Holger Benkels wundervoller Text „gedanken über das denken“ ist ein Essay über das Schreiben eines Essays – mit einer überflutenden Flut von Zitaten ausgewählter Denker, schön gegliedert in 14 Kapiteln:
Systemdenken – Begriffe – Wahrheit – Dummheit – Geschichte –
Aufklärung – Französische Essayisten – Englische und andere
Essayisten – Deutsche Essayisten – Skepsis – Ist Gott tot? – Utopien –
Denken und (Ver)dichten – Labyrinth
„der essay ist in vielem der große bruder des aphorismus“, sagt Holger Benkel. Und gleich zu Beginn steht der ernüchternde Aphorismus von Ambrose Bierce, der schrieb, Wissen würden wir jenen Teil unserer Unwissenheit nennen, den wir geordnet haben … und Jerzy Lec ergänzt, präzises Denken sei eine Einschränkung der schöpferischen Freiheit.
Daran ist viel Wahres. Der Verfasser, Holger Benkel, will nun bewusst über die erkannten Fallen springen und ordnet sein Denken über Gedanken schöpferisch in Zitaten und verbindenden Kommentaren. Und ihm gelingt da vieles. Auch das Jonglieren mit Begriffen sieht er kritisch und so zitiert er Thomas Hobbes: Ein Begriff, das lerne man schon in der Schule, sei immer sehr viel weniger als Wirklichkeit.
Aber was ist wirklich? Das, was wir sehen, die Dinge? Und das, was wir glauben? (Lichtenberg?) Da zerrinnt die Wahrheit uns zwischen den Fingern, die nach der Wahrheit greifen.
Benkel zitiert Voltaire: Am Beispiel der Erinnerung, der Geschichte, formuliert er die Erkenntnis: Geschichte sei eine Lüge, auf die man sich geeinigt hat. Und der Leser fragt sich: Wie wahr ist diese Erkenntnis, und was ist Erkenntnis – Begreifen ohne Begriff? (Siehe oben.)
Was bleibt uns da noch, wenn alles zerrinnt und zerfließt. Das reflexive Denken, so Holger Benkel, das wichtigste Erbe der Aufklärung. Und die Kritik dieses Denkens. Bekommen wir nun mehr Halt? Bekommen wir wenigstens in und an uns selbst Halt?
Denn Gott ist tot oder scheint tot zu sein, scheintot oder ganz tot, ebenso die Götter, wir haben sie nach langen polytheistischen und monotheistischen Irrwegen umgesiedelt: jetzt sind sie in uns selbst, wir sind die Götter im Zeitalter des Egotheismus. Aber Halt? Geben sie Halt? Brauchen wir Gott in uns? Oder wären wir (noch) stärker, wenn wir Gott in uns nicht brauchten? Holger Benkel meint, es müsste das Ziel religiösen Denkens sein, uns vom Glauben zu befreien: „glauben muß allein, wer glaubt, daß etwas ohne glauben seine substanz verliert.“
Benkel schließt an diesen Gedanken sein Kapitel UTOPIEN an – und kehrt im Kapitel DENKEN UND (VER)DICHTEN zurück zum prae-utopischen Einzeldenker und zitiert Lichtenberg: „Jede tiefempfundene Philosophie ist nichts anderes als ein autobiographischer Roman.“ Fang an bei dir selbst, heißt das. Und was die Künstler betrifft, so besteht ihre Aufgabe darin, aus Lösungen ein Problem zu machen, und das erinnert uns an die dialektische Methode Hegels: Setze Antithesen, um wenigstens vorläufige Synthesen zu ermöglichen. Eine sympathische und hoffnungsvolle Denkart ist das. Mit Sloterdijk meint Benkel: „Intelligenz ist das letzte utopische Potential. Die einzige terra incognita, die die Menschheit noch besitzt, sind die Galaxien des Gehirns, die Milchstraßen der Intelligenz … Die Rettung der kognitiven Libido müßte das Kernprojekt der Schule werden.“
Benkel beschließt sein Nachdenken über das Denken mit mots trouvés von Roland Barthes: „literatur sah er als kunst. vom schreiben gäbe es nur eine wissenschaft, postulierte er, das schreiben selbst.“ Und er zitiert Nietzsche: „Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, daß ihm befohlen werden muß, wird er gläubig, umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewißheit den Abschied gibt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.“
Benkel meint: „die besten lehrer sind die toten.“ In Ordnung, das schaffen auch die lebenden und ungeborenen. Und für alle gilt (nach Lec): Auf den Seitenwegen des Denkens huscht gelegentlich der entsetzte Sinn vorbei.
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Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014
Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.
Weiterführend → In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.
→ In 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.
→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt Gedankenspaziergänge.