Seit es Menschen gibt, können sie sich Wörter und Wortkombinationen merken. Nichts kann einen Holocaust überleben außer Gedichten und Liedern. Keiner kann sich einen ganzen Roman merken. Niemand kann einen Film, eine Skulptur, ein Gemälde beschreiben. Aber solange es Menschen gibt, können Lieder und Gedichte weiterleben.
Jim Morrison
Jim Morrison wollte immer ein Poète maudit sein. Bereits in seiner Schulzeit hatte er lyrische Versuche verfasst. Einer seiner literarischen Helden war der Skandaljüngling Arthur Rimbaud. In einem Brief hatte Rimbaud 1871 von der „Desorganisation der Sinne“ geschrieben, „mit dem Ziel, in unbekannte Gefilde vorzustoßen“, dies wurde zum Leitmotto für Morrisons eigene Dichterexistenz. Weitere Einflüsse sind der französische Schriftsteller Louis Ferdinand Céline, sein Roman „Reise ans Ende der Nacht“ von 1932 lieferte den Titel zu dem Doors-Song End of the Night. Auch zu den Schriftstellern William Blake und Percy Bysshe Shelley empfand Jim Morrison eine Wahlverwandtschaft. Beide waren zu ihren Zeiten literarische Rebellen mit sozialreformerischen Ideen gewesen. Ein Text von Blake lieferte der Band „The Doors“ auch ihren Namen. Friedrich Nietzsche war für Jim Morrison eine Art geistiger Vater. Dabei faszinierte ihn vor allem Nietzsches provokante Haltung, Morrison inhalierte sie geradezu. In seinem ersten Buch The Lords and the New Creatures 1969 kann man den Einfluss von Nietzsches Zarathustra auf die Gedichte und Texte Morrisons erkennen. Und natürlich war Morrison vor allem dem zugeneigt, was Nietzsche „dionysisch“ nannte: dem Rausch, dem Traum, den Trieben.
Wenn meine Dichtung auf irgendetwas abzielt, dann darauf, die Menschen aus den Zwängen zu befreien, innerhalb derer sie sehen und fühlen.
Jim Morrison
Zu Jim Morrisons raschem Aufstieg als Rockstar und seiner außerordentlichen Popularität in den späten 1960er Jahren trugen zahlreiche Faktoren bei, darunter die von den Doors verkörperte Antithese zu den verklärten Traumwelten, für die Teile der Folkszene und die Flower-Power-Musik der 1960er Jahre standen, Morrisons „etwas raue Baritonstimme“ und seine erotische Ausstrahlung, seine dunklen, anspruchsvollen Texte und seine spektakulären Auftritte. Morrisons Bühnenauftritte waren entsprechend choreographiert: Hüpfer, Sprünge, konvulsivische Bewegungen, manchmal am Boden liegend. Seine angeraute, modulationsreiche Stimme, die – je nachdem, in welche Rolle er gerade geschlüpft war – auch flüstern oder schreien konnte, bestimmte das akustische Erlebnis, unterstützt von den Orgel- und Gitarren-Klängen der Rock-Band „The Doors“. Für das Publikum der Live-Auftritte kam noch das Gemeinschaftserlebnis im Rock-Konzert hinzu, das zu einer Art Massen-Ritual geriet. Morrisons Selbstinszenierung, Selbstmythisierung und seine Manipulation der Medien mit griffigen Schlagwörtern, sein rebellischer und gegen etablierte Autoritäten gerichteter Habitus, sein selbstzerstörerischer Lebensstil und seine skandalösen Grenzüberschreitungen boten einem vorwiegend jugendlichen Publikum auf der Suche nach Orientierung und persönlicher Freiheit vielfältige Projektionsflächen.
Spoken poetry is much more powerful
Jim Morrison
Unter Rückgriff auf indigen beeinflusste Chiffren wie den Rock-„Schamanen“ oder „Echsenkönig“ hatte Jim Morrison sich darauf verstanden, mit einem betont männlichen Erscheinungsbild aus Lederhose, weißem Hemd und dem Conchagürtel der Navajo-Indianer einen Mythos um die eigene Person zu bilden. Binnen weniger Jahre drohte er dauerhaft auf die Rolle des mysteriösen, erotischen und skandalösen Rockstars festgelegt zu werden. Je stärker das Bühnen-Image des dionysisch-rauschhaften „Weltenkünstlers“ im Sinne Nietzsches, dem Morrison sich auch durch Alkohol- und Drogenkonsum nicht entziehen konnte, außer Kontrolle zu geraten drohte, desto wichtiger wurde ihm „alles, was Leute zum Denken bringt“ und die inhaltliche Auseinandersetzung des Publikums mit seinem künstlerischen Schaffen. Auch seine Aneignung der Figur des „Schamanen“ ging weit über einen Marketingtrick hinaus; Morrison begründete seine Identifikation mit dieser Figur dadurch, dass bei einem Autounfall, dessen Zeuge er als Vierjähriger zufällig wurde, die Seelen zweier dabei verstorbener Indianer in ihn eingedrungen seien. Er beschäftigte sich eingehend mit der ethnologischen und religionswissenschaftlichen Literatur zum Schamanismus und fügte die Idee eines „Mittlers zwischen den Welten“ in sein von Nietzsches apollinisch-dionysischer Kunstkonzeption, der Psychologie Norman O’Browns und Antonin Artauds Theaterkonzeption geprägtes Weltbild ein. Die Figur des Schamanen ging dabei eine Synthese mit der des Dionysos, des Hitchhikers und Vatermörders ein. Beim Song The End, dessen Originalaufnahme teilweise auf Plattenaufnahmen wegen seines Textes zensiert wurde, handelt es sich um eine Intertextualität, die auf die griechische Sagengestalt Ödipus verweist, einen Königssohn, der unwissentlich seinen Vater tötet, seine Mutter heiratet und mit ihr schläft. Die Textzeilen erschienen der Öffentlichkeit als zu vulgär, wenngleich schon seit Jahrtausenden selbige Szene in den Theatern aufgeführt wurde.
Father I want to kill you, Mother I want to fuck you
Wenngleich Morrison vor allem durch seine Songs bekannt wurde, hinterließ er ein künstlerisches Gesamtwerk von insgesamt über 1600 Manuskriptseiten, darunter Gedichte, Anekdoten, Epigramme, Essays, Erzählungen, Songtexte, szenische Texte und Drehbuchentwürfe. Morrison versuchte, verschiedene Kunstformen miteinander in Einklang zu bringen und zu vereinen:
Anfangs wollte ich nicht Mitglied einer Band sein. Ich wollte Filme machen, Stücke schreiben, Bücher. Als ich in die Band kam, wollte ich einige dieser Ideen einbringen. Allzuviel ist nicht daraus geworden […].
Als verbindendes Element von Morrisons musikalischen Arbeiten und seinen literarischen und filmischen Versuchen deutete Collmer Morrisons persönliche Befreiungsversuche und seine Absicht, „die Kontrolle über das eigene Leben so weit wie möglich zurückzugewinnen.“ Als Hintergrund seiner künstlerischen, insbesondere seiner literarischen Ambitionen nannte Morrison die Absicht zur Förderung eines neuen Bewusstseins:
Wenn meine Dichtung auf irgendetwas abzielt, dann darauf, die Menschen aus den Zwängen zu befreien, innerhalb derer sie sich sehen und fühlen.
Morrison äußerte sich ungern über eigene Texte und warnte in einem Interview 1967 davor, seine vieldeutigen Arbeiten auf einfache Botschaften zu reduzieren. Nach Auffassung des Sängers – dem nach der im Elternhaus erlebten autoritären Erziehung die Vorstellung von eigener Autorität, die Übernahme von persönlicher Verantwortung und von Führungsrollen ohnehin fremd geblieben waren – sollten Leser und Zuschauer seine Arbeiten auf ihre eigenen Kontexte übertragen:
Ich biete Bilder an. Ich beschwöre Erinnerungen an … Freiheit. Doch können wir nur Türen öffnen; wir können Leute nicht hindurchschleifen.
Da nur wenige eine Ausgabe von An American Prayer im Regal zu stehen haben, müssen wird uns mit den Lyrics begnügen, die von The Doors vertont wurden.
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An American Prayer, Lyrik von Jim Morrison, erschienen 1970 im Selbstverlag (500 Exemplare). 1995 erschien eine Lesung der Gedichte als Hörbuch.
Weiterführend → Im typischen Gestus junger Dichter hasste Arthur Rimbaud die kleinbürgerliche Enge seiner Vaterstadt, was z. B. in dem satirischen Gedicht À la musique (An die Musik) zum Ausdruck kommt, er ist der erste Rockstar der Poesie. Dichter wie der Dub-Poet Linton Kwesi Johnson, der Punk-Poet John Cooper Clarke, der Lo-Fi-Poet Dan Treacy, der Spät-Expressionist Peter Hein, der Lizard-King Jim Morrison und die Grandma des Punk Patti Smith nutzten Musik als Transportmittel für ihre Lyrics. Und eigentlich könnte auch: „Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter.“ (Heinrich Detering). Es gibt im Leben sowie in der Kunst unterschiedliche Formen von Erfolg. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen.