Auf dem Lande, so geht das Klischee, ist die Welt noch in Ordnung; und auf dem Weg vom Urbanen in die Provinz meiner Jugend will ich das gern glauben.
Wenn ich nämlich, zum Beispiel, am Sonntag vor Ostern, nachdem ich dem Zug in der Kreisstadt entstiegen bin, mich entschlossen habe, nach Holzweißig zu laufen, schlägt mir zunächst – verwirrend, betörend – das Gezwitscher der Vögel entgegen; so, als wäre man von einem Blick auf den andern in einen Urwald geraten und nicht in eine der größten Industriebrachen des Landes, die an ihren Rändern nur zögerlich in jener ländlichen Idylle ausläuft, über die ich berichten will.
Von der Bismarckstraße abbiegend, an den Klinkersäulen des Bitterfelder Überbaus links entlang, sehe ich zuerst die Gebäude des ehemaligen Gleisbaubetriebs, dann, wo vor zehn Jahren ein Teil der Kreisleitung untergebracht war, Parkplätze für die Bagger des Tiefbaus, Container für Lumpen und Müll … und schließlich, am Annahof längst schon vorbei, das Terrain der Anfang der neunziger Jahre zusammengeschobenen Brikettfabrik, eine Gegend, über die manch kluger Kopf gesagt hat, man hätte sie zu einem Industriemuseum ausbauen sollen, um so den Namen der Stadt in der Welt, wo er war, zu bewahren.
In meinen Träumen ist Holzweißig der verwunschene Ort meiner Jugend geblieben: hier war ich zum ersten Mal unglücklich verliebt und erlebte meinen ersten Rausch, der mit Filmriß und vollgekotzter Hose endete, hier bin ich noch immer zu Hause.
Vor allem habe ich hier auf eine ländliche Weise gelernt, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen, indem ich meinen späteren Beruf im Kleinen vorwegnahm und zuständig war für die Pflege und Aufzucht von fünfzig Kaninchen, elf Meerschweinchen, die Streichel-Einheiten einer gebrechlichen Katze. In meiner Eigenschaft als ‚Jugend-forscht-Landwirt‘ nahm ich im Ort eine seltsame Position ein, denn obwohl nahezu jede Familie sich Haustiere hielt, war ich mit dem Äußern meines Wunsches, Tierpfleger zu werden, mehr als allein. In einer Industriearbeitergemeinde wie Holzweißig wurde man BMSR-Mechaniker und Bandwart, Rangierer oder Grubenlokführer, letzteres vor allem ein Job, den mein trinkfester Kumpan E. bei der Jugend des Ortes zum Mythos aufstilisierte. Ich will gar nicht wissen, an wievielen Tagen seiner Lehrzeit er nüchtern war. Als ich 1984 aus einer sächsischen Kleinstadt hierher kam, war er noch Schüler und schon mit dem Trinken beschäftigt, ein anarchisches Vorbild, und ich fühlte mich, als Kleinstädter aufs Dorf gekommen, in eine Art Kulturschock versetzt, indem mir der Ort meiner Herkunft verträumter erschien als derjenige, an den ich gelangt war.
Später lernte ich, diesen versehrten, vom Bergbau über und über geformten Landstrich zu lieben; aber ich hatte mich auch schon entschlossen: während alle Welt in die Industrie ging, wollte ich Landwirt werden, Rinderzüchter. Und obwohl schon meine Urgroßmutter, denn ich hatte diesen Wunsch bereits als Vierjähriger verkündet, mich davon abbringen wollte, bewarb ich mich, erhielt einen Vertrag und hatte im Sommer 1987 meinen ersten Stalldienst zu leisten: als Ferienschüler in Großzöberitz, Herr über zweihundertfünfzig Mastbullen, die ich zumeist allein zu versorgen hatte.
In Großzöberitz erfuhr ich erstmals von der wirklichen Härte ländlicher Arbeit – nachts hörte ich im Schlaf das Quietschen der Abraumbagger in den Tagebauen ringsum, und jeden Morgen quälte ich mich mit dem Fahrrad die zehn Kilometer von Holzweißig nach Großzöberitz, um, angekommen, dann festzustellen, daß die Jungbullen über Nacht ihr Gatter zerstört hatten, oder der Traktorist war wieder übel gelaunt. Nach drei Wochen holte ich mein kärgliches Lohntütchen ab, und noch heute wundere ich mich, daß mein Entschluß, einen solchen Beruf zu ergreifen, auch nach dieser Anstrengung von Bestand war. Die Tortur hatte mich unbeeindruckt gelassen, der Anschein ihrer elementaren Notwendigkeit hatte mich seltsamerweise überzeugt.
Bis nach Holzweißig sind es vom Bahnhof der Kreisstadt aus zwei oder drei Kilometer; es ist narbiges Ödland, das ich durchstreife, und doch ist es vom Leben der Vögel erfüllt, als würde schon hier die Nähe von Wäldern und Feldern verhießen: Amseln tummeln sich hier und der seltener werdende Spatz, der Star und der Stieglitz, aber auch Girlitz und Ammer, Dohle und Hänfling auf der Rückkehr in ihr Sommerquartier. Es ist, als wären sie immer schon da gewesen, und das waren sie ja auch, selbst in den unzähligen Jahren des Staubs und geschäftigen Treibens, nur daß es keiner mehr glaubt.
Noch vor fünfzehn Jahren war Holzweißig kein typisches Dorf, sondern ein Flecken am Rande der Kreisstadt, ein Gebilde, dem man auch in den letzten Jahrzehnten seiner über 700-jährigen Existenz, seit der Braunkohle wohl in Ermangelung einer durchgehenden Straße, nicht den Rang eines Städtchens zugedacht hatte.
Immerhin hatte man aus dieser infrastrukturellen Sackgasse einen Abgeordneten für die Volkskammer nach Berlin entsandt, vielleicht als Ausgleich für die abbrechende Straße, hinter der das Bergbaugelände begann. Auch sonst war der Ort umgeben von ausgekohlten Tagebauen, deren Rekultivierung darin bestand, Müll- und Spülkippe zu sein. Es war das Gelände ehemaliger Felder, das nun von den Anwohnern anhand schwarzer Gärten und Äcker in einmütiger Subversion zurückerobert wurde.
Auf einer dieser Spülkippen wurde bereits wieder Luzerne angebaut; und auch ich war so ein Kippengärtner: vor den Schloten der Kreisstadt baute ich Radieschen und Möhren, Salat und Studentenblumen an. Heute ist das Gelände wieder gesperrt, von Pappeln und Tamarisken bestanden, und in hundert Jahren werden nur noch Spezialisten die Spuren der Vergangenheit, die dann unsere Hinterlassenschaft ist, mit einigem Spürsinn zu deuten vermögen; und vielleicht werden sie sagen, wir hätten, nach dem Ausschöpfen der Kohlelager, auf dem Abraum einen Neuanfang gewagt.
1988 geriet ich ernsthaft aufs Land. Meine Lehre begann und damit die eigentümlichste Unterweisung für mein Leben. Ich fand Freunde, wir tranken und feierten gut; in der Hälfte der Lehrzeit schwängerte ich ein Mädchen, wobei die Kür ein betrunkener Spaß war und die Pflicht ein Debakel. Und in der Milchviehanlage, in der ich zu arbeiten hatte, standen zweitausend Rinder, die gemolken sein mußten.
Meine Scheu vor den Tieren hatte ich bereits in Großzöberitz abgelegt, nun wurde ich ans Melken geführt, um meinen volkswirtschaftlichen Beitrag zu leisten; und brachte es zum geachteten ‚Wolfswäscher‘ im Stall: das war der arme Kerl, der nach dem Umstellen der Kühe die wundgelaufenen und entzündeten Euter der Tiere zu versorgen hatte. Die betroffenen Rinder ließen das gern mit sich tun, und so, über diese traurige Pflicht, schien es, als hätten wir eine Übereinkunft getroffen, die eine Art Vertraulichkeit war: ich lernte die ‚Klacken‘ auf eigenartige Weise achten und lieben.
In den Mittagspausen nahmen mein Freund Ronald und ich uns oft ein Bund Stroh und setzten uns zwischen die wiederkäuenden Tiere im Stall; ihre Gesellschaft war uns meist näher als das verhärtete Melkerinnenpack im Aufenthaltsraum. Eine Kuh quatscht niemals dazwischen oder verpfeift einen bei der Lehrmeisterin; ihr Ohrenspiel wirkt, als verstünde sie einen, ihre herrlichen Augen fixieren einen melancholisch, meditativ. Auch später, da ich mich selbst mit archäologischen Studien rumschlug, las ich von der Verehrung der alten Völker für das Rind und begriff: es sind erstaunliche Tiere, denen unsere Zuneigung und etwas Besseres als eine betonierte Stallung gebührt.
Aber für solche Sentimentalitäten war damals kein Raum, und so war ich im Verlauf meiner Lehre als Strohmann für das Einstreuen der Stände oder als Treiber für die Verbringung der Tiere zum Melkstand im Einsatz; und die drei Jahre waren eine gewissenhafte Prüfung meines Durchhaltewillens.
Den schönsten Augenblick erlebte ich an einem Frühlingsmorgen gegen sieben im Repro-Bereich: ich hatte auf meiner Reihe das Melken beendet und räumte die Milchkannen weg, als ich durchs Stalltor auf die Mistplatte sah, über der karminrot die Sonne aufging und einen purpurnen Glanz über die Rücken der Tiere legte. So erlernte ich ein Handwerk, das ich nach Eintritt der Wende nicht mehr ausüben konnte, geblieben ist mir eine merkwürdige Romantik für dieses harte Geschäft und ein etwas wehmütiges Erinnern an manche Flasche Bier und Likör, die ich hinterm Strohdiemen leerte.
Das alles ist untergegangen und fast schon vergessen, aber nach Holzweißig, sei es aus den Dörfern der Lehrzeit oder der heimlichen Hauptstadt im Süden jenes seltsamen Landes, in der ich nun lebe, kehrte ich immer zurück. Es ist ein wenig das alte Idyll der Jugend geblieben, und es scheint mir, als hätte sich seither nicht viel verändert, und ich könnte bald wieder meine ornithologischen Erkundungsgänge im Wald hinter der Kippe beginnen; aber das ist nicht erlaubt, und soweit trügt das Idyll nicht, als daß ich mir über den Bruch der vergangenen Jahre nicht bewußt werden würde.
Wenn man sich von der Kreisstadt aus auf den Weg ins Ländliche macht, ist der Schlaf der Welt etwas seltsam Gerechtes; und bald werden Trümmerflora und stinkender Bocksdorn, der überall aufrankt und junge Bäume erstickt, an jenem Sonntag vor Ostern, auf dem Asphaltweg unterhalb des Bahndamms, getauscht gegen den matten Schimmer der Silberdisteln am Wegrand und den Blick auf die Pappeln am Eingang des Dorfs, wohinter das Ärztehaus auftaucht und schließlich der Bolzplatz, umringt vom Gezwitscher der Vögel und dem seltsamen Frieden, der Ankommen heißt.
Ich gehe auf der Glück-Auf-Straße am Bolzplatz vorbei bis zur Kreuzung, dann auf der Hauptstraße an den Kastanien und Weiden entlang. Ich überquere die Strengbachbrücke, den Holzweißiger Überbau, habe noch hundert Meter vor mir, bin da. Ein Zug rauscht unter dem Überbau durch. Der Gesang der Meisen und Spatzen, Stieglitze und Grünfinken ist ohrenbetäubend. Ich öffne die Haustür, betrete das Haus mit einem Scherz auf den Lippen. Die Mutter kommt aus der Küche und lacht. Ich schließe sie in die Arme. Es gibt nur weniges, was einen glücklicher macht.
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