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Vera Strange ist von der Spieluhr gehüpft, weil sie sich nicht mehr für andere im Kreis drehen wollte. Sie nutzt ein Stipendium, um eine Ausstellung für die Galerie Terry Boone vorzubereiten. In N.Y.C. wird sie sich ihrer Multioptionalität bewusst, während ihre Mitmenschen dem Individualismus weitestgehend abgeschworen haben. Hier ist Kultur spekulatives Kapital. Kein Unternehmen kann es sich leisten, eine Ware einfach so auf den Markt zu werfen – es muss sie mit Bedeutung aufladen. Totalökonomisierung ist Totalkulturalisierung. Auffallen kann nur, was sich unterscheidet. Im Kampf um Differenz war die Gegenkultur schon immer eine Nasenlänge voraus. Die gegenkulturelle Politik ist keineswegs revolutionär, sondern eine der wichtigsten Triebkräfte des Konsumkapitalismus.

»Mach‘ deine Kunst so allgemeinverständlich, dass sie für die Medien taugt. Und mache sie zugleich unverständlich genug, um auch den intellektuellen Ansprüchen der Kunstkritiker, der Händler und Käufer zu genügen«, rät ihr Jack Dripper als er ihre comicartigen Entwürfe betrachtet Ihre Piktogramme sind das visuelle Esperanto, die Universalsprache der modernen Welt. Vera ist das Riot Girl im Kunstbetrieb. Sie pfeift auf Genregrenzen, mixt Malewitsch mit Graffiti, Architekturentwürfe mit Comics. Am Ende lässt sie alles auf der Leinwand explodieren und klebt einen Kaugummi drauf. Jack hinterlässt zur weiteres Inspiration ein Round–About–Midnight–Tape im Recorder.

»Etwas zu erfinden, ist leicht, es zu verkaufen, ist die eigentliche Schwierigkeit. Ich sende Botschaften, die sich selbst erklären«, entgegnet Vera schnippisch, weil in ein Psychodram auf sexualneurotischer Basis hineinschlittert.

»Wir brauchen den fremden Untergang, um den Gedanken an unseren eigenen zu ertragen. Die Existenz an sich ist tragisch, brutal und unglücklich. Nur ab und zu passiert etwas Heiteres, das erfrischt. Darauf folgt der Rückfall in die Tragödie des Alltags, die völlig sinnlos ist«, trägt Jack hastig sein Verinnerlichtes vor, immer in der Selbstvergewisserungen eines Denkers, der logische Ketten geniesst und die Ungereimtheiten in seinem System bohrend aufsucht und befragt. Dabei wirbt er um Vera, missioniert, will überzeugen, will seine Gleichheit anbieten, sie dem Unterlegenen, Unterentwickelten, dem Barbaren schenken. Wer so spricht, möchte die besondere Tiefenschärfe seiner Sensibilität ausstellen. Sein Sprechen und Denken wird vorgeführt als besonders gutwilliges Verhalten, das aber gerade dadurch zu besonders grauenhaften Ergebnissen führt.

»Wir sind so besessen von 24–Stunden–Live–Berichterstattung, dass wir vergessen, dass die Wahrheit oft in dem liegt, was wir erfinden«, begründet Vera, dass Dialektik keine Anweisung zur Behandlung von Kunst ist, sondern ihr inne wohnt. Langsam beherrscht Vera die Welt der Worte und spürt einen Wunsch nach der Errettung der äusseren Wirklichkeit. Transgression und Transformation werden ihre Lieblingswörter. Physiker sprechen von einer negativen Interferenz, wenn zwei Wellen zusammentreffen und sich so gegenseitig auslöschen. In diesen Fall begegnen sich Gefühl und Verstand auf folgenreiche Weise. Das Ergebnis liegt zwischen Wahnsinn und Apathie, beide häufige menschliche Reaktionen angesichts komplexer Problemstellungen. Menschsein und rational zu handeln passt ebenso wenig zusammen wie Materie und Antimaterie. Wenn beides aufeinander prallt, entsteht unbändige Energie.

Es gibt in N.Y.C. zwei Sorten von Einwanderern: solche, die die Finger in ihre Wunden legen, und solche, die die Ethnokarte ausspielen und sich genauso fremd geben, wie es von ihnen erwartet wird. Im Auftrag von Paul Pozozza sammelt Jack Kunst, bevor sie zu Sammlerstücken werden. Jack führt das Leben eines Exilanten, ohne je ausgereist zu sein. Stoisch erträgt er sein Schicksal, mit einem Gesichtsausdruck, dessen leichte Sorgenfalte kaum je eine Regung verrät. In seinen traurigen Augen glänzt zwar eine gewisse Entschlossenheit – doch es ist die müde Entschlossenheit eines ungeliebten Pflänzchens, das sich zwar knicken, aber nicht entwurzeln lässt. Sein Vergehen ist es, aus dieser Logik auszuscheren. Er weigert sich einfach, so zu sein wie die anderen, die einen wie ihn auch gar nicht zulassen würden in ihren Reihen. Sein Streben gilt etwas anderem.

»Alles lässt sich auf geographische Koordinaten, auf profane Punkte auf der Landkarte des Schicksals zurückführen«, beschreibt sie ihrem Kurator das Vorhaben. Funktionalismus ist die Abwesenheit des Ornaments. Und die Abwesenheit aller Ornamente ist das wirkungsmächtigste Ornament von allen. Imperiale Konzernzentralen, aus Glas, Metall und ausladendem Stolz gefertigt, haben in N.Y.C. die Lufthoheit übernommen und der Stadt eine neue Markierung gegeben. Das Chrysler–Building gehört zu einer Generation von Bauten, die ihre Muster nicht mehr aus der Hochkultur eines Jahrtausend alten Vokabulars der Architektur beziehen, ob Säule oder Stütze, Stele oder Obelisk. Dieser Turm ist kein gestapelter Aktenschrank, keine Bastion des Bankenkapitals, es ist eine Zitadelle der Macht. Im Zeitalter des Global Village rücken gebaute Zeichen nebeneinander wie die Gemälde in einem Museum. Ganz so, als könne man sie in den frei werdenden Plätzen des Deindustrialisierung neu hängen. In der Fiktion Realität mutieren Menschen zu Wirtschaftssubjekten. Die Anzeichen sind der Realität umso adäquater, je weniger sie vorgeben real zu sein.

»Von der Kommunikation aus betrachtet mag Aufmerksamkeit in N.Y.C. ein unlimitierter Tauschwert sein, vom einzelnen Menschen aus gesehen, ist sie ein limitierter Gebrauchswert«, warnt Jake sie davor, dass die stete Forderung nach Beachtung wegen ihrer Überdimensionierung nicht zur verstärkten Aufmerksamkeit, sondern geradewegs in die Indifferenz führt.

Veras Bilder erzählen Geschichten. Geschehnisse, gespeichert in Schichten. Zu unterst: Architekturpläne von Sportstadien, verbunden zu einer Megaarena. Darüber hat Vera gestische Striche gezeichnet, die eine eigene Dynamik entwickeln, sich zusammenrotten oder zu wilden Verschlingungen verbinden. Am Ende heben sie die Architektur aus ihren Angeln: Im Wirbel der Linien scheint die Arena selbst zu kreiseln und an einigen Stellen gar in Flammen aufzugehen. Thematisch bleibt Vera dicht an der Moderne. Sie komponiert leuchtende Bilder in neuer Anordnung zu einer poetisch–rhythmischen Grossstadtsinfonie, ein narratives, von abstrakten und surrealen Sequenzen durchzogenes Bilderballett, das mit jenem rhetorischen Pathos eingeweiht wird, dem die Skepsis ruhig auf dem Fusse folgen darf. Ihre Bilder tragen dazu bei, die Funktion von Kunst im öffentlichen Raum zu reflektieren. Vera Kunst am Bau wirkt wie eine lyrischere Version des grellen Werbespektakels, das am Time Square die Hochhäuser illuminiert. Ihre Arbeit handelt von Menschen, die sich an die beschleunigte Veränderung ihrer Umwelt anpassen, von elektrifizierten Landschaften und von der Wahrnehmung, die sich durch die neuen Medien unwiderruflich verändert.

Das Auftreten von hektischen Massen als soziales Phänomen hat neben einer verrätselten Abgründigkeit auch genug Lächerliches an sich. Vera ist bei der Ausstellungseröffnung verunsichert durch die Überforderung und die Anmassung, vor einem Raum voller unbekannter Menschen die Stimme zu erheben:

»Wenn einem alles genommen wurde, dann braucht man das Überflüssige«, scherzt sie und begründet damit das Überzählige: das Sammeln von Kunst. Die Erlebnisgesellschaft sehnt sich nach der Konfliktsituation, doch die alten Muster haben in N.Y.C. ihre Tauglichkeit verloren und je näher man hinschaut, umso mehr lösen sich die scheinbaren Dichotomien auf.

»Wo die Gesellschaft versagt, will sich das monadische Ich trotzig behaupten und in übersichtlichen Schritten verbessern«, behauptet ihre Galeristin. In ihrer Furchtlosigkeit, Grenzen der Distinktion zu überschreiten, erscheinen die New Yorker als die geschmacksichersten Menschen auf der Welt. Eine Weile galt es als ausserordentlich progressiv, einen elaborierten Code gegen den restringierten Geheimsprachenschlüssel auszuspielen, nun ist Pathos wieder cool.

»Mir scheint die figurative Malerei nicht geeignet, um sich mit der Komplexität und der Multidimensionalität des Lebens auseinanderzusetzen. Ironie hilft, Wahrheiten auszusprechen, die man sonst nur mit erhobenem Zeigefinger von sich geben kann. Ich habe etwas zu sagen, und gepaart mit Ironie geht das leichter«, scherzt sie mit der Galeristin auf der Ausstellungseröffnung. Jack sorgt dafür, dass sich ihr Glas nicht leert, um sie bei Laune zu halten.

»Differenz ist wichtig, an ihr zeigt sich wahre Extravaganz im Gegensatz zu einer bloss dekorativ ummantelten Leidenschaftslosigkeit«, schmeichelt er ihr. Trends zu benennen ist in N.Y.C. ein müssiges Unterfangen. Vera fällt auf, dass sich das Problembewusstsein der Kunstinteressierten hier meist auf die eigene gesellschaftliche Schicht richtet. Für sie ist das Private bloss die Busskammer in einem öffentlichen Gebäude; die Demütigung erreicht sie auch hier.

»Die tiefste Heimlichkeit der Unschuld ist zugleich die Angst«, verabschiedet sich Vera von der Galeristin. Reduktion ist ihr Verfahren, um genau zu sein und sich in der Vielfalt nicht zu verlieren. Vera Strange weiss um ihre Gefahr, in der Welt einer traumverloren Sterilität entfalten sich völlig autistische Personen konsequent, bis die Illusion kippt. Sie trifft in N.Y.C. auf die Oberflächlichkeit, Konsumgeilheit und die Bildungsdefizite der Menschen, und erfährt die transkontinentalen Privatgesellschaften als einen Killervirus, der den Typus der skrupellosen Geschäftemacher hervorbringt; und doch kommt sie in den usa nicht los von den Restbeständen humanistischer Werte.

Allem Energiefluss wohnt die Verunreinigung inne, ein Erlahmen ebenfalls. Die Klage über Schlaflosigkeit trifft den Nerv der Zeit, unproduktives Pennen hat ein denkbar schlechtes Standing in N.Y.C., wer schläft, verpasst das Leben, lautet das Credo einer Epoche, in der die Menschen fit und ausgeschlafen sein sollen und in der sich gerade deshalb immer mehr Erschöpfte nervös und ruhelos auf den Laken wälzen. Eigenliebe und Selbsthass lagen bei ihr dicht beieinander. Vera ist ein melancholischer Tatmensch, bei dem die Seele ausgekernt und bloss daliegt. Ihr bleibt die gähnende Einsicht, dass sie keine Antworte mehr hat. Die Verausgabung von Individualität und Intimität, Aufgeben von Grenzen, Resignation, Verarmung. Die Tragödie der Affirmation und des unbedingten Bewahren–Wollens mündet in den zwangsläufigen Tod.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.