Jeder gute Roman ist ein Meta-Roman, der über die Kunst der Fiktion reflektiert. Deshalb hat unsere Heimat, sobald man etwas intensiver über sie nachdenkt, die Tendenz, sich in Fiktion aufzulösen.
Stefan Kutzenberger
Das Titelbild dieses Epochenromans zeigt eine Neigung zur Philatelie, eine Briefmarke, die im Jahr der Mondlandung zum 20. Jahrestag der DDR erschienen ist, wird mit dem Poststempel vom 9. November 1989 entwertet. Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein endzeitliches Panorama über die Spätphase der DDR und zugleich dem Verblassen der alten BRD, das in dieser Binnen- und Draufsicht so noch nicht beschreiben wurde. Dieses Werk ist auf einer Metaebene eine geschichtsphilosophische Deutung dieses Momentums. Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skizziert den Denkprozess der Figuren. A.J. Weigoni hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen. Er unterstreicht einen Anspruch, die historische Totalität dieses Epochenbruchs abzubilden, und zwar in einer symbolischen, gleichnishaften Erzählweise. Es ist sehr aufschlussreich zu lesen wie kurzatmig man bisher die Untergangsgeschichte der DDR und über das Verlöschen der alten BRD erzählt hat. Als Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies, wie es Ingo Schulze in Adam und Evelyn es getan hat – oder als Blick in die realsozialistische Vorhölle wie Uwe Tellkamp in Der Turm. Die strukturelle Vielgestaltigkeit der Szenen in Abgeschlossenes Sammelgebiet, die Wechsel in Stilebene und Erzählform nutzt Weigoni, um auch in die hinteren Winkel seines Panoramas zu spiegeln und somit auch den Untergang der alten BRD zu zeigen. In lange und vor allem geduldig ausgesponnenen Handlungsfäden werden viele verschiedene Personen miteinander verbunden und streben gemeinsam dem Ende entgegen. Poesie ist immer auch eine Befragung der identitären Konzepte, der Wahrnehmungen, der Zuschreibungen, weil genau die Diskurse, die sich sehr eng um Identität drehen, selbst das Problem sind. Im Mittelpunkt des weit verzweigten Romans steht das zentrale Dreigestirn der Lebensabschnittsgefährten Charlotte, Jane und Moritz symbolisiert durch den Kapiteltrenner, der sich generiert durch jedes Kapitel des Romans zieht, beginnend von Adams herzhaftem Biss, bis hinzu dem, was von der Liebe übrig blieb.
Die Écriture von A.J. Weigoni ist Enthüllungsarbeit, Trauerarbeit, Arbeit am Denken. Und letztlich an der Sprache selbst. In Abgeschlossenes Sammelgebiet zeigt er Entwurzelte, die an der alten Gesellschaftsordnung scheitern. Es ist die enorme kompositorische Leistung, mit der Weigoni in 25-jähriger Arbeit die Stoffmasse bewältigt hat. Das Buch ist von epischem Zuschnitt und gleichsam entwirft es ein großes erzählerisches Spektrum mit den Schauplätzen Düsseldorf, Berlin, Rügen, Paris und New York, sowie den unterschiedlichsten Lebensläufen, die er zudem mit einer Vielzahl literarischer Mittel darstellt und diese Details zu einer inneren Geschlossenheit zusammenzufügen. Dazu setzt er geschickt wiederkehrende Motive und seine Fähigkeit zur differenzierten Schilderung von Lebensläufen ein. Auf einen Wenderoman will man dieses Buch nicht reduziert wissen, denn über das Erzählte hinaus arbeitet Weigoni an einem unausgesprochenen Projekt einer Rückgewinnung des Epischen. Er entwirft in diesem Roman den Kosmos der untergehenden BR/D/DR völlig wieder erkennbar und völlig neu als Musik aus Gedanken, Worten, Figuren, Realität und Fantasie. Es ist der Aufbruch aus einer stillgelegten Zeit, die hier beschrieben wird, und aus der Kulturversunkenheit herausgerissen wird. Dieser Schriftsteller einwirft ein spiegelverkehrtes Panorama der verkrusteten BRD, das die Schichten und Milieus der DDR-Gesellschaft von der Intelligenzija, der Nomenklatura, den Ausreisewilligen, den Arbeitern bis zu aufmüpfigen Künstlern und bösartigen Nachbarn erfasst. Wir finden epische, niemals langweilige Schilderungen, eine souveräne Komposition dieses Romans, seiner Stimmigkeit, den zahllosen, nie aufdringlichen literarischen Anspielungen und Symbolen. Außerdem entfaltet der Roman eine soghafte Wirkung, der man sich nicht entziehen kann. Ausgefeilte assoziative Passagen zeigen Weigonis Fähigkeit zur Verdichtung, zu einem elegischen, symbolischen Schreiben. Die einzige Rekonstruktion der Vergangenheit, die in diesem Jahrzent Lebendigkeit beanspruchen kann, ist ihre kongeniale Neuschöpfung.
Hinter Braunschweig beginnt die asiatische Steppe.
Konrad Adenauer
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch eine Erinnerungsscham. Weigoni wagt den coolen Blick auf die untergehende Östliche und der drei westlichen Besatzungszonen. Die Sichtweise, dass Gesellschaften ab einem gewissen Zivilisationsgrad die Werkzeuge politischer Willensbildung abhandenkommen, wirkt zum Ende hin erhellend. Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein großflächig angelegtes Selbstvergewisserungsverbuch. Es geht um nicht weniger als den Versuch, dieses neue Verhältnis, das „Zeitalters der Extreme“ (Eric Hobsbawm), zu begreifen. Weigoni widerlegt poetisch, dass deutsche Themen im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung bewältigt wurden, auf dem Territorium der DDR sind sie weiterhin virulent. Selbstverständlich geht es in diesem Epochenroman um die deutschesten Themen: Innerlichkeit, individuelles Pathos und um Schicksal. Dieses Epos ragt zum 25. Jubiläum des sogenannten Mauerfalls aus der Saisonware deutscher Gegenwartsliteratur weit heraus. Dieser Schriftsteller hat den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden, und die völlig ausgelaugte alte BRD geschrieben. Weigoni verweigert bei aller Detailgenauigkeit des Blicks den verklärenden Gestus. Dies allein wäre bereits, nach all dem Wischy-waschy der Biermanns, Wolfs, und Heins, eine Erlösung. Dieser sprachmächtige Schriftsteller präsentiert was die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte nicht hatte, er ist: genialisch ausufernd, nutzt die ganze Bandbreite vorhandener Erzählmittel, ist voller Humor und Melancholie, Wut und Sentimentalität, Spott Ernsthaftigkeit und versteckt dabei nicht Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Es ist ein Echolot in die Zeit zweier untergehender Länder. Was warum in welchem Umfang als erinnerungswürdig gilt, ist auf eine konstruktive Weise unklar, dies entscheidet nicht die Vergangenheit, sondern – mit gebührendem Abstand – die Jetztzeit. Darauf kann man aufbauen.
Der Roman ist stets ein hybrides Gebilde und ein Laboratorium des Erzählens gewesen, in dem Autoren und Leser die Probe auf das Exempel der Schreibweisen und Lesarten machen konnten, die ihre Kultur und Mentalität bestimmen.
Matthias Bauer
Die Zeiten, in denen literarische Heimatmotive oder -gefühle unter Kitsch-Verdacht standen und „Heimatkunst“ mit völkisch-nationalen Traditionen ganz eng assoziiert war, sind seit etlichen Jahren vorbei. Die den Ausgrenzungseffekt scheinbar relativierenden Öffnungen der „Heimat“ täuschen nicht darüber hinweg, dass die impliziten Differenzbildungen des Eigenen und Fremden wirkungsmächtig bleiben und jederzeit in gesellschaftliche Selektions- bzw. Ausschlussprozesse münden können. Auf die Heimat bezogene Literatur umfasst alles von rosarotem Kitsch bis zu düsterstem Horror. A.J. Weigoni verhandelt in den Lokalhelden Themen wie Heimat, Grenze, Fremde und damit eng verknüpft die Identitätskonzepte des Rheinländers. Seine Erinnerungsarbeit besteht aus vielen kleinen alltäglichen Szenen, die dem Leser die alte Bonner Republik näherbringen, ihren Humor begreiflicher und ihr Ende melancholischer machen als jede Objektivität abzielende Darstellung.
Sein Erzählen gleicht dem Rhein, es mäandert. Wenn man alle Sätze die Weigoni über das Rheinland geschrieben hat, zu Straßen für einen Stadtplan formt, dann winden sie sich. Dieser Romancier läßt sie ansteigen, schlängeln und im wahrsten Sinne des Wortes versacken. Durch diese Prosa kann man gleichsam flanieren; es ist lesbare Topografie. Mit den Lokalhelden hat Weigoni das Unmögliche gewagt: in einem Roman, der strengsten Formgesetzen folgt, gleichzeitig das Chaos des täglichen Lebens mitzuerzählen. Man verliert sich in dieser Prosa, verweilt bei Impressionen, steigt durch Hinterhöfe, rastet auf Rheinterrassen, verlässt das Geschriebene für Augenblicke und findet sich meist in einem Brauhaus wieder.
Der Roman ist ein eigenwilliger Hybrid aus Erzählweisen. Die Lokalhelden zeichnet sich durch eine simultane Kompositionstechnik aus, welche die Anwendung von Montage forcierte und mittels Einbau der rheinischen Mythen sowie einer ungewöhnlichen Interpunktionsweise auf dem Rahmen fällt. Fulminant ist zugleich die zeitliche Reduktion der Handlung auf einen Tag im „Landeshauptdorf“, die aus den parallel zueinander verhandelten Schicksalen verschiedener Figuren das Leben in der Achsenzeit reflektierte.
Weigoni hat die Flüchtigkeit und die Volatilität des vielgestaltigen Rheinlands eingefangen und dem kontinuierlichen Kommen und Vergehen ein Schnippchen geschlagen. Alles fliesst, alles dreht sich unablässig um sich selbst. Nichts läuft auf etwas hinaus, es gibt keinen Endpunkt, kein Ziel, keine Letztbegründung, keine Grenze. Es sind die feinen Risse in der scheinbar sorglos-gemütlichen Welt zwischen dem 9. November 1989 und dem 11.09. 2001, die diese Prosa offenlegt. Weigonis hat ein feines Sensorium für soziale Wirklichkeiten, in dieser Prosa macht er gleichsam die inneren Landschaften sichtbar, sie leuchtet wie die Gaslaternen in dem Veedel, in der er lange Jahre gelebt hat.
Die festgefahrenen Lese- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Leser aufzumischen, ist ein Anliegen von Weigoni. Aus rein formaler Sicht erreicht der 60-Jährige das mit sprachspielerischer Leichtigkeit. Es findet sich eine stilistische Kargheit als das auffallendste künstlerische Mittel dieses Romans auch bereits in seinem Vorgänger angelegt. Der stabilitas loci des Rheinlands wird in den Lokalhelden sowohl als identitätssichernde Einbindung in beruhigend Vertrautes, als auch als Ausgeliefertsein an die Schrecken einer übermächtigen Tradition dargestellt, der das Individuum vergeblich zu entkommen sucht. Spätestens seit Ludwig Thoma gibt es in der Literatur satirische Bissigkeit gegenüber dieser Zurichtung der jeweiligen Heimat zur touristischen Traumwelt, dieser wird ernüchternder Realismus durch Beschreibung der nicht-idyllischen und nicht-idealen Seiten der jeweiligen Region entgegengesetzt. Damit schleicht sich ein Bewusstsein von Inszenierung in den Begriff Heimat ein, ein Schuss Ironie. Man erlaubt sich Heimat im Modus gesellschaftskritisch auf sie blickender Uneigentlichkeit, was beim Blick auf die Sensationen des Gewöhnlichen dazu führt, von ihren Zumutungen in Anspruch genommen zu werden.
Seit Edgar Reitz’ Filmreihe hat sich die Tendenz als „kritischer Regionalismus“ etabliert. Die Lokalhelden setzen – wenn man so will – die kritische Heimatliteratur fort wie Johannes Bobrowskis Litauische Claviere, Horst Bieneks Gleiwitzer Tetralogie oder Manfred Peter Heins Fluchtfährte, in denen die verlorene Heimat zugleich beschworen sowie als Ort der Ideologien dargestellt und daraufhin befragt wird, wie sich nationales Denken ausgebreitet hat. Mit großer Könnerschaft skizziert Weigoni das Geschehen und gewährt Einblicke in Leben und Denken der Rheinländer. Formale Akrobatik trifft in diesem Roman auf Sprachspielereien und tiefgründige Metaphern. Es ist in perfekt arrangiertes Nebeneinander von knallhartem Realismus, Beschreibungen eines gestörten Zusammenlebens und feinsinnigen inneren Monologen. Weigoni entwickelt Typen aus Bewegungsmustern, Marotten, Stereotypen und allem, was die Körper sonst noch der Erfüllung gesellschaftlicher Rollenerwartungen unbewusst entgegensetzen.
Für die Rheinländer gilt es mit Selbstbewusstsein am Vorläufigen zu arbeiten. 1989 ist zu einem Datum geworden, das janusköpfig nun das Vorher mit einem unruhigen Danach verschränkt. In einem Metanarrativ wirft Weigoni die Frage auf, in welchen erzählerischen Formen und Formaten sich rheinische Lebensläufe überhaupt sinnfällig binden lassen – ohne ihnen Unrecht oder Gewalt anzutun. Es ist eine die scharfsichtige Demaskierung des „Weiter so Deutschland“. Dieser Roman beschreibt die rheinische Seele und ihren Mikrokosmos. Eine Funktion, die der Darstellung von Emotionen dabei zukommt, besteht in der Organisation der verschiedenen Identitätsangebote für diese Figuren. Es ist, als würden der Alkohol plötzlich nicht mehr wirken und man ist gezwungen, sich mit der Fassadenhaftigkeit der Düsseldorfer Altstadt zu befassen, wie schmutzig es hinter all dem schönen Schein ist. Die unerbittliche Diagnose lautet: auch die rheinische Bourgeoisie ist nicht heilbar.
Das Heimat-Erlebnis wird ausgelöst durch Signifikanten, die Vertrautheit implizieren. Der rheinische Dialekt ist einerseits die Sehnsucht nach dem Authentischem, nach dem Ereignis, und damit Ausdruck einer Trägheit des Individuums gegenüber den vereinheitlichenden Welt- und Erklärungsmodellen; andererseits aber sind sie wiederum nur Teil eines autoreferenziellen Spiels der Zeichen, eine weitere Drehung eines Kreislaufs der Simulation. Die Ego-Zweifel, die die Rheinländer plagen, sind gleichzeitig Leid und Vergnügen, sie machen sie erst zu Menschen, zu solchen, die sich gerne Gedanken um sich selbst machen. Sie sind klug, liebevoll und liebenswert und stehen immer kurz davor zusammenzubrechen. Heimat ist in den Lokalhelden mehr als ein nur Gegebenes, Heimat ist in diesem Roman ein Konzept, das über Gegebenes gelegt wird und dort Vorstellungen von Heimat dekonstruiert. Eine große Stärke dieses Romanciers ist sein literarisches Fingerspitzengefühl für die Feinheiten, die nicht auserzählt werden oder sich erst später erschließen. Das Rheinland befindet sich in dieser Prosa in einem fortwährenden Schwebezustand. Mit diesem Roman hat Weigoni seine eigene Lebensgeschichte in die Topografie des Rheinlands eingeschrieben.
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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend → Zur historischen Abfolge der Stacheldrahteinkerbung in die Landschaft (incl. „Todesstreifen“), eine historische Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Angelika Janz, eine Schwester im Geiste, über die Begegnung mit Weigoni und Werk. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt. Ein abschliessender Essay erkundet, wie A. J. Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe stellte.
Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.
Weiterführend →
Lesenswert auch das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierungvon Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die untergegangene Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Als Letztes, aber nicht als Geringstes, Denis Ullrichs Rezensionsessay.