Die Patientenverfügung

 

Noëmi hat erhebliche strukturelle Defizite in der Betreuung entdeckt. Bei ihrem Semesterpraktikum für den medizinischen Dienst in einem Pflegeheim lernt sie die ethische Brisanz kennen, dass statt der Integrationsförderung die Pflege nur nach dem Motto Satt und sauber geschieht. Angehörige und Betroffene beklagen sich bei ihr über die grausame Behandlung alter Menschen.

»Was wir hier haben, ist soziale Euthanasie. Dieses Heim ist ein rechtsfreier Raum, in dem das Grundgesetz schon längst nicht mehr gilt«, beschwert sich Nagib Abd el–Walid, der seine Frau Nada liebevoll durch ihre schwere Krankheit begleitet. Noëmi nimmt seine Beschwerde in die Liste über die häufigsten Pflegedefizite auf, und verhindert im letzten Moment, dass ohne richterliche Genehmigung eine freiheitseinschränkende Massnahme ergriffen wird, weil die Pflegebedürftige ans Bett gebunden werden soll. Der Kollege erhält bereits die zweite Abmahnung. Noëmi trägt ihn in einen Katalog des Grauens ein. Sie beobachtet, dass alte Menschen, die nicht mehr allein essen oder trinken können, häufig unzureichend mit Flüssigkeit und Nahrung versorgt werden. Die Greise laufen Gefahr, zu verhungern oder zu verdursten. Andere Bewohner des Pflegeheims, die durchaus mit Unterstützung des Pflegepersonals in der Lage wären, ausreichend zu essen oder zu trinken, werden mit Sonden ernährt. Das soll Zeit sparen und die Pflege für das Pflegepersonal erleichtern.

Wirre Zeiten, verirrte Menschen. Beim Gang durch die Station grüsst sie einen gepflegten älteren Herrn, der selbstvergessen in einer Zeitschrift blättert. Seine Nachbarin knuddelt, liebevoll vor sich hin murmelnd, eine Babypuppe. Daneben zerreisst eine drahtige, sportlich wirkende Frau eine Illustrierte, aufmerksam beäugt von einer anderen älteren Dame, die kurz missbilligend den Kopf schüttelt und dann wieder in ihrer eigenen Welt versinkt. Scheinbar sitzen sie entspannt im Aufenthaltsraum zusammen und leben doch längst alle in eigenen Welten. Wie die meisten in diesem Wohnbereich des Heimes, leiden sie unter schwerer Demenz. Deshalb werden sie mit Psychopharmaka ruhig gestellt, um ihren krankheitstypischen Bewegungsdrang zu unterbinden.

Noëmi lernt, Dinge zu ihrer Zeit zu tun. Unter der Arbeit registriert sie, dass kranke Menschen falsche Medikamente bekommen oder ihnen Medikamente in falscher Dosierung verabreicht werden. Psychopharmaka werden ohne ärztliche Verordnung nach Bedarf gegeben. Ihr fallen auf der Station erhebliche Einschränkungen der Lebensqualität der Bewohner bis hin zu Gesundheitsschädigungen auf. Zur Arbeitserleichterung ihrer Kollegen werden Bewohner, die mit entsprechender personeller Unterstützung die Toilette aufsuchen können, gegen ihren Willen gewindelt. Der Grund dafür ist rein wirtschaftlich. Sie stellt ein erschreckendes Desinteresse des Trägers der Einrichtung an nachprüfbaren und kontrollierbaren Pflegestandards fest.

»Die Pflegeversicherung hat nicht die schlechte Pflege provoziert, sondern aufgedeckt«, empört sich Nagib mit resignativem Ton, als Noëmi seiner Frau ein neues Morphiumpflaster bringt. Sein kultureller Horizont ist begrenzt, aber er ist neugierig und nimmt Dinge auf wie ein Schwamm, verarbeitet sie und gibt sie in anderer Form zurück. Er erkennt, dass es trotz ihres Hilfebedarfs nicht möglich ist, ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.

Nada hat ihr Gesicht verloren. Sie verbreitet keinen Apfelbäckchen–Charme mehr. Kann niemandem mehr in die Augen sehen. Liegt auf einer beweglichen Luftmatratze, die Druckstellen verhindern soll. Alle zwei Stunden kommt Noëmi ins Zimmer und legt sie auf die andere Seite. Jedes Umbetten bezeugt sie mit einer Unterschrift, damit sie oder ihr Mann es nicht vergessen. Zweimal am Tag wird Nada gewaschen. Alle sieben Tage gebadet. Alle drei Tage bekommt sie ein neues Morphiumpflaster, dreimal am Tag Tee und Sondennahrung.

Die so genannte Wirklichkeit entgleitet Nada immer mehr. Das Lächeln der Augen versiegt. Ihre Stimme wird brüchig. Unentwegt redet sie in schalltoten Räumen mit sich selbst. Vermisst den Resonanzschall in ihrem Kopf. Der Strom der Worte fliesst strudelförmig ab. Inwandig trudelt das verwunschene Wüstendornröschen nunmehr um sich selbst. Es ist ihr nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ausser einem Schlauch, den sie in der Nase hat und über den sie künstlich beatmet wird, wirkt nichts auffällig an ihr. Sie hat eine gesunde Hautfarbe. Ihr Gesicht wirkt entspannt, als wenn sie schlafen würde.

Kraftlos sinkt ihr Körper tiefer in die Matratze. Ortlos kreiselt sie um das Karzinom. Ihr Hirnstamm reguliert vegetative Funktionen: Temperatur, Atmung, Blutdruck und Schlaf–Wach–Rhythmus. Ihr Grosshirn ist stumm. Sie knirscht mit den Zähnen. Schlägt mit den Armen. Masturbiert reflexhaft. Am Ende reicht ihre Kraft nur noch dazu, sich fallen zu lassen in den Tod.

Als Euthanasie–Befürworterin forderte Nada zur Entsorgung ihres Lebens vor dem Klinikaufenthalt aktive Sterbehilfe. Sie wollte die Freiheit haben, den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen, in Würde zu sterben und nicht einer hochtechnisierten Medizin ausgeliefert zu sein. Sie forderte ein Recht auf Ethik in der modernen Medizin ein. Fürchtete, wie viele Menschen in der zunehmend vergreisenden Bevölkerung, den Tod unter Schmerzen, einsam auf einer Intensivstation, ausgeliefert an eine Apparatemedizin, die Leben um jeden Preis verlängern will, und forderte das Recht auf Selbstbestimmung auch beim Tod. Der Arzt, der ihr nicht mehr helfen kann, soll ihr zu einem guten Tod verhelfen.

»Eine brutale Gesinnung hat ethisch verwerfliche, medizinisch unsinnige Experimente in Gang gesetzt, denen Allmachtsfantasien zu Grunde liegen«, ist der Ethikwächter Professor Lurk anderer Meinung. Der Chefarzt bemüht sich um eine Pflegeplanung, die pflegefachlichen und gesetzlichen Anforderungen entspricht. Er sieht es als seine Pflicht an, zu heilen, zu lindern, zu trösten. Mit individuell dosierten Morphinen, regionalen Nervenblockaden und einer niedrig dosierten Chemotherapie versucht er, die extremen Schmerzen in den Griff bekommen.

Gestorben nicht mehr inmitten der Gesellschaft, der Tod ist ein separater medizinischer Vorgang geworden. Es ist ein offenes Geheimnis, dass seine Kollegen aktive Sterbehilfe praktizieren. Professor Lurk konstatiert, dass die Rechtspraxis der Realität auf den Intensivstationen kaum gerecht wird. Das Abschalten eines Beatmungsgeräts, das Beenden einer künstlichen Ernährung sind aktive Handlungen. Der Streit über ihre Zulässigkeit macht sein ethisches Dilemma deutlich. Es baut sich in der individualisierten Leistungsgesellschaft Druck auf, anderen nicht mehr auf der Tasche zu liegen. Aktive Sterbehilfe hat den ökonomischen Nebeneffekt, dass sie Kosten spart, welche die Kassen oder Angehörige sonst tragen müssten. Als Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist würdiges Sterben angezeigt.

»Wer gibt mir das Recht, zu entscheiden, ob ein Mensch leben oder sterben soll?«, hinterfragt der Ethikwächter und missachtet bewusst den letzten Willen der Todkranken, die Behandlung abzubrechen. Seiner Ansicht nach hat eine Patientenverfügung nur einen geringen Wert; es geht nicht daraus hervor, dass sich die Verfasserin mit dem Thema ihres Sterbens auseinandergesetzt hat, sie enthält nur schematische Formeln wie: „kein unwürdiges Leben.“ Das Betäubungsmittelgesetz lässt dem Chefarzt nicht genügend Spielraum, Leiden zu lindern und hohe Dosen von Opiaten zu geben, auch wenn diese das Leben verkürzen. Die pharmakologische Forschung ist an der Palliativmedizin nicht interessiert, mit ihr lässt sich zu wenig Geld verdienen. Lurk sieht in Nada keine Kranke mehr, sie ist eine höchst interessante Studie.

Nagib Abd el–Walid sitzt wächsern neben dem Bett. Atmet unmerklich. Wacht in andächtiger Schweigsamkeit. Weil Würde im Leben Kranker ein Konjunktiv ist, bewahrt er seine Frau vor inhumanen Zuständen in der Pflege. Nagib ist tief bestürzt darüber, dass Ärzten hierzulande zum Tod kaum mehr einfällt, als die Kulturtechniken der Todesverzögerung derart zu verfeinern, dass zuletzt nur noch eine Kultur der Sterbehilfe eine Kompensation der Schmerzen verspricht. Die Vorsorge für das nach wie vor Unvermeidliche beschränkt sich auf das Testament; die Gräber werden nach einer Anstandsfrist geräumt. Nagib weiss, dass man aus der Geschichte nicht lernen kann, man kann sich in ihr ändern und sich mit Beispielen unterschiedlichen Verhaltens konfrontieren. Das Studium dieser Kulte kann Licht auf die geheimen Träume der Gesellschaft in Bezug auf die Wissenschaft werfen. Er denkt über eine konstruktive Kontextsensibilität nach, die das schwierige Verhältnis von Autonomie und Zugehörigkeit zur Familie ausbalanciert. Sie lebten ein Mobile, bei dem sich alle Transaktionen in dem Gleichgewicht halten, das sich ihre Familie irgendwann gegeben hat. Die systemische Therapie macht dieses Gleichgewicht, die Kräfteverteilungen und Beziehungen zueinander sichtbar, indem sie den Patienten seine Familie im Raum aufstellen lässt. In den morphogenetischen Feldern dieser kathartisch wirkenden Aufstellung suchen sie das archaische Erbe bis ins siebte Glied. Nagib versucht zu der Apallikerin Kontakt aufzunehmen. Wartet in verzweifelter Hingabe auf eine Reaktion ihres Bewusstseins, eine Instant–Heilung. Hält ihre Hand. Wird sie die ganze Nacht über nicht loslassen.

Frühschicht. Noëmi beginnt mit der Arbeit. Kontrolliert die Apparaturen. Stellt fest, dass Nadas Atemzentrum, das im Hirnstamm sitzt, ausgefallen ist. Zum Pflichtprogramm der Hirntoddiagnostik gehören Tests, die starke Schmerzen hervorrufen könnten bei jemandem, der gar nicht hirntot ist: Nadelstiche in die Nasenscheidewand oder auch Spülungen der Gehörgänge mit Eiswasser. Noëmi kann keine Lazarus–Zeichen erkennen. Das EEG zeigt eine Null–Linie an. Es lassen sich bei der Patientin keine spinalen Reflexautomatismen mehr auslösen, die über Hirnnerven geleitet werden. Pupillenreaktionen auf Lichtreize, Lidschlag bei Berührung der Augenhornhaut, Würgereflexe beim Berühren des hinteren Rachenraumes oder Schmerzreflexe auf feine Nadelstiche in die Nasenscheidewand. Noëmi klappt Nada die Lider über die Augen. Nach der Überprüfung verlässt sie diskret den Raum und benachrichtigt den diensthabenden Arzt. Jedes Leben ist auf dieser Station eine Himmelfahrt. Was man hier für Leben hält, ist der Wartesaal des Todes.

»Wie behandelt, wie heilt man den Tod?«, erkundigt sich der Chefarzt nachdenklich bei Noëmi. Er sieht einen Zusammenhang mit der Zulässigkeit von genetischer Präimplantations–Diagnostik und therapeutischem Klonen von Embryonen, sowie dem Versuch einer Re–sakralisierung der Debatte über moralische Grundwerte. Wer aber, so glaubt er, von seiner Religion reden kann, der hat keine. Christi Niederlage war nicht die Kreuzigung, sondern der Vatikan. Lurk wäre gern wieder religiös, doch gibt es für ihn keine intellektuell akzeptable Weltreligion. Der blosse Anspruch, eine Institution zu sein, garantiert nicht das ewige Leben.

»Ob Sie den Tod nur in Kauf nehmen oder bewusst herbeiführen, um das Leiden zu verkürzen, lässt sich in der Praxis kaum unterscheiden«, bestätigt die Schwester. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben sollte auch das Recht einschliessen, es zu beenden, wenn seine Fortsetzung nicht mehr erträgliches Leiden einschliesst. Es ist nicht belegt, dass eine für hirntot erklärte Person tatsächlich über keinerlei Wahrnehmungsvermögen verfügt. Noëmi ist dafür, dass Hirntote betäubt werden, bevor man Organe entnimmt. Man streicht Zuschüsse fürs Dahinvegetieren nicht. Oberster Massstab für alle Mitarbeiter sollte ihrer Ansicht nach das Befinden der Patienten sein, nicht der reibungslose Ablauf einer Pflegemaschinerie.

»Wir handeln falsch, weil wir falsch denken. Was können wir tun? Wie müssen wir denken?«, murmelt der Chefarzt. Jede Theorie sollte eine Verbindung zur Realität herstellen und erkunden, welche Variable in welcher Grösse der Wirklichkeit entspricht. Erst diese Theorie entscheidet, was beobachtet werden kann, und man sieht nur, was man weiss. Und Verständigung ist nur möglich, weil sich die Menschheit auf Metaphern geeinigt hat.

»Worte können der Verständigung dienen, sie können aber auch das Gegenteil bewirken: Verwirrung. Wie schaffen Sie es, sich an begrifflich zerstörte Gebiete neu heranzutasten?«, erkundigt sich Noëmi, um seine Verschlossenheit in einen Vorteil zu verwandeln. Das zu begreifen, was sie ergreift, darin scheint sich der Lebenssinn zu erfüllen.

»Das geht nur mit allergrösster Vorsicht. Es gibt eine erschreckende Abnutzung der Beschreibungen von Katastrophen in der deutschen Sprache. Man mag die Begriffe nicht mehr hören, weil sie alles nur zukleistern: Wörter wie Holocaust, Auschwitz und selbst Jude. Deshalb kommt es darauf an, in eine Art Nullsituation zurückzukehren, von der aus man die überkommenen Sprachformen wegkehrt – und versucht, neu sprechen zu lernen. Mit der Zulassung aktiver Sterbehilfe jedoch wird das Tötungsverbot ausser Kraft gesetzt, das die erste Grundlage und das moralische Selbstverständniss unserer zivilisierten Gesellschaft bildet«, gibt der Chefarzt zu bedenken, dass der Tod und seine kulturelle Formung das Sinn–Zentrum jeder Kultur ist. Kultur in ihren zentralen und anspruchsvollen Aspekten ist nichts anderes als die symbolische Realisierung eines umgreifenden Horizonts. Die Widersprüche zwischen Lurks ständigem Schwanken, seiner zynischen Menschenbehandlung, seiner philosophischen Überlegenheit, seiner charismatischen Einzigartigkeit, lassen sich nur aufzeigen, aber nicht synthetisieren. Die Fassade von Kälte und Gleichgültigkeit dient als Schutzschild gegen Ängste und Selbstzweifel. Professor Lurk legt die Studie über Nada beiseite und wendet sich angelegentlich dem nächsten Fall zu.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

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