Rock-n-Roll ist das Leitmotiv für den Ausbruchsversuch, es ist der Sound des Industriezeitalters und die permanente Feier des gelebten Augenblicks. Es ist die Zeit der Selbstermächtigung, des Aufruhrs, des Einfach-machen-Wollens. Der „Ratinger Hof“ bildete in Düsseldorf nach 1977 eine subkulturelle Scharnierstelle. Die Rheinmetropole war so etwas wie die heimliche Hauptstadt der alten BRD, im Bermuda-Dreieck zwischen der Uel, dem Einhorn und dem Ratinger Hof traf man auf geballte Zeitgeist-Kompetenz.
Diese Artisten suchten einst das Singuläre in einer medial durchwirkten Pop-Gegenwart. Synthese und Synästhesie lagen offensichtlich nicht nur lautlich nah beieinander, die Erfindung der Aufnahmetechnik wird von ihnen als ein Moment der Befreiung gedeutet. Sie führten vor Augen, wie sich Zeitebenen in den kulturellen Praxen immer mehr vermischen und damit auch obsolet werden. Hier war eine Combo angetreten, die Welt der Literatur umzuwälzen, und wie alle guten Revoluzzer scherten sie das Wissen um die Unmöglichkeit nicht. Sondern sie machten einfach drauflos. Im Skurrilen und Absurden ihres ironischen Charmes erkennt man den Wortwitz. Herausgekommen ist dabei der größte anzunehmende Glücksfall in der Literatur: etwas Neues.
Es ist die Sehnsucht der Popkultur, sich in Referenzen auszudrücken.
Seit es Pop gibt, möchte jeder Teil einer Jugendbewegung sein – oder zumindest von seiner wilden Phase am Ende der Pubertät ein Zeugnis ablegen. Als Jürgen Teipel aus Interviewschnipseln einen soganannten Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave collagierte war das aufregend, weil frisch.
In der taz gab es unlängst einen Bericht, in dem behauptet wurde, in der Börse habe eine „der Wiegen des Punk“ gestanden. Im Zeitalter der Alleinerziehenden kann man Kinder überall ablegen, ob im Grün-In in Gevelsberg, der Börse in W’tal und neuerdings ist das Blue Shell in Köln auf die Liste des alternativen Wetlkulturerbes dazu gekommen.
Manchmal lohnt es sich einen Klappentext zu lesen. Dieser liest sich sich wie ein vollmundiger Werbetext: „Heute strömen Kulturschaffende scharenweise nach Berlin, doch in den 80er- und 90er-Jahren lag das unbestrittene Zentrum der bundesdeutschen Kunst- und Kulturszene ganz woanders: in Köln. Der Startschuss für Kölns Aufstieg fiel am 15. Januar 1980, als im Basement die unbekannte britische Band Joy Division spielte. Peter Bömmels, Mitglied der Künstlergruppe »Mühlheimer Freiheit«, war von diesem neuen Sound dermaßen beeindruckt, dass er kurz darauf mit sieben Mitstreiter: innen die Zeitschrift SPEX gründete.“
Mit der Post-Punk-Band aus Manchester lässt sich gut schmücken, zumal die Szene eher von Mundartgruppen wie den Bläck Fööss und schlimmerem dominiert wurde. Doch dieser Auftritt wiederholte lediglich das, was sich bereits zwei Jahre mit dem Auftritt von Wire im Ratinger Hof vollzogen hatte. Auch inhaltlich geht das Buch von Gisa Funck und Gregor Schwering mit den Schwerpunkten um eine sogenannte oral history, die sich aus Originalzitaten von Zeitzeugen speist nicht hinaus. Der Leser fühlt sich an Jürgen Teipels Doku-Roman „Verschwende Deine Jugend“ erinnert. Wie so oft ist die Domstadt am Rhein bei einer neuen deutschen Welle als Nummer Zwei zu Stelle.
Aufbauend auf den Erfolg von Verschwende Deine Jugend brachte der Suhrkamp-Verlag in der Folgezeit weitere, anhand von Einzelinterviews collagierte „Doku-Romane“ heraus, die sich ebenfalls musikalischen Subkulturen in Deutschland widmeten. Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende (2012) von Felix Denk und Sven von Thülen behandelt die Techno-Szene der Neunzigerjahre im wiedervereinigten Berlin; Electri_City: Elektronische Musik aus Düsseldorf (2014) von Rüdiger Esch beleuchtet die Musikszene um die Bands Kraftwerk, Neu! und DAF; und in Future Sounds: Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten (2021) von Christoph Dallach geht es um Krautrock und Kosmische Musik aus den Siebzigerjahren. Bei Wir waren hochgemute Nichtskönner – Die rauschhaften Jahre der Kölner Subkultur 1980-1995 von Gisa Funck und Gregor Schwering stellt sich Ermüdung ein.
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Wir waren hochgemute Nichtskönner – Die rauschhaften Jahre der Kölner Subkultur 1980-1995 von Gisa Funck und Gregor Schwering, KIWI 2023
Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, von Jürgen Teipel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001
Weiterführend →
Lesenswert der Essay von Peter Glaser: Attrappe einer Kulturgeschichte von neulich. Der „Ratinger Hof“ bildete in Düsseldorf eine subkulturelle Scharnierstelle. Die Rheinmetropole war so etwas wie die heimliche Hauptstadt der alten BRD, im Bermuda-Dreieck zwischen der Uel, dem Einhorn und dem Ratinger Hof traf man auf geballte Zeitgeist–Kompetenz. Popgeschichte ist auch Mediengeschichte. Lesen Sie auch den Artikel Perlen des Trash über 25 Jahre Gossenhefte. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Lesen Sie auch über Kraftwerk Pop mit Pensionsanspruch.
PS Diese beeindruckende Dokumentation von Ralf Zeigermann über die Ratingerstr. ist inzwischen ein begehrtes Sammlerexemplar, es wurde in einer bedruckten Blechkassette geliefert, die zusätzlich auch eine Reproduktion des Tickets für das Wire-Konzert von 9. November 1978 im Ratinger Hof sowie einen Druck des Titelbildfotos auf 350g/qm-Karton enthält.