn zuvorderst nicht so sehr, erfolgloser könne er eh nicht mehr sein. Mehr sei er daran interessiert, nun ein Bild zu schreiben, welches sich dem ehemaligen Bildermachen widme und ihm zugleich eine überprüfbare Lebenslinie aufzeige, an deren Leine er die Umstände seines Scheiterns heften könne, um sie dann in einer Art Übersicht zu begreifen. Es wäre allemal einfacher zu lagern.
„Und da Sie, der Erzähler dieser Geschichte, augenblicklich von ähnlicher Ratlosigkeit verfolgt und mir zudem nicht nur namentlich verbunden sind, liegt es doch nahe, sich zusammenzutun und uns mit dieser gemeinsamen Arbeit wieder die Luft zu verschaffen, die uns beiden im mangelhaften Tun respektive tatenlosen Warten ausgegangen ist. Dabei sollten wir uns in keinem Fall dem allgemeinen Missmut des unheilahnenden Heeres von Zeitgenossen anschließen, sondern selbst im Fluchen der Welt in ihrer prismatischen Farbigkeit zuwenden. Sie also nicht mit jenem Grauschleier überziehen, der uns nicht nur bei Gardinen Missmut bereitet, sondern auch die primäre Sichtweise des ganz und gar Heutigen zu bestimmen scheint.
Gewiss fehlt uns augenblicklich jene Blauäugigkeit, die hinter jeder Gewitterfront stets bereits ein Hochdruckgebiet zu sehen in der Lage ist. Doch ist der Verlust unserer Klarheit bereits so grau umwölkt, dass jedes Bemühen, ihre Umstände zu begreifen, fast automatisch erhellend sein wird. Daher sollten wir bemüht sein, uns in die Nähe jenes Zaubers zu bringen, der jedem Anfang innewohnt und am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen, wie weiland Herr Münchhausen, der Phantasiebaron. Gewiss auch ein Künstler.“
Gut, denke ich mir und füge meinerseits hinzu, dass uns im Dahindümpeln unserer augenblicklichen Gemütslage auch die Erkenntnis bestimmt, dass jedes erfolglose Tun allemal besser sein kann als ein dem Erfolg nachsinnendes Warten. So tun wir etwas und füllen damit die Zeit an. Dabei lernen wir tätig zu warten oder uns im Warten zu bewegen. Wir winden uns sprachlich durch unser Ausharren, um uns im praktischen Leben wieder auf den Weg zu machen.
Wie alles anfing, frage ich den Künstler Meinen, um die Chronologie der Ereignisse an ihren Anfang zu führen. Natürlich ist mir bewusst, dass die Frage, ob man als Künstler sozusagen geboren werde, allein bereits fragwürdig ist. Und da ich im Verfolgen dieser Überlegung auch nicht die Historie bemühen wollte – diese verklärt mehr als dass sie erhellt und nichts ist im Leben allgemein langweiliger und nutzloser als der Vergleich- beginne ich bei meinen Nachforschungen mit einer eher schlichten Frage, wann er dann zum ersten Male seine Begabung festgestellt habe.
Das Wort Begabung wirft hier ein erstes schmales Licht in unsere Erzählung und wir werden bald von dessen Undurchsichtigkeit so geblendet sein, dass wir uns ihm näher widmen müssen. Denn hinter ihm versteckt sich ein noch strahlenderer Bruder: das Wort Berufung.
Nun ist der Künstler Meinen einer jener beneidenswerten jungen Menschen gewesen, die, wie wir sagen, in einem behüteten Zuhause aufgewachsen sind. Dies schließt durchaus ein, dass das Haus einen Hüter hatte und eine, selbst über diesen, hütende Mutter. So behütet hat man die Chance zugrundezugehen oder eben auch aufrecht gehen zu lernen. Die Entscheidung zu einer der beiden Möglichkeiten trifft man zwar gerne selbst, jedoch wird man meist ohne direkten Widerspruch in eine der beiden gedrängt, gezogen, erzogen etc.. Wer kennt in unserer allzu analytischen Zeit nicht jenes konjunktivistische Wenn und Aber oder den Verlust eines alles klärenden Überblicks. Im Schoße der Familie oder Gesellschaft kann man nett ertrinken oder sich mit einem fast unbarmherzigen Lebenswillen aus selbigem herauswinden, wie weiland Oskar Matzerath mit bekannt bösem Blick.
Doch wir betreiben hier ja kein sprachliches Re-Birthing und überlassen jene um Aufklärung bemühte Rückbetrachtung den Zeitgenossen, die in der Wiedergeburt ihr augenblickliches Unheil aufzuklären wünschen.
Ich habe mir vorgenommen, mit zwischenzeitlichen Einwürfen Lebensumstände des Künstlers Meinen anzusprechen, die ich auch für maßgeblich halte, um ihn in einer Art Gesamtbewertung zu erfassen. Zudem kann ich mir in meiner Schilderung eine Distanz zu Erlebnissen und Erfahrungen leisten, die dem Künstler Meinen ob seiner persönlichen Betroffenheit nicht möglich ist und die er, seine Arbeit betreffend, für nicht erwähnenswert hält, um damit vielleicht auch den Voraussetzungen seines Scheiterns zu entgehen. Diese Einwürfe werden sich auf Erzählungen berufen, mit denen er seine Ausführungen, die Kunst betreffend, zeitweilig unterbricht respektive sich auf meiner Kenntnis seiner Biographie gründen.
Besonders begabt sei er wohl nicht gewesen, meint er, meine Frage beantwortend, jedenfalls nicht erkennbar oder ausgewiesen, keine Zeugnisnote im Fach Kunst hätte ihm eine verheißungsvolle Karriere in Aussicht gestellt. Ich verkniff mir die Frage nach dem Zusammenhang mit dem nun unrühmlichen Ende seiner Nicht-Karriere, wohl wissend, dass zahllose Unbegabte gerade deshalb heute Karriere machen, weil sie unbegabt sind.
Nein, vielmehr sei er zunächst der zutiefst sicheren Berufung zum
Verwaltungsangestellten gefolgt. Was im Klartext bedeutet, die Eltern wollten sein Bestes.
Da wuchs er nun auf und schlich, ein Geschobener seiner Schüchternheit (seine erkennbarste Eigenschaft zu diesem Zeitpunkt), durch die Welt der Formulare und Beamten, deren abenteuerliche Komponente sich im Abreißen des Kalenderblattes erschöpft; und erste zarte literarische Berührungen beim Lesen des rückseitigen Spruches rückten ihn täglich in die Nähe zu dem, was man ganz allgemein Kunst nennen möchte (bei aller gebotenen Vorsicht vor Kalendersprüchen). Nun sind Amtsstuben nicht gerade museale Orte, an denen einem die undurchsichtige Welt des Bildermachens sozusagen bildhaft und vor allem lebhaft vor die Augen tritt. Vielmehr erschöpft sich sich das Bildhafte im Bemerken merkwürdiger Arbeitsvorgänge, die ihre Logik meist verschlüsseln und gerade deshalb jene Mischung aus Geheimnis und Langeweile aufkommen lassen, die uns zuweilen in ihren trockenen Bann zieht. Sollte man tatsächlich eines Bildes gewahr werden, schmückt es jenen angesprochenen Kalender oder beweist als gerahmter Familiensinn auf einem Sicherheit behauptenden Schreibtisch nachdrücklich die Tatsache, dass es ein Leben nach dem Ende der Arbeit gibt.
In dieser Welt diverser Grauabstufungen und sich beständig wiederholender Tätigkeiten entwickelt sich die Sehnsucht nach Farbigkeit und der vermuteten Lebendigkeit von irgendetwas anderem fast automatisch. Der Künstler Meinen (zu diesem Zeitpunkt also der Verwaltungsangestellte Meinen) begann bald über sich, seinen Beruf und seine Lebensumstände nachzudenken.
Nun haben Gedanken, bekannterweise, ihre eigene Macht und tragen den, den sie durchwandern, an so manchen Ort. Nur weg von dem, an dem man sie sich gerade macht.
So durchschritt der Verwaltungsangstellte Meinen manche Gefilde und die Gedankenkarawanen zogen im Laufe der Jahre immer weitere Kreise. Und er folgte ihnen folgsam. Denn je lebhafter er sich davondachte, desto bunter wurde die Welt. Man kennt jedoch die Folge, die mit der Rückkehr in die Welt der Tatsachen verbunden ist, stürzt man doch immer härter aus dem Himmel seiner Sehnsüchte auf die Erde seiner Bestände. Wir wissen aber auch, dass Stürze, die nicht zur Bewusstlosigkeit führen, uns wachzurütteln vermögen.
Der Verwaltungsangstellte Meinen begann aus dem Schlaf seiner Kindheit (so muss man seine Befindlichkeit zu dieser Zeit wohl beschreiben) zu erwachen.
Nun bat der Künstler Meinen diesen Teil seiner Biographie hier abzukürzen.
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Schimpfen, von Peter Meilchen, Edition Das Labor, Linz, Neheim, Mülheim an der Ruhr 2013 – Der Erstauflage ist limitiert und mit einem Stempel versehen. Da Freunde und Förderer sich bereits im Vorfeld ihr Exemplar gesichert habe, rät KUNO nicht zu zögern und sich ein Restexemplar zu sichern.
Weitere Werke sind erhältlich über die Edition Das Labor.