Wie entsteht ein Text?

 

Gedichte sind am ehesten mit einem Mosaik oder einer Collage vergleichbar. Sie bestehen aus unterschiedlichen Einzelteilen, die zusammengesetzt etwas Neues, etwas Selbständiges ergeben. Jeder Text hat eine andere Entstehungsgeschichte, die von außen nicht wahrnehmbar ist. Seine Inhalte unterliegen einem Prozess  der Gestaltung und Verfremdung, an dessen Ende ein Ergebnis steht, dessen Wege, erst recht Motive, allzu rasch fehlinterpretiert werden können. Selbst bei Gedichten, die relativ geradlinig entstanden sind, dabei klar und deutlich erscheinen.
AUSSICHT

Die jungen Mädchen lachen

und sind schön Ihr Herz

leuchtet in Großaufnahme

Der Tag verspricht

Schwebetänze am Balkon

 
Ein kurzer Moment auf der Straße. Ich glaube, ein Pärchen, mit ein, zwei Metern Abstand zwischen ihnen. Beschwören könnte ich es nicht. Vielleicht war es auch eine Einzelperson, die lachte, weiblich, jung, hübsch. Das Wesentliche war nicht einmal der Anblick, sondern die Energie, die für einen kurzen Moment sichtbar wurde. An einem Morgen, auf dem Weg zur Arbeit. Als Signal dafür, dass es noch eine andere Möglichkeit gäbe, den Tag, sein Leben zu verbringen. Die jungen Mädchen / lachen und sind schön. Die beiden Zeilen waren da. Eine Ableitung, eine Verallgemeinerung, eine Feststellung. Nicht mehr bezogen auf eine bestimmte Person. Kurz danach die Idee: ein zweiter Vers würde beginnen mit: Die alten Frauen. Um die Lebensreise darzustellen, die Veränderungen, denen wir unterworfen sind. Aber zuerst musste das Strahlen in Worte gefasst werden. Wenige Sekunden später: Ihr Herz leuchtet / in Großaufnahme. Wobei ich nicht mehr dezidiert sagen kann, ob die Idee vom zweiten Vers oder die Zeilen drei und vier zuerst entstanden sind. Selbst die Rekonstruktion ist nicht verlässlich. Es war ein Prozess von ein bis maximal zwei Minuten, bevor es in die U-Bahn ging. Mit der Absicht, den Entwurf im Büro sofort aufzuschreiben, um ihn nicht zu vergessen. Woran ich natürlich nicht dachte, auch nicht am nächsten Tag, aber die Zeilen im Gedächtnis behielt. Zwei Tage später versuchte ich textlich anzuschließen. Doch es wollte nicht gelingen, die Worte ließen sich nicht passend formen. Ein Zeichen dafür, wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren zu müssen, zu dem Moment, an dem das Gefühl von Glück, von Unbeschwertheit in der Luft lag. Das Gedicht musste in eine andere Richtung. Der Tag verspricht. Kein neuer Vers, stattdessen zwei Schlusszeilen, mehr würde nicht nötig sein, nachdem die Fortsetzung gefunden war, die sich zuerst noch verhalten, fast zögernd einstellte. Wort für Wort. Schwebetänze, danach am Balkon, zuletzt der Titel Aussicht. Am nächsten Tag schrieb ich den Blogartikel: Am besten alles verbieten? Über die Debatte, die um das Gedicht avenidas von Eugen Gomringer geführt wurde. Ein angeblich sexistisches Gedicht, weil in ihm Frauen vorkommen, Blumen, Alleen. Ein Bild gemalt ohne Verben. Ein paar Tage später fiel mir auf, dass es zwei Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gedichten gab. Den Moment der Beobachtung, wie ihn wahrscheinlich schon Ägypter, Sumerer und Babylonier in ihren Straßen erlebten. Grunderfahrungen als Auslöser für Gedankengänge, die jeder auf seine Art und Weise in Worte oder Verse fasst. Gegebenenfalls in Bilder, Skulpturen, Theaterstücke einfließen lässt, gemäß Handwerk, mehr oder weniger vorhandener Begabung. Und die Möglichkeit zur Fehlinterpretation, wenn man nach ihr sucht. Zur Fliegenklatsche, ihrer rigorosen Anwendung, mit dem Versuch, alles mit der gleichen Farbe zu übermalen. Am Ende steht ein Text, der eine Geschichte in sich trägt, die jemand anhand des formalen Aufbaus oder ihres semantischen Inhalts nur unzulänglich interpretieren, sich ihr bestenfalls annähern kann. Wenn sogar der Künstler über seine eigenen Quellen manchmal nur Vermutungen anzustellen vermag, wie soll jemand anderer mit Gewissheit eine objektive Wahrheit feststellen, die angeblich unwiderruflich im vorliegenden Text zu finden sei? Farbschichten, Weglassungen, verschiedenste Stilmittel lassen etwas Eigenständiges entstehen. Zusammenhänge, die jemand deuten möchte, sagen oft mehr über individuelle persönliche Landkarten aus, über Prägungen und Erfahrungen des Lesers oder Kritikers. Die Nachricht ist die Botschaft des Empfängers. Diese Kommunikationsregel gilt erst recht für Kunstwerke. Sie sind mit einer Flaschenpost vergleichbar. Ausgesetzte Objekte, die eine Reise antreten, bei der Absicht und Weg zu unbestimmbaren Parametern geraten. Betrachten wir einen Stein und empfinden dabei gleichzeitig negative Gefühle, so wäre es höchst unsinnig, diesen dafür verantwortlich zu machen.

 

 

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u.a. erschienen: Weiße Kreide, Gedichte von Martin Dragosits, Edition Art Science, 2017

Diese Gedichte beschreiben Stars auf Zeit, selbstverliebte Welpenfänger, schmale Träume in Hosentaschen, die Füße fest am Boden. wo doch das Wünschen / als Prinzip der Lüge / in uns allen steckt. Quantenmechanische Zustandskomik, angedachte Farbplakate, kleine Schuld-und-Sühne-Schleifen, in denen darüber nachgedacht wird, was mit uns geschieht. Gedichtbände haben keinen Plot, keine Protagonisten: weiße Kreide, fahrende Züge, angespannte Augenbrauen. Aufgeteilt in sechs Kapitel zwischen Revue, Ringelspiel und Gegenwartsfragen, mit Skizzen von Provinz und Vergänglichkeit.

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Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.