Nach Iannis Ritsos, dem großen Griechen, soll auf diesen Seiten auf einen der letzten Dichter deutscher Sprache hingewiesen sein, den größten Sonettisten nach dem Krieg, unbekannt und totgeschwiegen: Klaus M. Rarisch.
Sonettisten? Hat nicht Wondratschek mal? Von Törne? Biermann? Zuletzt Grass? Grass vergessen Sie gleich wieder, er hat nicht sonettiert, er hat etikettengeschwindelt. Die anderen haben, und haben eine Mode begründet, nachdem in den Sechzigern das Sonett out war; aber erneuert, auf die Höhe gebracht hat es ein einziger, Rarisch, der es zu seinem Instrument gemacht hat wie Chopin das Klavier. Nur einen Vorläufer hat er in diesem Jahrhundert: Gertrud Kolmar. Die Gipfel früherer Jahrhunderte stehen schon in Italien und auf den britischen Inseln. In Deutschland hat das Sonett wohl einzelne große Vertreter, überragende Einzelstücke auch, bei Chamisso etwa, aber keine Tradition. Ein großer Sonettist wie Uriel Birnbaum konnte vergesen werden, und Arno Holz verlor nicht nur mit seinen Stücken gegen den opportunen Hauptmann, sondern auch mit seinen Gedichten gegen Rilke, der mit Engelsausen dem entrenteten Bürger Religionsersatz bot.
Klaus M. Rarisch hat 99 Sonette zusammengestellt, ein Nachwort dazu geschrieben, den Druck preußisch sparsam selbst finanziert und den Band bei Robert Wohlleben in Hamburg in 500 Exemplaren herausgeben lassen. Eine der literarischen Taten nach dem Krieg, die man an 10 Fingern abzählen kann: Hören Sie den Paukenschlag? Sie hören nichts? Schauen Sie auf diesen Literaturbetrieb, und Sie wissen, warum. Drum flüstre ich Ihnen ins Ohr: Besorgen Sie sich den Band, bevor er ein bibliophiles Rarissimum wird.
Zu den Sonetten gebe ich das Wort an Ernst Jürgen Dreyer, der über BILANZ schrieb: »Ihr Sonett ist so ›schneidend‹ .. man spürt so schmerzlich die Stacheln des zuletzt nach innen gewachsenen Stachelkleides .. daß die grausame ›Bilanz‹ ein ganz großes Gedicht ist, das – wie Adorno über Mahler sagt – gerade dadurch tröstet, daß es keinen Trost bereithält .. daß es selbst hinter der Kunst, dem Höchsten, was wir haben, noch einen Glanz sieht .. vielleicht ›das déjà-vu, das Urgeheimnis‹ .. der Schnitt geht immer ins eigene Fleisch, und darin liegt eine tiefe Wahrheit, denn tragisch (oder komisch) ist es nicht, wie jemand Mensch ist, sondern daß er Mensch ist, und in diesem Sinn ist der Dichter ja das Paradigma der ganzen Menschheit .. Aber ich spüre .. daß ich diesen quälenden und grausam-diagnostizierenden 14 Zeilen nicht gerecht werden kann; es bleibt ein metaphysischer Blick in den Spiegel und ein schauerlicher Offenbarungs-Eid ..«
Alle große Kunst hat das mit Rarischs Sonetten gemein; Michelangelos Auferstehung in der Sixtina, hinter deren Menschenleiberhaufen ein großer Schädel steht, und in deren Mitte Marsyas seine Haut dem Richter zum Urteil hinhält, und die Haut trägt Michelangelos Züge .. Klaus M. Rarisch wird heute noch gar nicht verstanden; die Zeit tanzt mit kleineren Gespenstern. Was heißt das schon? Schütz wurde nach 300 Jahren entdeckt, der Gigant Gioacchino Belli, auch ein Sonettist, ihn hat noch kaum jemand in voller Größe erblickt. Rarisch hat, um ihn lesen zu können, Italienisch gelernt. Ihn zu übertragen, wäre eine Lebensaufgabe.
***
Die Geigerzähler hören auf zu ticken. 99 Sonette mit einem Selbstkommentar von Klaus M. Rarisch
Weiterführend →
Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Zur Lyrik von HEL findet sich hier ein Rezensionsessay von Holger Benkel. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.