Unaufhörlicher Bewusstseinsstrom

Das lange Gedicht ist, im gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch; denn es zeigt eine Gegenbewegung gegen Einengung in abgegrenzte Gebiete und Kästchen.

Walter Höllerer

Beginnen wir in der Herleitung mit einer rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus gegensätzlichen Begriffen gebildet wird. Das Schweigen als Theorie einer Kunstgattung, deren Medium die Sprache ist, führt zu immer kürzeren, verschlüsselteren Gedichten; die Entscheidung für ganze Sätze und längere Zeilen bedeutet Antriebskraft für Bewegliches. Der Ausdruck Langgedicht ist besonders mit dem Literaturwissenschaftler und Lyriker Walter Höllerer verknüpft, der in seiner Theorie der modernen Lyrik das Langgedicht als Antwort auf die „erzwungene Preziosität und Chinoiserie“ deutscher Versformen setzte. „Berufe dich nicht auf ‚Schweigen‘ und ‚Verstummen’“, so Höllerer weiter:

Das Schweigen als Theorie einer Kunstgattung, deren Medium die Sprache ist, führt schließlich zu immer kürzeren, verschlüsselteren Gedichten; die Entscheidung für ganze Sätze und längere Zeilen bedeutet Antriebskraft für Bewegliches.

Der Begriff Langgedicht bzw. langes Gedicht bezieht sich dabei nicht primär auf die Zeilenzahl. Entscheidend ist, dass Langgedichte nicht so komprimiert auftreten wie kürzere Lyrik und damit etwaige Feiertäglichkeit vermieden werden. „Subtile und triviale, literarische und alltägliche Ausdrücke finden im langen Gedicht zusammen.“ Kein Gedicht steht für sich allein. Weigoni hat eine Vorliebe für Gedichtzyklen, in denen verschiedene Grundideen umkreist und zum Sprechen gebracht werden. Dabei stellen sich immer wieder neue Zusammenhänge her. Was in der Wissenschaft eine erweiterte Einführung wäre, ist in diesem Fall ein aktuelles Kondensat jahrzehntelangen Denkens, dadurch gewinnt die Poesie ihre unwahrscheinliche Evidenz. Quod erat demonstrandum:

A text that alludes to Eliot’s Waste Land,was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.

Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century

Bibiana Heimes, Darstellerin der Jo Chang

In ihren poetopathologischen Aufzeichnungen kämpft die Patientin Jo Chang gegen das Vergessen, das Verlassen-Werden, die Gesellschaft, Gott, und den Tod. Ihr ist das Leben entglitten. Sie versucht es auf dem Papier mit Kanjis wieder zu ordnen. Versucht das, was wir alle tun, dem Leben, wenn es schon keinen Sinn hat, wenigstens eine erzählerische Ordnung zu geben. Die seelischen Grenzüberschreitungen, die das lyrische Monodram thematisiert, vollzieht es formal in der Aufhebung der Gattungsgrenzen nach. Es wird ganz ohne Psychologie erzählt, eher als Status quo eines Experiments. Jo Chang ist auf der Suche nach ihrem Ursprung und findet Einzelteile einer versprengten Existenz.

Das Monodram Unbehaust ist der Versuch, ganz nahe an der Leere, am Unpersönlichen vorbeizugehen. Unterstützt wird der Hörspielmacher von der Schauspielerin Bibiana Heimes. Das Sprechen hat hier seine Selbstverständlichkeit verloren, es hat wenig mit Zwerchfell, Stimmband oder Resonanzraum zu tun. Jo Chang hat ihre Rede nicht. So geht viel, fast alles, verloren. Ihre Verweigerung ist konfrontativ, sie spielt auf mit enttäuschter Erwartung und liefert sich der fremden Sphäre komplexer Geistigkeit aus. Ein delirantes Bewußtseinsprotokoll wird zum Soziogramm einer gefesselten Gesellschaft. Für den passenden Ton sorgt der Hörspielkomponist Tom Täger, der eine Komposition erstellt hat, die ausschließlich aus Papiergeräuschen besteht.

Immer wieder horcht man zwischen dem dicht gewobenen Sprach- und Handlungsteppich buchstäblich auf.

Johannes Weiß

Marion Haberstroh

In Unbehaust II begleitet der Komponist Frank Michaelis die Schauspielerin Marion Haberstroh auf einer Introspektion. Die klanglichen Improvisationen spiegeln die Verunsicherungen der dargestellten Figur. Es ist eine elektronische Komposition von geringer harmonischer Komplexität, die sich im Rahmen einer modalem Tonalität bewegt und Dissonanzen sparsam verwendet. Das polyrythmische Element ist repetetiv. Michselis verwendet ein einfaches Grundmuster und variiert ständig mit leichten Variationen. Die entspricht dem Um-Sich-Kreisen der Figur.

Während sich in Unbehaust I die Frage nach dem Tod stellt, befragt Unbehaust II das Leben; das eigene und die Verantwortung für ein Werdendes. Unsere Hingabe an die Sexualität ist Hingabe an unseren Körper. Sexualität ist das stille Einverständnis, dass wir sterben müssen. Da aber gerade in diesem Moment zwei Menschen eins werden und ein neues Leben entstehen kann, fallen Leben und Tod in der Liebe zusammen.

Unter dem Stichwort Monolog (griechisch: monologos, „allein redend“, „mit sich redend“) findet sich im Nachschlagewerk folgende Anmerkung: „In der antiken Tradition gewann der Monolog vor allem mit dem Zurücktreten des Chors an Bedeutung.“ Dauert das Zurücktreten des Chors im 21. Jahrhundert noch an?

„Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.“
(Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels)

Ioona Rauschan, Regisseurin

Die Produktion Señora Nada provoziert mit einem stream-of-consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby-Surround. Darin begleitet Tom Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung ist rasch im Grundtempo. Crescendo- und Decrescendo-Verläufe schaffen fiebrig-erregte Ausdruckszonen wie die buchstäblich hervorbrechenden Forte- und Fortissimo-Attacken. Tägers Klanglichkeit bleibt Weigonis Exaltiertheit nichts schuldig. Es gibt Momente, da berühren sich Musik und Sprache, wie eine Fingerkuppe vorsichtig in eine gespannte Wasseroberfläche eintaucht, ohne sie zerstören zu wollen. Diese behutsamen Momente sind die Augenblicke, in denen für ein paar Takte kaum etwas zu hören ist. Es sind Sekunden von viel größerer Kraft als jedes Crescendo. Das Angebot, das in dieser Musik liegt, ist eine Herausforderung.

Wenn sich gegen Ende von Señora Nada, die Komposition zu einem leeren Quintklang zusammenzieht in der Pianissimo-Dynamik, haben die Takte dieses Hörstücks Welten an Ausdruck, Dynamik, Ambitus durchschritten. Man weiß es nicht so genau, ob die Ruhe nach dem Sturm nachklingt oder eine im statischen Quintklang erstarrte Erschöpfung. Die Vertonung Tom Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Jedes bedeutende Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

Ioona Rauschans wachsame, im Erzähl-Augenblick so genau beobachtende Regie vergegenwärtigt jedes dieser literarisch möglichen Leben so intensiv, daß sich niemals das Gefühl eines bloß spielerischen Als ob einstellt. Jedes mögliche Leben ist in dem Moment wahr, da es erzählt wird.

Ergänzend zu den lyrischen Monodramen seien die Oden an die Zukunftsseelen erwähnt, ein Live–Hörspiel von A.J. Weigoni für den WDR.

Elisabeth, Kaiserin von Österreich

Unzählige Biographen haben versucht dem Mythos Sisi auf die Spur zu kommen, dabei ist die Lösung einfacher, als die Lösung einer Gleichung ersten Grades: In ihren Gedichten spricht sie sich ganz unverblümt aus.

Elisabeths Gedichte aus den achtziger Jahren sind eine einzige grosse Hymne an den schwärmerisch verehrten „Meister“ Heinrich Heine. Diese Verehrung ging über die übliche Liebe eines Literaturfreundes weit hinaus. Sie kannte lange Passagen von Heine auswendig und beschäftigte sich auch intensiv mit dem Leben des Dichters.

Mit dem 1856 in Paris gestorbenen Heinrich Heine, glaubte sie sich eng verbunden, fühlte sich als seine Jüngerin und glaubte, der Meister diktiere ihr die Verse in die Feder. Ihre Dichtungen aus den achtziger Jahren bestimmte sie (anders als ihre Jugendgedichte) zur Veröffentlichung. Als Drucktermin stellte sie sich das Jahr 1950 vor, also eine Zeit, wo niemand ihrer Zeitgenossen nicht mehr lebendig waren, wenigstens in der Nachwelt wollte Elisabeth erreichen, was die Zeitgenossen ihr verweigerten: Rechtfertigung, Verständnis, Nachruhm.

Elisabeth, Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen, genannt Sisi, trat am 6. September 1998 in Schloss Morsbroich flüchtig das Leben, was sie eigentlich hätte leben wollen. 100 Jahre vorher war sie auf dem Weg von Genf nach Montreux, um auf der Bühne des Heinrich-Heine-Klubs ihre Gedichte vorzutragen. Auf dem Weg zur Fähre wird sie von dem Anarchisten Luigi Lucheni vom Leben zum Tode befördert.

Sisi, das ist keine Frau, das ist ein Mythos. Dieser Mythos bedeutet an der Oberfläche: Schönheit und Einsamkeit. In einem Hör-Spiel wird sie durch die Worte und Klänge wieder lebendig.

Dieses Langstreckenpoem setzt das Denken in Gang, es pocht in 2024 tagtäglich auf Differenzierung.

András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

In 2024 stellt die Edition Das Labor ein nachgelassenes Poem von A.J. Weigoni in 366 Strophen vor. Diese consolatio poesiae hat keinen Ort, sie wird wahrscheinlich für eine Weile im Datennirvana existieren und irgendwann ganz verschwinden. Poesie ist immer ein Beginnen, Vergehen und Neudenken. Der Kontrast dieser Poesie mit allen beredten Details, trifft auf eine konkrete Alltäglichkeit. Auch in der literarischen Publikation gilt es digitale Transformationsprozesse zu gestalten. Die Publikation dieser Wiederbelebungsmasznahme erfolgt in digitaler Form. Das Erkunden der Textsortengrenze überläßt sich ganz dem Vergehen der Zeit, dieses Langstreckenpoem folgte dem Rhythmus der Sekunden und Minuten, der Tage und Wochen und hat assoziativ Erinnerungen und Begebenheiten aufgegriffen. Es war der Versuch, eine Chronik der Zukunft zu verfassen, ohne dabei die Traditionslinien des stochastischen Schreibens zu verlassen, also nach dem Zufallsprinzip entstandene poetische Strukturen, dem Experiment verhafteten Konstrukt und den Wortfreistellungen zwischen den Zeilen.

Der Leser erlebt in dieser Netzpublikation eine Suspendierung der Gegenstandsbindung. Diese Wiederbelebungsmasznahme der Poesie ist ein Ankommen im offenen. Aus Wörtern werden Sätze. Aus Sätzen sodann Absätze. Hinter den Sprach- und Zeichensetzungsbesonderheiten steckt darüber hinaus noch wesentlich mehr. Indem dadurch ein besonderer Lesefluss erzeugt, fast erzwungen wird, werden Rhythmus und Sprach-(oder Sprech-) Melodie zu wichtigen Textelementen. Texte verwandeln sich zuweilen in Texturen. Poetisches Denken tritt in einen philosophischen Dialog, ohne Philosophie sein zu müssen. Es ist keine Geschichte geplant. Fast jeder Satz bildet einen Absatz, so dass der Erzählfluss immer wieder unterbrochen wird. Die Sprache ist verfremdet, voller Inversionen und Emphasen, aufgeraut, zwingt zum langsamen Lesen und Wieder-Holen.

Flankiert wird das Langstreckenpoem durch künstlerische Arbeiten von Haimo Hieronymus. In seinen Rotationen gibt es Zeichnungen von Feldern aus konzentrischen Ringen, die sich bedrängen und verformen. Es ist ein Prozess, der von Weiterungen und Abweichungen bestimmt ist. Es ist ein Beobachten und Skizzieren, der Versuch von der Konstruktion weg und auf das Wesentliche dahinter zu kommen. Manchmal erfassen dicke Striche das Papier, als seien unterschiedlich rotierende expansive Kräfte am Werk, die nach aussen drücken und an die Ränder verschieben. Das Branding von Haimo Hieronymus ist, keines zu haben. Sein verästeltes Lebenswerk entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg zu einer partizipativen, sozialen Plastik.

Täglich werden in 2024 auf Edition Das Labor Wortfeuerwerke gezündet, ob es zu einem Synapsenknall kommt, bleibt des Betrachter des Kalenderblatts überlassen. Diese Wiederbelebungsmasznahme der Poesie ist hat eigentlich keinen Ort, sie ist immer ein Beginnen und Vergehen. Es ist nicht möglich, Poesie in Wörter oder Bilder zu fassen. Sprache und Klänge sind immer nur Behelf. Jeder sagt und sieht etwas anderes, wenn er sich mit Poesie beschäftigt. Poesie ist ausschließlich Musik, bestenfalls mit anderer Poesie vergleichbar. Sollte es gelingen auf dem Umweg eines zwölfstrophigen Monodramas ein Panoptikum der Zeit darzustellen, so ist dies durchaus beabsichtigt; aber nicht geplant.

Der Sitz der Poesie liegt zwischen Immanenz und Transzendenz. Reine Poesie überwindet die Grenzen des Darstellbaren, alle Wege führen ins Nichts. Diese Wiederbelebungsmasznahme entwirft ein Panorama diskursiver Verflechtungen, die einzelnen Passagen sind datiert, sie sind gleichsam eine digitale Version des Abreißkalenders. Die sprachliche Genauigkeit ist schonungslos. Die abgehackten, scheinbar immer wieder steckenbleibenden Sätze des Bewusstseinsstroms machen es dem Leser nicht gerade einfach. Lyrik ist in der kondensierten Form eine Zumutung. Der Leser kann sich im kommenden Jahr an 366 Tagen seinen eigenen Reim darauf machen.

 

 

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Die Umsetzung der Monodramen als Hörspiel sind enthalten in: Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2017

Wiederbelebungsmasznahme, ein Langstreckenpoem von A.J. Weigoni. Edition das Labor 2024

Der Schuber. Das lyrische Werk + ein Hörbuch mit den Gesamteinspielungen. Edition Das Labor, Mülheim 2017.

Schmauchspuren. Gedichte. Edition Das Labor, Mülheim 2015.

Parlandos, Langgedichte & Zyklen. Edition Das Labor, Mülheim 2013.

Dichterloh. Kompositum in vier Akten. Lyrikedition 2000, München 2005

Letternmusik. Gedichte. Rospo-Verlag, Hamburg 1995

Der lange Atem. Gedichte & Collagen 1975–1985, Verlag Die Schublade Nr. 19 (Zusammenarbeit Bundensring junger Autoren), Mettmann 1985.

 

Der Schuber wurde handgefertigt von Olaf Grevels (Vorwerk Kartonagen) – Photo: Jesko Hagen

Weiterführend → 

Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO fasst die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

→ Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Hörbproben →

Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.