Spiegelei mit Speck

 

1937 war kein gutes Jahr für mich. Es gab einfach zu viele Privatdetektive in San Francisco. Seit Wochen hatte ich keinen Auftrag mehr erhalten. Aber irgendwie passte es zu diesem entsetzlich kalten Winter. Sogar die Wasserleichen in der Frisco-Bay trieben mit dem Gesicht nach unten, weil sie von dem Elend der Welt genug hatten. Nur die Katzen tanzten unbeeindruckt Jitterbug in der Regenrinne.

Vielleicht hatte mich das abgelenkt. Ich hatte das Klopfen an der Tür jedenfalls nicht gehört. So stand sie völlig unvermittelt in meinem Büro, eine eiskalte, nachtblaue Schönheit, mit pinkfarben lackierten Fingernägeln, drapiert in ein hautenges Cocktailkleid und einen Mantel aus dem Fell handgewürgter Opossums. Imposant in jeder Beziehung. Gewiss wären bei ihrem Eintritt sämtliche Bilder von den Wänden gefallen, wenn ich denn Bilder an den Wänden gehabt hätte. Doch am Pinboard balzten nur die Zahlungsbefehle. Außerdem klebten seit Wochen zwei vertrocknete Burritos auf der gelbstichigen Raufaser.

Und auf einmal stand diese unglaubliche Frau in meinem Büro, und plötzlich liebte ich meinen Beruf. Um mein Entzücken zu überspielen, biss ich kurz in die Platte meines Schreibtischs. Ein kaum merkliches Zittern durchlief den Körper der Schönen. Sie holte tief Luft und wollte eine langatmige Erklärung abgeben. Doch ich wusste längst Bescheid: »Es geht um ihre Schwester, ein reines, unschuldiges Ding vom Lande. Sie riss von zu Hause aus und ist hier in der Großstadt verschwunden. Bestimmt ist die Kleine an falsche Freunde geraten und nun werden Sie vor Sorge fast verrückt. Also flehen Sie mich an, Ihre kleine Schwester auf- zutreiben und in den sicheren Hafen der heilen Familie zurückzuführen. Oh Gott, wie oft habe ich mir diese kleinen, schmutzigen Geschichten hier in diesem Büro schon anhören müssen.«

Die Blondine schwieg einen Moment ergriffen. Dann sagte sie: »Dummes Zeug! Meine Schwester ist eine Schlampe. Ich kann das kleine Miststück nicht ausstehen. Und hören sie mir auf mit meiner Familie. Mein Vater ist Trinker, meine Mutter Nonne. Nein, es geht um etwas ganz anderes. Ich habe vor zwei Stunden meinen Liebhaber erschossen und sein Bankschließfach ausgeräumt. Heute Nacht geht mein Schiff nach Panama, aber ich muss vorher wissen, ob die Bullen schon hinter mir her sind. Das herauszufinden ist ihr Job.«

Damit war alles gesagt. Sie kritzelte mir noch den Treffpunkt im Hafen auf einen Zettel und verschwand so unbemerkt, wie sie gekommen war.

Ich machte mich sofort an die Arbeit. Dazu gehörte ein Besuch bei der Polizei. Seitdem mein alter Dodge gepfändet ist, bin ich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Auch das kann interessant sein.

In Chinatown flanierte eine Handvoll Jugendlicher im Schein der Straßenlaternen. Sie sahen gefährlich aus in ihren braunen Schlaghosen und schwarzweißen Schuhen. Und doch beeindruckte mich die Lässigkeit, mit der sie sich gegenseitig die Fingerkuppen amputierten.

Ein versoffener alter Mann saß mir in der Cable Car gegenüber und fing unvermittelt an loszubrabbeln: »Einst wird kommen der Tag, an dem eine magere Blondine in das englische Königshaus einheiratet und daraufhin wird der Thronfolger wunderlich werden. Es wird die Atombombe geben und den Opel Adam.« Ein feiner Faden Speichel rann seinen unrasierten Mundwinkel herunter, er suchte nach Zigaretten, während er weiter erzählte: »Es wird einen Franz Beckenbauer geben und eine Sängerin namens Nana Mouskouri. Doch sie wird keine Schallplatten machen, sondern so kleine silberne Dinger, die nennen sich Compact-Disc.«

Die Prophezeiungen des Alten beunruhigten mich, also stand ich auf und schlug ihn zusammen.

Ich hatte nicht viele Freunde bei der Polizei, doch Hörb Koslowski war einer von Ihnen. Koslowski kannte ich noch von meinem allerersten Auftrag. Gemeinsam suchten wir damals einen berüchtigten Gewürzgurken-Fälscher. Bei einer Verfolgungsjagd schoss ich ihm versehentlich in den Fuß.

Doch Koslowski war nicht nachtragend, was ich ihm hoch anrechnete. Im Revier war er nicht zu übersehen, denn er war ein ziemlich schräger Cop. Vor zwei Jahren fahndete das San Francisco Police Departement nach einem Sittlichkeitsverbrecher. Um den Täter eine Falle zu stellen, hatte sich Koslowski mit Perücke und Damenkleid getarnt. Der Täter wurde dennoch nicht gefasst, aber Hörb Koslowski hat man seit jenem Abend nie wieder ohne Kleid gesehen. Auch bei unserem Gespräch trug der schlechtrasierte Zweieinhalb-Zentner-Mann ein lindgrünes Cocktail-Kleid mit pailletten-geschmücktem, tiefen Dekolleté, aus dem Koslowskis üppige Brustbehaarung hervorquoll. Er rauchte eine Havanna und wie immer stand eine Flasche billiger Bourbon auf seinem Schreibtisch.

»Na Schnüffler, was gibt’s?«

Das war eine für Koslowski ungewöhnliche Freundlichkeit, die mich alarmierte. Natürlich ließ ich mir nichts an- merken. Dennoch war sein Anblick etwas irritierend.

Beiläufig hatte ich in meinen Trenchcoat uriniert, nur um zu zeigen, dass ich die Situation im Griff hatte. Ich stellte die üblichen Fragen, fragte nach einem Mord, verbunden mit einem ausgeräumten Schließfach, nach Spuren und möglichen Verdächtigen.

Koslowski zuckte gelangweilt die Schultern. »Davon höre ich zum ersten Mal. Wir fahnden gerade nach einem anonymen Ziegenschänder, psychopathischen Falschparkern und einem manisch-depressiven Gelegenheits-Zuhälter. Von Mord weiß ich nichts.«

Ich wechselte das Thema und empfahl mich bald darauf.

Die Polizei wusste also von nichts. Nun, das hatte nichts zu bedeuten. Das San Francisco Police Departement ist vom Verbrechen an sich meist überfordert. Der Massen-Selbstmord einer obskuren Mars-Jünger-Sekte wurde versehentlich von einem Postboten aufgeklärt. Und als eine Gruppe marodierender Mexikanerinnen die Zentralbank ausraubte, half ihnen ein zufällig anwesender Streifenbeamter beim Einparken des Fluchtwagens.

Ich musste also meine Quellen aus der Unterwelt anzapfen. Und da konnte mir nur noch Berta helfen. Anfang des Jahrhunderts hatte sie als Schönheitstänzerin im Hafenbezirk manch griechischem Vollmatrosen den Kopf verdreht. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Erst letzte Woche ist ihr beim Nudelessen in einem italienischen Steh-Imbiss ein Ohr abgefallen. Dieser Vorfall deprimierte Berta erheblich, deshalb freute sie sich besonders, mich zu sehen.

Immerhin langte Bertas Ruhm noch für einen Stamm- platz in einer drittklassigen Bar und für genug Schnaps, um das eigene Elend zu vergessen. Ich goss ihr ein Glas Spülmittel ein und sie schluckte es herunter, ohne mit der Wimper zu zucken. Gut, sie hatte auch keine Wimpern mehr, und dafür zuckte an Berta so manches andere.

Keine zwei Stunden später war Berta ansprechbar. Auch sie fragte ich nach einem postmortal entsorgten Liebhaber und einem leeren Bankschließfach. Auch sie wusste nichts. Die gestandenen Gangster waren in Chicago oder an der Wallstreet, die Kleinganoven wurden entweder von der Heilsarmee missioniert oder waren zur Fortbildung in Sizilien.

Ratlos ließ ich Berta zurück. Irgendetwas lief schief mit diesem Fall, ich spürte es genau. Meine Prostata schmerzte. Mit einem beunruhigenden, aber reichlich vagen Gefühl der Gefahr begab ich mich abends zum vereinbarten Treffpunkt am Hafen. Sie erwartete mich schon, in einem engen Goldlamé-Plissée-Rock, malerisch durch nachlässige Brandflecke veredelt. Ein elegant geschwungener, breitkrempiger Hut verhüllte ihr Antlitz. Der Rauch ihrer ägyptischen Zigarette stieg hoch, vermischte sich mit ihrem exotischen Parfüm, dem Gestank verwesender Fische und jenem unverwechselbaren Odeur, der nun mal den Mageninhalt vereinsamter Matrosen ausmacht. Mit mildem Schmelz in der Stimme fragte sie: »Nun, was haben Sie mir zu sagen?« Dann, nach einer Pause, in der ich mit meinem Leben ab- schloss, fuhr sie fort: »Was können Sie mir bieten?!

Ich hatte nichts in der Hand. Das lag an meiner Unfähigkeit. Ich hatte auch nichts in der Hose. Das lag an meiner Angst. Also verließ ich mich auf meinen Instinkt. Privatdetektive in meiner Situation verlassen sich immer auf ihren Instinkt. Die wenigsten überleben das. Das war mir klar. Ich musste alles auf eine Karte setzen:

»Haben Sie im Ernst geglaubt, Sie könnten mir etwas vormachen, Ma’am? Sie haben niemals ihren Liebhaber ermordet und auch kein Schließfach ausgeraubt. In Wahrheit heißen sie Penelope Ribbenworth, sind 23 Jahre alt und arbeiten im Grünflächenamt der Stadt San Francisco. In ihrer Freizeit sammeln Sie Margarine-Bilder und suchen seit Jahren verzweifelt einen kompetenten Therapeuten.«

Ihr Körper versteifte sich. Ruckartig hob sie den Kopf, so dass ihr Hut nach hinten rutschte und den Blick auf ihr Antlitz freigab. Ihre Gesichtszüge waren erstarrt, ihre Augen weit aufgerissen. Sie war immer noch wunderschön.

Mit tonloser Stimme fragte sie: »Woher wussten sie…«

Doch sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern drehte sich abrupt weg und verschwand in der Dunkelheit des Hafendistrikts. Noch einige Augenblicke lang hörte ich das leiser werdende Klacken ihrer High Heels auf dem Pflaster, untermalt vom Röcheln der Hafenarbeiter, die zufällig Zeugen unserer Begegnung geworden waren.

Ich bin ihr nicht nachgegangen in dieser Nacht. Erst Jahre später hörte ich wieder von ihr. Sie hatte als Hausfrau in Montana eine völlig neuartige Tütensuppe entwickelt und wurde unglaublich reich damit. Aber das war schon weit in den fünfziger Jahren, lange, nachdem mir nordkoreanische Geheimagenten operativ die Nase entfernt hatten.

An jenem Abend verließ ich den Hafen durchaus mit mir zufrieden. Draußen traf ich den alten Mann, der mir schon am Morgen aufgefallen war. Als er mich erkannte, schien er sich zu freuen, denn er hob seine Stimme an: »Einst wird kommen der Tag, an dem alle Familien einen Mikrowellen- Herd haben, und Toilettenreiniger, die nach Zitrone duften. Und es wird Helene Fischer und Florian Silbereisen geben und die Talkshow von Markus Lanz. Und gemeinsam werden sie die ganze nördliche Hemisphäre in Angst und Schrecken versetzen. Es wird Kondome mit Lakritzgeschmack geben. Und ein kleines grünes Männchen, das sie Pumuckl nennen…«

Da wurde es mir zu bunt, ich zog meinen Revolver und erschoss ihn.

 

 

***

Irgendwas ist immer, Stories von Markus Peters, CHORA Verlag, Duisburg, 2021

Mit diesen großartig geschriebenen Prekariatsstories setzt Markus Peters die Tradition der nonkonformistischen Literatur nicht etwa fort, er führt sie zu neuer literarischer Größe. Man merkt seinen Worten an, das sich der Autor auch Lyriker einen Namen gemacht hat, so präzise ist die Sprache gesetzt. Es sind Geschichten von der Schattenseite der deutschen Gesellschaft, die Peters umso heller ausleuchtet, er begibt sich an Orte, zu denen sich die Kommerzsender mit ihren gecasteten Formaten nicht mehr hintrauen. Das Bemerkenswerteste an seinen Satiren, Stories und Kolumnen ist, bei aller Lakonie und Unsentimentalität, die uneingeschränkte Solidarität mit seinen Figuren, ohne jegliche Distanz und Ironie. Unterschichten-Elendsvoyeurismus wie ihn der NDR mit einer getürkten Reportage über den Straßenstrich ins öffentlichen-rechtlichen Gebühren-TV hob, sucht man in seinen Satiren, Stories und Kolumnen vergeblich, es ist vielmehr ein journalistischer Blick auf die Realität. Seine gleichsam essayistischen Betrachtungen leben von der Schilderung der Realität im Bruchstück. Auf unterhaltsame Weise verpasst dieser Autor dem Alltag in seinen Satiren, Stories und Kolumnen einen wohldosierten Dreh ins Aberwitzige. Einen Vergleich mit der Prosa von Clemens Meyer braucht dieser Autor nicht zu scheuen. Für KUNO war dieses Buch ein Anwärter auf „das Buch des Jahres“ 2021.

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.