DAS BUCH

 

ließ sich ein mann sein lesepult zimmern für ein einziges buch

kettete er es an damit es nicht gestohlen wird eines tages aber

 als er einmal nicht im raum war öffnete ein junger gast heimlich

 die seiten um darin zu lesen buchstabierte er angestrengt die worte

zersprangen sie plötzlich wie gefäße zu scherben sah er bilder

vor sich bog sich die diele nach oben konnte er nicht fliehen

 kratzte es an der tür krochen schillernde schlangen auf krallen

 ins zimmer folgten ihnen enten schlangenhalsig gefiederte molche

 ein mensch mit löwenkopf und hühnerbeinen pferd mit hahnenschwanz

 und hund mit drachenflügeln brach hervor aus dem boden

 ein riesiger rasselnder hochbeiniger krebs und lief über fensterbänke

 und regale dann erschien ein herr schwarz gekleidet und riet dem jungen

 das buch von hinten zu lesen als er es tat verschwand ein tier

 nach dem anderen zog eine kröte die letzte bohle über sich zu

 lagen unter trümmern splitter die nicht erlöst werden konnten

 

 

 

 

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Gedichte nach Sagen aus Börde und Altmark, von Holger Benkel, 2024

Wilhelm and Jacob Grimm, 1847; daguerreotype von Hermann Blow

Weiterführend

Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm. Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft.

Holger Benkels Gedanken, die um Ecken biegen gehen weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang. Sie versuchen, diesen kleinen Rest an Sprache etwas aufzuhellen, und wagen es seine Ränder verstehbar zu machen.

Holger Benkel beweist als Lyriker in seinem Band Seelenland ein Gespür für das Unvertraute im Vertrauten, das Unheimliche des Alltäglichen, das Scheinhafte des Realen.