Zur Evolutionsgeschichte des Essays

Essays sind eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht oft die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit einem Thema.

Unter einem Essay versteht die Redaktion eine Abhandlung, in dem der Autor ein Thema diskutiert. Seit 2003 arbeitet KUNO daran, den Essay als Ort der Utopie, des Unsagbaren und der Vereinbarkeit des Univereinbaren sollte aus seinem Schattendasein zu befreien. In dieser Gattung vertritt der Autor eine Haltung zu einem bestimmten Thema. Der Essay ist keine fest umrissene Textsorte, er bietet einen großen Spielraum für Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten. Kein gelungener Essay gleicht einem anderen. Insofern ist der Essay frei von Strukturvorschriften und vorgefertigten Mustern. Essays verzichten auf wissenschaftlich genaue Analytik ebenso wie auf strenge Systematik der Gedankenfolge. Vielmehr ist der Essay ein assoziativ-vernetzender Spaziergang. Kaum eine andere literarische Form ist in gleicher Genauigkeit bis in ihren Gattungsansatz hinein verfolgbar, keine andere Form entzieht sich aber auch so sehr einer definitorischen und selbst der deskriptiven Erfassung wie der Essay. Angelegt ist diese Problematik bereits bei Michel de Montaigne, auf seine „Essais“ geht die spezielle Bedeutung „Literarische Abhandlung“, auf den „literarischen Versuch“ zurück. Wir betrachten Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert.

Die Verarbeitung der Tageseindrücke zu dem von ihren Erzeugern und sonstigen Dummköpfen dauernd mißverstandenen Glossenwerk der Fackel erfolgt nach keinem Plan, der auf »Aktualität« gerichtet wäre

Es dauerte etwas, bis ein weiterer analoger Blogger folgte. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommen­tie­rung der Welt­lage zur Dauerbeschäf­tigung erhob. In der Vorrede zu seiner Zeit­schrift „Die Fackel“ sagte er sich von allen Rücksichten auf parteipolitische oder sonstige Bindungen los. Unter dem Motto Was wir umbringen, das er dem reißerischen Was wir bringen der Zeitungen entgegenhielt, sagte er der Welt, vor allem der Schriftsteller und Journalisten, den Kampf gegen die Phrase an und entwickelte sich zum wohl bedeutendsten Vorkämpfer gegen die Verwahrlosung der deutschen Sprache. Durch seinen ästhetischen Anspruch unterscheiden sich seine Essays vom journalistischen Feuilleton oder vom Traktat, durch seine subjektive Formung vom Bericht. Seine Zeit­schrift „Die Fackel“ war gewisser­ma­ßen der erste Kultur-Blog.

Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Thematisch ist dieser amerikanische Diogenes nicht festzulegen. Seine Gegenstandsbereiche sind soziologischer, kunsthistorischer, philosophischer, literaturgeschichtlicher oder wissenschaftlicher Natur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt.

2017 waren von julia kulewatz, die in erfurt und berlin lebt, phantasievolle kurzgeschichten unterm titel »Vom lustvollen Seufzen des Sudankäfers« und 2019 »Jenseits BlassBlau« erschienen, in denen man traumundmärchenhafte zwischenwelten findet, die auch abgründiges enthalten.

Holger Benkel

Mit dem Essay „Königin der Nacht“ begründet die Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Verlegerin Julia Kulewatz die Edition Schwarzer Kater – eine Reihe, in der auf den ersten Blick vor allem ungewöhnliche literarisch-wissenschaftliche Texte veröffentlicht werden. Der vorliegende Text verhandelt die Frage nach der Gegensätzlichkeit von Sein und Schein, Wahrheit und Lüge, Licht und Dunkelheit anhand der Königin der Nacht in Mozarts / Schikaneders Zauberflöte. Die Autorin legt damit einen wertvollen Forschungsbeitrag vor: „Werden und Vergehen reichen einander die Hand. Mit Tagesanbruch hat sich das Spektakel erledigt, und so mancher Betrachter meint, einem Traum oder einer betörenden nächtlichen Sinnestäuschung erlegen zu sein.“ Die kraftvolle Metaphorik, durch die sich ihre zahlreichen Texte auszeichnen, spiegelt sich auch in diesem Essay wider.

Julia Kulewatz erhällt für den Essay „Zum Dazwischen als generative Grauzone im Schreiben Herta Müllers“ den KUNO-Essay-Preis 2023

Bücher sind der geschätzte Reichtum der Welt, die richtige Erbschaft von Generationen und Völkern.

Henry David Thoreau

Michael Gratz, ein Gönner der Verschreibkunst, kündigte den Lyriker Theo Breuer auf der Seite lyrikzeitung in seiner Funktion als Essayist als THE Breuer an. Wir sind froh, daß dieser Kenner der deutschsprachigen Literatur bei kulturnotizen den ein oder anderen Essay publiziert hat. Das existenzielle Schreiben kann man bei The Breuer als moralische Selbstbehauptung beschreiben. The Breuer trägt damit zur Ehrenrettung einer Gattung bei. Leitartikel sind nicht ohne. Schwieriger aber schon eine Kritik, ein historischer Aufsatz. Noch schwieriger eine Reportage. Dann kommen die Glossen, Kolumnen, das ist schon ziemliche Kunst. Der Zeitungskünste höchste aber ist: der Essay. Weil der Essay nichts erzählt und nichts bedenkt, weil er im Gegensatz zur Glosse oder Kolumne keine Pointe kennt und keine Moral von der G’schicht, weil der Autor in jeder Zeile gegenwärtig und doch am Ende zwischen den Zeilen verschwunden sein muss. Weil ein Essay ein textlicher Schwebezustand ist, ein vages Nichts, das exakt alles enthält: Leitartikel, Reportage, Kritik, historische Betrachtung. Ein Essay kann jede Materialschlacht wagen. Was ihn zusammenhält, ist nicht einmal ein roter Faden. Ihn stützen ein paar rote Punkte vielleicht und die Haltung, der Atem dessen, der spricht. So darf ein Essay alles, was er stilistisch trägt. Dieser Prozess, sein Geheimnis, aus intensiver Welt- und Selbstwahrnehmung einen Text im Tone völligen Unbeteiligtseins herzustellen, läßt sich auf keiner Journalistenschule lernen. Man schätzt The Breuer aus seinen essayistischen Monographien, aber erst hier auf KUNO lief er zur höggschden Form auf. Gerne weisen wir auf seinen fulminanten Essay Gedanken · Gänge · Sprünge hin.

Die Arbeit, die tüchtige, intensive Arbeit, die einen ganz in Anspruch nimmt mit Hirn und Nerven, ist doch der größte Genuß im Leben.

Rosa Luxemburg

Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Die Krisen, die unseren Globus schütteln, sind begleitet von einer Krise unseres Denkens, die damit auch zu einer Krise unseres politischen, kulturellen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Handelns wird. „Wir müssen unser Denken und Handeln verändern und weiterentwickeln“, das ist eine politische Forderung, die in nahezu allen Essays von Joachim Paul enthalten ist. In Trans- können wir seinem wilden, kompromisslosen Denken folgen. Dieses Buch zeigt ihn denkend und es zeigt auch, wie er denkt. Er richtet seine Aufmerksamkeit genau darauf, was dem Denken im Wege steht. Genauer: was das Denken überhaupt präsent macht. Paul entwickelt eine Medientheorie, die auf Kulturtechniken setzt: Medien, Netze und Maschinen schreiben mit an unserem Denken.  Wenn ein User nur unter einem Programm arbeitet, ist er regelgerechter Untertan. Pauls Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen sind eine Flaschenpost an die Zukunft.

Das Spiel mit dem Paradoxen ist eine Art geistiges Perpetuum mobile

Seit über 30 Jahren verfügt Ulrich Bergmann als intensiver Beobachter über die Begabung, noch die alltäglichsten Details in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um etwas über das Leben und die menschlichen Beziehungen zu erzählen. Bergmann besitzt das Geschick, aus einfachen Fäden, dem Alltäglichen und Unprätentiösen, einen filigranen und faszinierenden Erzählteppich zu weben, ein klares und doch letztlich geheimnisvolles, melancholisches und doch schwebend leichtes Bildnis eines Lebens zu wirken. Daß diese Welt brüchig ist, zeigt sich im Detail. Wenn er sein Leben in seinen Texten dialektisch paradox durch Spiel, Theater, Phantasie erweitert, weiß er, daß die ungedachten Gedanken und die unrealisierten Pläne immer besser als die gedachten und gelebten sind und der ideale Text eigentlich ein Liebesakt (wie wir in seinen Schlangegeschichten nachlesen können), der Geburt und Erleuchtung vereint. Mit sprachlicher Souveränität und lyrischem Gespür vermag Bergmann prägnant und bildreich die ihn umgebenden Gegenstände, Landschaften und Menschen zu beschreiben. Er ist ein Freigeist, ihm gelten nur die Regeln der Syntax, er geht mit kühler Distanz an allen kunstideologischen Prämissen und saisonalen Tendenzen vorbei, ohne sich in der Attitüde zu verhärten. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander.

Es hat sich in der Literaturwissenschaft eingebürgert, für kurze Texte, den Begriff „Kleine Form“ zu verwenden. Dieses ´Beiwerkchen` verweigert sich der umstandslosen Zuordnung.

András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

Die Mischung von essayistisch-literarischen und glossierenden Beiträgen, lädt ein, die einzelnen hochkarätigen Bestandteile zu kosten, dabei sollte die entdeckerische Freude an den mal spannenden und emotionalen, mal literarisch verschlungenen, metaphorischen, kognitiven, materialen und medialen Ausflügen ins Reich des Lesens überwiegen. Was „Intertextualität“ genannt wird, bei Weigoni wird es unaufdringlich und ohne Überheblichkeit Gestalt. In seinem Vorlass findet sich die dekonstruktive Auflösung der mehr oder weniger strikt gezogenen Grenzen zwischen Elite- und Massenkultur, zwischen Literatur und Wissenschaft, Kunst und Publizistik. Simultanität ist ein gefährlicher Reichtum, die Überfülle von Gelerntem und flüchtig Aneigbarem, führt zur Abstraktionen. Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biographie und politischen Ereignissen, von den Querverweisen zwischen Literatur und Kunst, Hörspiel und Medienpädagogik, Musik und Fussball und von den Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft machen dieses Buch zu einer komplexen Lektüre. In seinem Vorlass bündelt Weigoni die Motive seines Schreibens in einem vielstimmigen Buch.

gelesen alles gelesen / erdacht ergänzt gesagt geschrieben / in form gebracht / bin ich die struktur deiner zeit / und immer ein jetzt / die grablegung der sprache hat uns verständnislos gemacht / erwachen / wachküssen / und das…

Denis Ullrich

Mit seiner micropoetry gelingt es Denis Ullrich eine übernutzte Sprache zu entkernen. Seine vielgestaltigen Texte auf KUNO bewegen sich zwischen Transzendenz und Körperlichkeit. Zuweilen hat man den Eindruck, als wollte dieser Autor das berühmte Diktum Wittgensteins widerlegen: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man – nicht schweigen – sondern dichten! Dieser Autor hinterlies eine Twitteratur bei der weder ästhetische Überhöhung noch schnöder Realismus infrage kommen. Ullrichs Essay Sind wir nicht alle ein bisschen COPY & Paste? wurde beim KUNO-Essaypreis 2013 mit einer lobenden Erwähnung bedacht. Die Begründung findet sich hier. Die Redaktion verlieh ihm für einen weiteren fulminanten Text den KUNO–Essay–Preis 2015. Lesen Sie bitte auch: Fragmentarischer Versuch einer Prosaverortung, den Prosaüberflug Lost in Laberland und seinen letzten Rezensionsessay.

Retardierende Momente

Sophie Reyer ging im Essay Referenzuniversum der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Sie gestaltet sich einen Allegorienaufmarsch mit Texteinheiten voller Schalk und Weisheit. Wie jede Schriftstellerin erschafft Reyer eine ganz eigene Wahrnehmung, eine Beobachtung, die sich sowohl aus dem kollektiven wie auch individuellen Bewußtsein speist. Die Generation um Reyer setzt auf die Intelligenz der Menge, auf die Selbstorganisation des Schwarms, auf die Macht derer, die sich selbst erkannt und aus freien Stücken miteinander verbunden haben. Es geht ihnen nicht mehr darum, dass die Einzelnen in einem grossen Ganzen vereinheitlicht werden und ihre eigenen Ideen, Geistesblitze und ihre Kreativität einem fertigen Weltbild unterordnen. Diese Generation kann viele werden und dabei Einzelne bleiben, die mit all ihrer Eigenständigkeit, Verrücktheit und mit ihrem individuellen Eigensinn dazu beitragen, die Idee einer Poesie immer wieder neu entstehen zu lassen. Reyer bricht die Idee vom objektiven Ich und vom subjektiven Ich auf und thematisiert in ihrer Poesie Verletztheit, es ist eine wohltuend unsentimentale Sichtweise auf die Welt und ihre Mechanik.

todesgedanken bei dichtern sind oft auferstehungsgedanken und apokalyptische visionen der umgekehrte ausdruck eines, bewußten oder unbewußten, verlangens nach einer besseren gegenwärtigen und realen welt, ihrer utopien, ihres kulturidealismus und glaubens.

Holger Benkel

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Es entstand eine schwer zu übersehende Fülle von literarischen, kulturkritischen, philosophischen und ästhetischen Essays, die trotz ihrer sprachlichen und gedanklichen Verschiedenartigkeit einem gemeinsamen Grundtenor verpflichtet waren: Sie behandelten die Probleme des Individuums und der Gesellschaft in Zeiten des Umbruchs und des Wertewandels. Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.

Essayisten können die Realität nicht ändern und auch den Klimawandel nicht aufhalten. Aber sie können in Alternativen denken. Das ist nicht viel, aber mehr als weniger;-)

 

 

Weiterführend → Zu Beginn des Essayjahres machte sich Holger Benkel gedanken über das denken.

In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.

→ Gleichfalls in 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.

In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.