Was war eigentlich Social Beat?
Ein literarischer Schlag, eine Bewegung, eine Reanimierung von DADA, Punk, Beat Generation, Poetry, AusserLiterarischeOpposition, SubKULTUR der 1990er?
1993 waren die Fanzine-Macher Jörg André Dahlmeyer (aus Braunschweig) und Thomas Nöske (aus Göttingen) auf der Suche nach einem passenden Headliner für eine Lesereihe in verschiedenen Lokalen im ehemaligen Ostberlin. Der Stadtteil Prenzlauer Berg galt bereits zu DDR-Zeiten und auch in frühen Wendejahren als Ort der Subkultur, der Unangepassten und Aussteiger.[1] Unzufrieden über ihre Teilnahme an der > 12. Mainzer Minipressen-Messe, auf der der literarische Underground mit seinen hektografierten Heften und Xerox-Erzeugnissen nur eine marginale Rolle einnahm, wollten sie nun ihr > eigenes Ding machen.
> Mainzer Minipressen-Messe: Die 1970 in Mainz von Norbert Kubatzki (Kuba) gegründete und alle zwei Jahre stattfindende Minipressen-Messe hatte sich zunächst als eine Gegenveranstaltung zur kommerziellen Frankfurter Buchmesse verstanden. Die Aussteller kamen folgerichtig aus dem Bereich der Buchdruckerkunst, von sozialistischen Kleinverlagen oder waren Nachahmer der amerikanischen Underground-Press. Doch in den folgenden Jahren kam Kritik auf, dass die Messe zu keiner programmatischen Veränderung führen würde und die Bücher nur Ausstellungsstücke seien. Die Anhänger einer engagierten Literatur versorgten sich deshalb bei >>Josef (Biby) Wintjes, der als trinkfreudiger Buchhändler Aldo Moll in Jörg Fausers Roman »Rohstoff« verewigt wurde.
>> »Neckermann des Undergrounds«: Das 1969 von Josef Wintjes gegründete Literarische Informationszentrum in Bottrop stellte mit über 600 Titeln den wichtigsten Mailorder-Vertrieb der Gegenkultur dar.[2] Daneben bot Wintjes eine Kontaktbörse an und gab die ULCUSS-MOLLE-INFO heraus, in der er unreflektiert über sämtliche Strömungen der Sub-Szene informierte.[3] Wintjes hatte einst als Programmierer bei Krupp gearbeitet und Job, Ehe und bürgerliche Sicherheiten für seine Vision geopferte. Doch »insgesamt war das Literarische Informationszentrum kein ernsthafter Partner für Leute, die in der linken und studentischen Szene politisch engagiert waren«.[4] Nach 130 Ausgaben wurde das Fanzine wegen mangelndem Interesse und sinkenden Abonnentenzahlen 1990 eingestellt. Zwar editierte Wintjes noch das IMPRESSUM, einen alternativen Pressedienst für Autoren und Verleger. Jedoch war er desillusioniert, ausgebrannt, physisch am Ende – sein Tod im Alter von 48 Jahren kam für die Szene nicht überraschend. Der Fachbereich für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin übernahm unter Verantwortung von Professor Rolf Lindner den Nachlass und begründete damit das »Archiv für Alternativkultur«.
Bei aller (berechtigter) Kritik an der ULCUSS MOLLE muss man dieses Fanzine heute dennoch als eine kulturhistorische Quelle würdigen, die ihresgleichen sucht.
Ebenfalls als gescheitert gelten die subliterarischen Revitalisierungsversuche der >>> Gruppe 60/90, die in den 80er-Jahren in diesem Dunstkreis gegründet wurde. Wobei man retrospektiv zu einem milderen Urteil kommen kann, wenn man den Aspekt der Bewegung vernachlässigt und 60/90 als eine Symposiums-Reihe versteht, wie das ehemalige Mitglied Hans Dieter Huber dies tut. Für ihn war 60/90 ein Versuch, aus dem deutschsprachigen Raum interessante Leute zusammen zu bekommen, die sich in ihren Arbeiten auf Burroughs & Co. bezogen.
>>> 60/90 – »Die Sechziger im Rücken, den Blick in die Neunziger«[5]: Jörg Burkhard, Peter Engstler, Hilka Nordhausen, Helmut Salzinger, Peer Schröder etc. bemühten sich, die Aufbruchsstimmung der Sechziger in die Neunziger zu tragen, um diese Generationen zu verbinden, denn »die 90er erreichen, heißt über den ›gescheiterten lässigen Utopismus der Gegenkultur‹ (…) hinauszuschauen«.[6] Doch die Breitenwirkung von 60/90 blieb aus – begründet damit, dass die heterogene Gruppe ständig im Streit lag, Widersprüche nicht überwinden konnte und die Lesungen schrill und chaotisch abliefen.[7] Die in die Jahre gekommenen Vertreter hatten ihren Zenit überschritten. Wirklich erneuernde Impulse mussten von Jüngeren kommen, die in der Tradition des literarischen Vatermords ihre Ablehnung erklärten und ihr eigenes > Ding machen wollten.
> Das eigene Ding: Konsequent versuchten Dahlmeyer und Nöske auf ausgereiztes Vokabular wie Underground[8] bei der Namensfindung für ihre Lesereihe zu verzichten. Nach dem »Verzehr von siebzehn halben Litern Bier im Café Schliemann (LSD-Viertel in Ostberlin) ausbaldowert[en]«[9] sie den Begriff Social Beat. Beat, abgeleitet von to beat back/away etc. – als Ausdruck eines Lebensgefühls im »Kaltland« BRD und Social von Social-Fiction/-Message. Wichtig war den Erfindern, dass die Kopfgeburt nicht wörtlich als sozialer Schlag übersetzt, sondern als »Gesellschafts-Rock’n’Roll-Literatur, als Pulsschlag des Lebens oder als Pochen im Hirn«[10] verstanden wurde.
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Auszug aus: Boris Kerenski: Social Beat – Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund. Taschenbuch (14,5 x 21 cm), 40 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Edition Hibana 2021
Zu Social Beat erwartet man eigentlich ein fotokopiertes und zusammengetackertes Fanzine und erhält eine qualitativ hochwertig gemachte 40-seitige-Broschüre, die als eigenständige Sachpublikation angelegt ist. Boris Kerenski hat seine Fähigkeit als Herausgeber mit Kaltland Beat unter Beweis gestellt, in 1999 bereits die Bestandsaufnahme einer Krise, gesellschaftlich und vor allem literarisch. KUNO schätzt seinen künstlerischen Blick bei der Mailart-Aktion Was ist Social Beat?
Eine sinnvolle Ergänzung dazu ist auch die DVD, die inzwischen bei KILLROY media erschien und Manfred Heinfelder, Boris Kerenski und Joachim Schönauer als Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Der Betrachter darf sich glücklich schätzen, dass es eine visuelle Ausstellung SOCIAL BEAT & BEAT – Ein literarischer Urknall im Stuttgarter Literaturhaus gab. Neben dem Katalog wird eine quasi unerzählte Geschichte für den bürgerlichen Kulturbetrieb neu erzählt, die im Stuttgarter Literaturhaus präsentiert wurde. Die Ausstellung dokumentierte die Social-Beat-Szene, in der der Großraum Stuttgart eine wichtige Rolle spielte, mit Original-Dokumenten aller Art. Die Aktivisten der Szene haben ihr Archiv zur Verfügung gestellt. Umrahmt wird das Ganze von Porträts und Dokumenten der Beats, exklusiven Portraits der Beat-Autoren von Jim Avignon und garniert mit Veranstaltungen und Lesungen, Filmen, Audioclips und Bücher-Vitrinen. Erstmals öffentlich zu sehen ist zudem eine Foto-Serie der Social-Beat-Künstlerin YAM über den lange vergessenen Beat-Lyriker Taylor Mead. Bevor der „Beat“ zur Pop-Literatur verniedlicht wurde, war er gefährlich. In einer Zeit, da Originalität von der Stange erhältlich ist, präsentiert sich der Underground schriller, um Aufmerksamkeit zu wecken.
Die DVD ist ab sofort gegen eine Schutzgebühr von 10 € hier im Buch-Shop erhältlich des KILLROY media Verlags erhältlich.
Weiterführend →
Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.
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[1] Vgl.: Schwanhäußer, Anja: »Kosmonauten des Underground. Ethnographie einer Berliner Szene«, Frankfurt am Main 2010, S. 314.
[2] Vgl.: Weichler, Kurt: »Gegendruck. Lust und Frust der alternativen Presse«, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 18.
[3] Vgl.: Schubert, Christoph: »Zehn Jahre Literarisches Informationszentrum Bottrop. Kontinuität in der Alternativpresse«, in Gehret, Jens (Hg.): »Gegenkultur Heute. Die Alternativ-Bewegung von Woodstock bis Tunix«, Amsterdam 1979, S. 42.
[4] Ders.: »Vorwort«, in: Emig, Günther/Peter Engel/Ders. (Hg.): »Die Alternativpresse. Kontroversen, Polemiken, Dokumente«, Ellwangen 1980, S. 7f.
[5] Willems, Martin: »Jörg Fauser. The Beat goes on«, in: ROLLING STONE Nr. 7, Berlin 2019, S. 82.
[6] Ploog, Jürgen: »Statement zum Frankfurter Treffen 60/90«, in: Rüger, Wolfgang (Hg.): »Interzone. Transit 99«, Frankfurt am Main 1989, o.S.
[7] Vgl.: Nöske, Thomas: »Gruppe 60/90«, in: MOLLI Nr. 12, Bochum 1997, S. 29f.
[8] S. dazu: Hübsch, Hadayatullah: »Untergrund – ich weiß, ein schrecklicher Begriff, aber wir haben leider zur Zeit keinen besseren.«, in: »Untergejubelt. Texte der Popfraktion«, in ZITTY Nr. 15, Berlin 1996, S. 72.
[9] Reyemlahd, Gröj: »Affenterror!«, in: JUNGE WELT, 20.05.1998, o.S.
[10] Nöske, Thomas: o.T., in: HÄRTER Nr. 4, Münster o.J., o.S.