Scheitern nach Plan

Noch länger hätte Oliver in dem Provinznest nicht bleiben können. Alles, was geschehen war, wollte er hinter sich lassen. Erst wenn man ihn vergessen hatte, wollte er noch ein einziges und letztes Mal zurückkommen, um Rache für das Unrecht zu üben, durch das sein Leben aus den Fugen geraten war …

Oliver Rotdorn ist tatsächlich ein psychologischer Roman – und zwar ist es im Wesentlichen die Erzählung eines teilweise selbstverschuldeten Scheiterns des Protagonisten Oliver. Möglicherweise wird sogar die Pathologie der Zeit der zweiten Generation der nach dem Krieg geborenen erzählt.

Der 1. Epilog deutet, vielleicht, mit den Schicksalen der beiden Großväter Olivers an, dass es dem Erzähler auch um Nachwirkungen des Krieges geht. Allerdings überwiegen in der distanziert personalen Erzählung, sowohl was Oliver als auch seine Eltern Joachim und Karin betrifft, individuelle oder ganz allgemeine Fehler oder Mängel und Schwächen. Im Wesentlichen wird man den Roman wohl am besten so sehen, dass ein überempfindsamer Protagonist mehr an sich selbst scheitet als an seiner Familienkonstellation, obwohl diese dazu teilweise beiträgt.

Der Prolog spinnt zusammen mit dem 2. Epilog, der sich zurückbezieht auf den 1. Prolog, einen spielerischen Faden um die Erzählung: Der Erzähler grenzt sich von seiner Erzählfigur ab und behauptet, sie ganz und gar erfunden zu haben, während er zugleich darauf hinweist, das Leben seiner Figur zu kennen, der er zufällig in einem ICE-Zug begegnet sei, er geht zu so weit zu sagen, „dass sich das Leben des mir fremden Fahrgasts nur genau so zugetragen haben kann.“

Natürlich geht das nicht, das ist ein literarisches Spiel, das besagt, dass das Leben der Hauptfigur eben doch etwas zu tun hat mit dem Erzähler, der hier letztlich der allwissende Autor ist.

Zwischen dem Prolog und den zwei Epilogen befinden sich drei Teile: I. Die Flucht, II. Der freie Fall, III. Die Ratte.

Im I. Teil bricht Oliver Rotdorn, ein etwa fünfzig Jahre alter Mann, alle Brücken hinter sich ab, er kündigt und löst seine Wohnung auf und verlässt die Provinzstadt, in der er lebte, es ist wohl Mechernich oder Euskirchen, wo der Autor zu Hause war und ist, aber darauf kommt es nicht an. Nachdem er seine Möbel und andere Utensilien zum Sperrmüll gegeben hat, bricht er auf mit zwei Taschen: in der einen Bücher, in der anderen Werkzeug und Lebensnotwendiges. Er fährt mit dem ICE, wo ihm sein Autor begegnet, nach Köln. Dort geht er am Dom vorbei, wo ein Penner sitzt, in die Innenstadt und kauft sich wetterfeste Kleidung. Als er wieder bei dem Penner vorbeikommt, der inzwischen stark angetrunken ist, ruft dieser ihm zu: „Du sitzt bald auch hier.“ Das gibt dem Leser einen Hinweis, wo es lang geht mit dem Helden in dieser Geschichte: nach unten.

Oliver fühlt sich nicht wohl in seinem Leben, er hegt Rachegefühle gegen seinen Vater Joachim, der sich von seiner Frau trennte, als Oliver in die Pubertät kam. Weil Olivers Mutter, Karin, klare Verhältnisse haben wollte, verlor er auch die Großmutter Anna, Joachims Mutter. Die Einzelheiten werden erst im II. Teil ausführlich erzählt. Während des I. Teils entsteht Spannung: Was sind die Gründe für Olivers Abbruch? Was für ein Aufbruch ist das? Wofür und warum will Oliver einen Racheplan sich ausdenken. „Seine tiefe Überzeugung war, dass er etwas tun musste, was seinen Vater bis ins Mark erschüttern würde. Das von seinem Vater verursachte Chaos würde er auf diese Weise endgültig an ihn zurückgeben. Und nach seiner Rache sollten wieder Ruhe und Regelmäßigkeit in sein Leben einkehren.“ Das klingt nach einer Selbstrettungsaktion, der Protagonist benötigt für sich eine Katharsis, er will wieder gesund werden.

Er reist mit dem Zug in die Provence, die schon lange ein Wunschziel war. Die in der Provence erlebten Episoden erfährt der Leser in einem bewusst nüchtern-distanzierten Erzählstil, der zusammen mit den Abenteuern, die Oliver durchlebt, interessant-befremdend wirkt und eine ganz eigene, seltsame Atmosphäre schafft. Denn diese völlige Loslösung vom normalen Leben, die Suche nach innerem Halt im Alleinsein, oft in der rauen Natur, ist so weit weg von unserem Leben, dass wir die Erzählung lesen wie eine Robinsonade. Eingeblendet werden – nicht nur in diesem Teil – immer wieder Träume Olivers, die sich manchmal mit der Wirklichkeit zu überschneiden scheinen – etwa als Oliver in einem leerstehenden Haus für drei Tage unterkommt: das Telefon klingelt, Oliver nimmt ab und hört, wie sich eine Stimme nach Pierre erkundigt. „ ‚Pierre Bertrand lebt nicht mehr‘, sagte er und legte auf.“

Eine gewisse Wärme kommt auf in der letzten Episode dieses Teils, als Oliver bei der Witwe Duchamps im Elsass unterkommt und dort wochenlang wohnt und sich nützlich macht, bevor er wieder nach Deutschland zurückkehrt. Ich hätte mir als Leser eine Wiederaufnahme der Duchamps-Episode gewünscht. Für die Entwicklung der Erzählung ist es jedoch nicht notwendig. Der Erzähler hatte für den ohnehin sehr volatilen Lebensweg seines Helden andere Höhen und vor allem Tiefen vor.

Im II. Teil erlebt der Leser nicht nur den freien Fall des Helden, sondern ein Auf und Ab, etliche retardierende Momente lassen den Leser hoffen, Oliver könnte sein Leben langfristig in den Griff bekommen. Zunächst wird Olivers Aufwachsen in seiner Familie aus seiner Perspektive ausführlich erzählt. Der Vater kümmert sich um Oliver liebevoll, als dieser ein kleines Kind war, später berufsbedingt weniger. Als Oliver eine tote Ratte nach Hause bringt, um damit den verhassten Nachbarn zu ärgern, ist der Vater entsetzt und macht seinem Sohn eine übertrieben autoritäre Szene. Dieses Rattenerlebnis wird im III. Teil wieder aufgegriffen bzw. ‚beantwortet‘.  Wenig später kommt es zur Trennung der Eltern, die sich schon lange nicht mehr verstehen. Oliver lebt nun allein mit seiner Mutter, die später Berlin verlässt und nach Heidelberg zieht. Er geht dort zur Schule. Der Erzähler schildert, wie der sensible Junge in der Schule und mit den ersten Computern der 80er Jahre lernt. Oliver beobachtet Menschen und seine Umgebung sehr genau, er hat hier eine besondere Begabung. Er hat eine Jugendliebe. Er macht Abitur und den Führerschein. Er studiert fleißig. Sein Leben verläuft alles in allem wie das der meisten jungen Menschen. Nur die Folgen der Trennung vom Vater setzen ihm zu. Sein Leben mit Freunden ersetzt ihm die Gemeinschaft, die ihm in der Familie fehlt. Viel zu früh stirbt die Mutter. Oliver unterbricht das Studium und gerät in kleinkriminelle Kreise und beteiligt sich an Einbrüchen. Er säuft und verkommt.

Aber er reißt sich wieder zusammen – vielleicht ist Olivers Selbstkommentar (S. 164) überflüssig. Er trainiert sich gesund und wandert aus nach Kanada, wo er mit Erfolg Romanistik studiert und den Doktor macht. Allerdings hat er erhebliche Beziehungsprobleme, vor allem mit Frauen.

Nun geht es wieder abwärts. Oliver genügt sein wissenschaftlicher Erfolg nicht, lehnt einen Wissenschaftspreis ab und bekommt dadurch dienstliche Probleme – in einem Gespräch, in dem der Dekan Oliver maßregelt, wird möglicherweise das Rattenmotiv, subtil verdeckt, fortgeführt. Das Gespräch wird im Büro des Dekans geführt, das die Bezeichnung A. 101 trägt. In Orwells „1984“ ist das Zimmer 101 der Marterraum für Winston … Es ist nicht die einzige Anspielung in Berends Roman – weitere sind: Becketts „Warten auf Godot“, Rainald Goetz, Spiel mir das Lied vom Tod und das Mundharmonika-Motiv, 2001 – Odyssee im Weltraum, „Augustus“ von John Williams, vielleicht auch Thomas Manns  „Zauberberg“ (Kapitel Der große Stumpfsinn), „La Peste“ von Camus.

Olivers Reaktion auf die Kritik des Dekans: Er kündigt seine Stelle. Möglicherweise ist diese Szene von John Williams Roman „Stoner“ angeregt worden. Oliver kehrt nach Deutschland zurück und bricht nun auch seine Freundschaften ab. Sein Vater-Problem wird wieder virulenter. Er mietet eine Wohnung in einem Provinzstädtchen und verfällt dem Stumpfsinn. „Seine Hoffnung war, dass er sein individuelles Schicksal durch die Entfremdung von allem Vertrauten besser verstehen würde.“ Dieser negative Eskapismus führt ins Unglück, vor allem wegen der unsinnigen, ja unreifen Fixierung auf den Vater. Oliver ist zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt. Da kann die elterliche Vergangenheit nicht der einzige Lebenssinn sein. Mit seiner Fixierung entwertet Oliver sein Leben, ja es gewinnt sogar eine quasisuizidale Qualität. Aufbruch ein Leben lang – das ist wahrscheinlich ein guter weg durchs Leben, wenn es konstruktiv gelingt; aber die systematische Entwertung aller Aufbrüche muss endlich ins Scheitern führen. Oliver gelingt es nicht, für sich und sein Leben einen subjektiven Sinn zu erschaffen.

In der Begegnung mit der Bäckereiverkäuferin Julia Olschewski scheint es noch einmal aufwärts zu gehen. Oliver hat immer noch die Kraft, sich zu verlieben und sich verzaubern zu lassen durch Nähe, Verständnis und Schönheit. Allerdings ist Julia deutlich jünger, vor allem aber verheiratet und Mutter eines halbwüchsigen Sohns. Julia erkennt die Unlebbarkeit dieser Liebe und beendet sie, kurze Zeit später lebt die Liebe noch einmal, bis die beiden in der Unterführung, in der sie sich immer treffen, zufällig von dem Stiefvater Julias gesehen werden. Oliver erkennt in ihm seinen Vater, der aber erkennt seinen Sohn nicht. Die Begegnung führt zum endgültigen Abbruch der Liebesbeziehung.

Die Julia-Episode, erneut ein retardierendes Moment im volatil-eskalierenden Niedergang Olivers, wird zwar genauso distanziert erzählt wie alles in diesem Roman, aber sie erzeugt eine noch wärmere Nähe des Lesers zum Protagonisten als die Duchamps-Episode. Nun erreicht die Erzählung den Anfang des I. Teils.

Der II. Teil schließt mit Olivers Notizen zur Schuld und Allmacht seines Vaters über sein Schicksal (S. 213ff.). Darin wird noch einmal die Notwendigkeit der Rache am Vater begründet.

Der Leser wird diese Notizen, die an Kafkas „Brief an den Vater“ erinnern, nicht überzeugend finden, zumal in einem Rückblick des III. Teils die Ehe des Vaters bis zur Trennung mehr aus dessen Perspektive erzählt wird. Außerdem stellt sich nun heraus, dass Karin, Olivers Mutter, den Kontakt zum Vater unterbunden hat und ihrem Sohn sogar Briefe des Vaters an ihn vorenthielt. Hinzu kommen die Träume, die Oliver hat, Szenen der Olschewski-Familie, die ihm zeigen, dass er selbst schuldfähig ist wie sein Vater, indem er Olschewski-Ehe gefährdete.

Olivers Selbsterkenntnis und Selbstbefreiung gelingt nicht. Er scheitert, weil er nicht loskommt von seinen Gefühlen, unabänderlich geprägt zu sein von der Trennung der Eltern und dem Verlust des Vaters. Diese Prägung wird erzählerisch unterstrichen durch die Motive mit der Mundharmonika (Spiel mir das Lied vom Tod).

Die Rache (den Vater mit einer zweiten Ratte an seine Überreaktion vor vier Jahrzehnten erschreckend zu erinnern) zeigt, wie sehr der Protagonist nicht wirklich in sein Leben fand und sich selbst zerstörte.

Offenbar hat diese Ausweglosigkeit auch den Autor so sehr erschreckt, dass er aus seiner Erzählung mit Hilfe des 2. Epilogs flüchtet. Er sieht keine Rettung mehr für seinen Antihelden, wenn er dem Vater die gleiche Frage zubilligt wie dem Sohn: „Was hab ich dir getan?“ (S. 261)

Der Autor wendet sich sogar ab von Oliver, dem er bei einer Wiederbegegnung gesagt hätte, er solle ihn in Ruhe lassen. Allerdings muss er sich fragen lassen, warum er dann diese Geschichte schreiben musste. Er hätte Oliver auch halbwegs retten können, etwa in der Liebe mit Julia (mit weiterem zerschlagenen Porzellan), oder er hätte ihn viel früher zur Einsicht bringen können. Der Autor entschied sich für den leidensvolleren Weg. Vielleicht ist er sich der Unsicherheit unseres Lebens bewusst geworden in einem ähnlichen Alter wie sein Protagonist, den er als Denk- und Spielfigur nutzte, um sich klarzumachen, welchen schicksalhaften Widrigkeiten er selbst entgangen ist, wenn es auch ganz andere waren als bei Oliver Rotdorn. Im Wesentlichen fragt dieser Roman eines abschreckenden Scheiterns nach dem Sinn des Lebens. Es ist dies eine Frage, die uns alle in unserem Leben nicht loslässt. Sie stellt sich immer wieder.

 

 

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Oliver Rotdorn, Roman von Patrik Berends. Free Pen 2021

Weiterführend →

Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.