In der vorstehenden Betrachtung sind die hervorragendsten Vorgänger der Romantiker an unsern Blicken vorübergegangen; bis zu ihren höchsten Blüten, bis zur rhetorischen Idealität Schillers und zur symbolischen Naturpoesie Goethes erschloß sich uns diese vom Rationalismus beherrschte Zeit.
Aber der deutsche Geist fand hierin kein Genüge und keine Ruhe; die Saatkörner, welche Lessing, Hamann und Herder ausgestreut, gingen in dem sich unbefriedigt fühlenden deutschen Norden auf. Die Vermittelung zwischen der sichtbaren Natur, wie sie bei Goethe unter der schönsten Form in ihrer symbolischen Bedeutung erschienen war, und der Welt des Unsichtbaren unternahm ein neues Geschlecht. Allegorie und Symbolik genügten ihm nicht mehr; es verlangte nach einem wesentlicheren Inhalte, nach einer nahrhafteren Speise für den hungernden, an sich selbst nagenden Geist. So wurde es auf das Positive wieder hingeführt. Goethes Wirklichkeit und Schillers Ideal hatten für dasselbe nur Bedeutung in bezug auf ein Drittes über ihnen, wo beide bereits versöhnt und eins sind: auf die Menschwerdung Christi, des göttlichen Vermittlers von Natur und Freiheit. Diese Idee erfassend, erklärten sie sich mit jugendlich feuriger Begeisterung zu Rittern des Christentums wider den herrschenden Rationalismus und nahmen zugleich auch alles zu Hülfe, was das Christentum in den Jahrhunderten der Vergangenheit, da es geherrscht, in der Literatur der Völker hervorgebracht hatte. –Freilich aber äußerte sich dieses Bestreben zunächst, da die Jünger ihre Milch an einer ganz andern Brust getrunken und in einer andern Luft aufgewachsen waren, als ein unsicheres Suchen und Herumtappen einer sich selbst kaum verständlichen Sehnsucht. Die Poesie hatte sie vor die Türen der katholischen Kirche, vor das im Walddickicht versteckte und längst vergessene Heiligtum hingeführt; kein Wunder daher, wenn sie ihre Aufgabe, die zur guten Hälfte eine ethische war, vorzüglich als eine ästhetische nahmen und statt der sichtbaren lebendigen Kirche sich nicht selten in einem träumerischen Halbdunkel mit einer bloßen poetischen Symbolik dieser Kirche, einer neuen christlichen Mythologie abzufinden suchten. War jene Zeit ja doch selbst eine Feenzeit, da das wunderbare Lied, das in allen Dingen gebunden schläft, zu singen anhob, da die Waldeinsamkeit das uralte Märchen der Natur wiedererzählte, von verfallenen Burgen und Kirchen die Glocken wie von selber anschlugen und die Wipfel sich rauschend neigten, als ginge der Herr durch die weite Stille, daß der Mensch in dem Glanze betend niedersank. Es war, als erinnerte das altgewordene Geschlecht sich plötzlich wieder seiner schönern Jugendzeit, und eine tiefe Erschütterung ging durch alle Gemüter, da Schelling, Steffens, Görres, Novalis, die Schlegel und Tieck ihr Tagewerk begannen.
Es bedarf wohl nur dieser Namen, um den Umfang dieser geistigen Erschütterung anzudeuten, die alle Richtungen der neuern Bildung, Politik, Philologie und Medizin nicht ausgeschlossen, erfrischend und belebend durchdrang. Von Grund aus verjüngt aber wurde insbesondere die Poesie und gewann einen überraschenden Reichtum an Inhalt und Formen, von dem die jetzigen Poeten, wider Wissen und Willen, noch bis auf den heutigen Tag verdrossen zehren. Auch hier begannen die Romantiker erst kritisch. Aber ihre Kritik war keine negative Demonstration; nach dem Grundsatze vielmehr: daß Poesie nur durch Poesie rezensiert werden könne, ward sie in lebendigem dichterischem Kampfe selber zum Kunstwerk, wie Tiecks Zerbino, A. W. Schlegels meisterhafte Besprechung der damaligen literarischen Zustände und dessen berühmte Triumphpforte, unter welcher der Theaterpräsident Kotzebue feierlich begraben wurde. Ebenso traten sie der prosaischen Misere nicht mit theoretischer Langweiligkeit, sondern faktisch mit leuchtenden Vorbildern entgegen, um sie an einer größern Vergangenheit aufzurichten. In diesem Sinne haben ihre noch unübertroffenen Übersetzungen einen entscheidenden Einfluß auf unsere Literatur ausgeübt. Calderon wurde von ihnen gleichsam erst entdeckt. Auch Shakespeare war bis dahin fast nur eine Geheimwissenschaft der Goetheschen Jugendgenossen, und Eschenburgs und Wielands Versuche gaben kaum den gelehrten Apparat zu einer künftigen Übersetzung; erst durch Schlegel wurde er wirklich deutsch und populär.
Und hier können wir nicht umhin, zugleich einen Vorwurf abzuweisen, den die neueste Zeit aufgebracht und der sich seitdem gedankenlos von Buch zu Buch forterbte, den Vorwurf nämlich, daß die Romantik eben durch jene universale Umschau das neue Geschlecht von deutscher Natur und Kunst entfremdet und einem Quietismus gehuldigt habe, der sie politisch unfähig und für die großen Fragen der Gegenwart gleichgültig gemacht. Denn konnte wohl, fragen wir, eine welthistorische Bewegung, wie die im Jahre 1813, die noch zu Kotzebues Zeiten für Narrheit gegolten hätte, so nur von ungefähr aus den Wolken fallen? Waren es denn nicht eben jene quietistischen Romantiker, welche das alte Sagenbuch der deutschen Nationalpoesie wieder aufgeschlagen und, auf die alten Burggeister weisend, überall im stillen deutschen Sinn und deutsches Recht weckten und an Tugenden erinnerten, die der Gegenwart not taten? Oder habt ihr die männlichen Klagen und gewaltigen Lieder schon vergessen, womit Friedrich Schlegel unausgesetzt zur Umkehr aus der moralischen Verwesung mahnte und die wie ein unsichtbarer Heerbann durch alle Herzen gingen? Und dies alles in einer Zeit, wo Napoleon sein Schwert über Deutschland gelegt hatte, wo es keine müßigen Spaziergänge europamüder Poeten galt, um für hochtrabende Floskeln den Lobsalm der Journale einzuwechseln, sondern wo es galt, das Leben für den Ernst des Lebens einzusetzen. Und als es nun endlich zu handeln galt, traten Görres, Steffens, Schenkendorf, Raumer und andere der Besten an die Spitze der Jugend, die in der Romantik aufgewachsen war und, anstatt altklug zu schwatzen, das Vaterland befreite.
Noch ist kein Menschenalter vergangen, seit diese Romantik wie eine prächtige Rakete funkelnd zum Himmel emporstieg und, nach kurzer wunderbarer Beleuchtung der nächtlichen Gegend, oben in tausend bunte Sterne spurlos zerplatzte. Der Pöbel lacht, und die Gebildeten, kaum noch vom Staunen und Entzücken erholt, reiben sich die Augen von der Blendung und gehen gleichgültig wieder an ihre alten Geschäfte. Woher der rasche Wechsel? Was hat diese Poesie verbrochen, daß sie überhaupt einmal Mode werden und ebenso schnell wieder aus der Mode kommen konnte? – Zur Verständigung dieser befremdenden Erscheinung und ihrer historischen Notwendigkeit, wollen wir Reichtum, Schuld und Buße der Romantik in den folgenden Umrissen noch einmal an uns vorübergehen lassen.
Allein seitdem haben sich die Stimmungen, Geschmack und Gesinnung so wesentlich verändert, daß diese Periode dem Angedenken der Jetztlebenden schon fast entschwunden ist und der Gegenwart vielfach rätselhafter und unerklärlicher erscheint als manche weitabgelegenen Zustände. Und doch befindet sich unsere jetzige Poesie eigentlich nur in den Nachwehen jener vorzeitigen Fehlgeburt und hat jedenfalls von ihr, ohne sich dessen bewußt zu sein, ihre gegenwärtige äußere Gestalt empfangen. Es sei uns daher erlaubt, diesen Literaturabschnitt etwas ausführlicher zu behandeln und zur Rechtfertigung unserer Ansicht die Dichter, mehr als bisher, für sich selbst reden zu lassen, um mitten in der Verwirrung von Sympathien und Abneigungen, Mißverständnissen und Vorurteilen die Stellung möglichst klar zu machen, welche die Romantik in dem allgemeinen Bildungsgange der Nation einzunehmen scheint.
Fragen wir aber nun nach dem eigentlichen Wesen dieser geistigen Umwandelung, wie sie damals in der sogenannten romantischen Schule erschien, so müssen wir vor allen anderen Novalis ins Auge fassen, weil er allein schon die ganze innere Geschichte der modernen Romantik, ihre Wahrheit und ihren Irrtum, in allen ihren Hauptrichtungen darstellt, oder doch andeutet.
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Zu den Romantikern zählt Joseph von Eichendorff: Novalis, Wackenroder, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Adam Müller. Steffens. Görres. Arnim. Tieck. Werner. Brentano. Schenkendorf. Fouqué. Uhland. Kerner. Kleist. Platen. Hoffmann. Immermann. Rückert. Chamisso.
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Im Blick auf den Geistreichtum eines guten Essays kann man den Essay als den großen Bruder der Twitteratur auffassen.