Es gibt neunmalweise Leute in Deutschland, die mit dem letzten Goethe’schen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären. Forscht man näher nach bei ihnen, so theilen sie Einem vertraulich mit, daß sie eine neue Blüte derselben überhaupt für unwahrscheinlich halten, am wenigsten aber auch nur die kleinsten Keime dazu in den Hervorbringungen der letzten zwanzig Jahre gewahren könnten. Wir kennen dies Lied. Die goldenen Zeiten sind immer vergangene gewesen. Wollten jene Herren, die so grausam über alles Neue den Stab brechen, nach der eigensten Wurzel ihres absprechenden Urtheils forschen, sie würden sie in selbstsüchtiger Bequemlichkeit und in nichts Besserm finden. Gerechtigkeit gegen Zeitgenossen ist immer eine schwere Tugend gewesen, aber sie ist doppelt schwer auf einem Gebiete, wo das wuchernde Unkraut dem flüchtigen Beschauer die echte Blüte verbirgt. Solche Blüten sind mühsam zu finden, aber sie sind da. Was uns angeht, die wir seit einem Decennium nicht müde werden, auf dem dunklen Hintergrunde der Tagesliteratur den Lichtstreifen des Genius zu verfolgen, so bekennen wir unsere feste Ueberzeugung dahin, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten, und daß wir drauf und dran sind, einem Dichter die Wege zu bahnen, der um der Richtung willen, die unsere Zeit ihm vorzeichnet, berufen sein wird, eine neue Blüte unserer Literatur, vielleicht ihre höchste, herbeizuführen.
Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisirt, das ist ihr Realismus. Die Aerzte verwerfen alle Schlüsse und Combinationen, sie wollen Erfahrungen; die Politiker (aller Parteien) richten ihr Auge auf das wirkliche Bedürfniß und verschließen ihre Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult; Militärs zucken die Achsel über unsere preußische Wehrverfassung und fodern „alte Grenadiere“ statt „junger Rekruten“; vor allem aber sind es die materiellen Fragen, nebst jenen tausend Versuchen zur Lösung des socialen Räthsels, welche so entschieden in den Vordergrund treten, daß kein Zweifel bleibt: die Welt ist des Speculirens müde und verlangt nach jener „frischen grünen Weide“, die so nah lag und doch so fern.
Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiete unsers Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr. Die bildende Kunst, vor allem die Sculptur, ging hier mit gutem Beispiel voran. Als Gottfried Schadow die Kühnheit hatte, den Zopf in die Kunst einzuführen, nahm er ihr zugleich den Zopf. So wurde der „Alte Dessauer“, an dessen Dreimaster und Gamaschen wir jetzt gleichgiltig vorübergehen, zu einer That von unberechenbarer Wirkung. Jener Statue zur Seite stehen Schwerin und Winterfeldt in antikem Costüme, und wahrlich, wenn es Absicht gewesen wäre, das Ridicule der einen Richtung und das Frische, Lebensfähige der andern zur Erscheinung zu bringen, die Zusammenstellung hätte nicht sprechender getroffen werden können. Seit funfzig Jahren sind wir auf dem betretenen Wege fortgeschritten in Malerei, Sculptur und Dichtkunst, und es war ein Triumphtag für jene neue Richtung, von der wir uns eine höchste Blüte moderner Kunst versprechen, als die Hülle vom Standbild Friedrich’s des Großen fiel und der „König mit dem Krückstocke“ auf ein jubelndes Volk herniederblickte. Dieser „Alte Fritz“ des genialen Rauch ist übrigens nicht das Höchste der neuen Kunst; er gehört jenem Entwickelungsstadium an, durch das wir nothwendig hindurch müssen; es ist der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt.
Wir haben bei der Sculptur (in der Malerei würden wir als besonders charakteristisch Adolf Menzel und den Amerikaner Karl Leutze zu nennen haben) mit vollem Vorbedacht so lange verweilt, einmal um an bekannten Beispielen darzuthun, wie bedeutsam und in die Augen springend das Grundstreben unserer Zeit sich bereits auf einzelnen Kunstgebieten geltend gemacht hat, andererseits um verstanden zu werden, wenn wir in Bezug auf die Dichtkunst ausrufen: was uns zunächst noththut, ist ein Meister Rauch unter den Poeten. Er, als der entschiedenste, wennschon nicht höchste Ausdruck einer neuen Kunstrichtung, fehlt uns noch, aber es fehlt uns nicht die Richtung überhaupt. Die moderne Kunst ist auf allen Gebieten dieselbe, und ihre Unterschiede sind nur quantitativer Natur, wie sie durch ein verschiedenes Maß von Kraft und Talent bedingt werden. Wir haben im Romane einen Jeremias Gotthelf, im Drama einen Hebbel, in der Lyrik einen Freiligrath. Bevor wir indeß dazu übergehen, diesen Realismus theils an den einzelnen Erscheinungen unserer modernen Literatur nachzuweisen, theils darzuthun, was wir auf diesem Gebiete unter Realismus verstehen, sei uns noch gestattet, eine Art Genesis desselben zu geben.
Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja, noch mehr: er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte, solange sein Organismus noch überhaupt ein lebensfähiger war. Der unnatürlichen Geschraubtheit Gottsched’s mußte, nach einem ewigen Gesetz, der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessing’s folgen, und der blühende Unsinn, der während der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts sich aus verlogener Sentimentalität und gedankenlosem Bilderwust entwickelt hatte, mußte als nothwendige Reaction eine Periode ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes nach sich ziehen, von der wir kühn behaupten: sie ist da. Aus dem Gesagten ergibt sich von selbst eine nahe Verwandtschaft zwischen der Kunstrichtung unserer Zeit und jener vor beinahe hundert Jahren, und, in der That, die Aehnlichkeiten sind überraschend. Das Frontmachen gegen die Unnatur, sie sei nun Lüge oder Steifheit, die Shakspeare-Bewunderung, das Aufhorchen auf die Klänge des Volksliedes – unsere Zeit theilt diese charakteristischen Züge mit den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und es sollte uns nicht schwer fallen, die Persönlichkeiten zu bezeichnen, welche die Herder und Bürger unserer Tage sind oder zu werden versprechen. Das klingt wie Blasphemie und ist es doch keineswegs. Man warte ab, was sich aus unsern jungen Kräften entwickelt, und überlasse es dem Jahre 1900, zwischen uns und Jenen zu entscheiden. Aber, gesetzt auch, daß die poetische Kraft und Fülle Derer, die wir für berufen erachten, das angefangene und wiederunterbrochene Werk der hervorragenden Geister des vorigen Jahrhunderts fortzusetzen, sich als zu schwach für solche Aufgabe erweisen sollte, so sind wir doch entschieden der Meinung, daß unser Irrthum sich lediglich auf die Personen beschränken wird, und daß neben diesen nothwendig sich Talente entwickeln müssen, die bei gleicher dichterischer Begabung den Göttinger Dichterbund und selbst die Heroen der Sturm- und Drangperiode um so weit überflügeln werden, als sie ihnen an klarer Erkenntniß Dessen, worauf es ankommt, voraus sind. Es ist thöricht, Autoritäten im Glanze unfehlbarer Götter zu erblicken. Dem Guten folgt eben das Bessere. Unsere Zeit weiß mehr von Shakspeare, als man vor hundert Jahren von ihm wußte, und selbst Tieck und Schlegel werden sich nächstens Verbesserungen gefallen lassen müssen. Der alte Isegrimm Wolff stach den Voß aus, und es ist keine Frage, daß man sich auf englische und spanische Volksgesänge heutzutage besser versteht als zu den Zeiten Bürger’s und Herder’s. Man weiß mehr von den Sachen, und mit dem Wissen ist größere Klarheit und Erkenntniß gekommen; einem kommenden Genius ist vorgearbeitet; er wird sich nicht zersplittern, nicht rechts und links umherzutappen haben; er wird seine Stelle finden, wie sie Shakspeare fand. Das ist der Unterschied zwischen dem Realismus unserer Zeit und dem des vorigen Jahrhunderts, daß der letztere ein bloßer Versuch (wir sprechen von der Periode nach Lessing), ein Zufall, im günstigsten Falle ein unbestimmter Drang war, während dem unserigen ein fester Glaube an seine ausschließliche Berechtigung zur Seite steht.
Es dürfte vielleicht eben hier an der Stelle sein, mit wenigen Worten auf das Verhältniß hinzuweisen, daß die beiden Träger unserer sogenannten classischen Periode jener Richtung gegenüber einnehmen, die wir in Vorstehendem nicht Anstand genommen haben entschieden als die unserige zu bezeichnen. Beide, Goethe wie Schiller, waren entschiedene Vertreter des Realismus, solange sie „unangekränkelt von der Blässe des Gedankens“ lediglich aus einem vollen Dichterherzen heraus ihre Werke schufen. „Werther“, „Götz von Berlichingen“ und die wunderbar-schönen, im Volkstone gehaltenen Lieder der Goethe’sche Jugendperiode, soviele ihrer sind, sind ebenso viele Beispiele für unsere Behauptung, und Schiller nicht minder (dessen Lyrik freilich den Mund zu voll zu nehmen pflegte) stand mit seinen ersten Dramen völlig auf jenem Felde, auf dem auch wir wieder, sei’s über kurz oder lang, einer neuen reichen Ernte entgegensehen. Die jetzt nach Modebrauch (und auf Kosten des ganzen übrigen Mannes) über alle Gebühr verherrlichten „Räuber“ gehören dieser Richtung weniger an als „Fiesco“ und „Kabale und Liebe“, denn der Realismus ist der geschworene Feind aller [357] Phrase und Ueberschwänglichkeit; keine glückliche, ihm selber angehörige Wahl des Stoffs kann ihn aussöhnen mit solchen Mängeln in der Form, die seiner Natur zuwider sind. – Im Uebrigen blieben ihm unsere großen Männer nicht treu fürs Leben; Schiller brach in seinen letzten Arbeiten vollständig mit ihm, und Goethe (der in der Form ihn immer hatte und immer bewahrte) verdünnte den Realismus seiner Jugend zu der gepriesenen Objectivität seines Mannesalters. Diese Objectivität ist dem Realismus nahe verwandt, in gewissen Fällen ist sie dasselbe; sie unterscheiden sich nicht im Wie, sondern im Was, jene ist das Allgemeine, dieser das Besondere; die „Braut von Korinth“ hat Objectivität, das jede Herzensfaser erschütternde „Ach neige, du Schmerzensreiche“ hat Realismus. Wir werden bald Gelegenheit finden, uns des Weitern hierüber auszulassen. An dieser Stelle nur noch die Beantwortung der Frage: war der „Torquato Tasso“ (die Vollendung der Dichtung in ihrem Genre wird Niemand bekämpfen) oder gar die „Jungfrau von Orleans“ ein Fortschritt oder nicht? Wir beantworten diese Frage mit einem bloßen Hinweis auf Lessing oder auf Shakspeare, der übrigens (weil er als Poet und nicht als Kritiker dichtete) das Princip, um das es sich hier handelt, in minder ausschließlicher Reinheit vertritt. Der „Nathan“, diese reifste Frucht eines erleuchteten Geistes, der – gleichviel ob Dichter oder nicht – wie keiner, weder vor ihm noch nach ihm, wußte worauf es ankommt, liefert uns den sprechenden Beweis, daß dreißig Jahre voll eifervollen Studiums, voll Nachdenkens und Erfahrung außer Stande gewesen waren, die Anschauungen von einer ausschließlichen Berechtigung des Realismus innerhalb der Kunst im Herzen unserer großen kritischen Autorität zu erschüttern, und, wenn es irgendwo gestattet ist, auf Autoritäten zu schwören, so dürfte hier die Stelle sein. Wir wiederholen, auch der „Nathan“ ist auf dem Boden des Realismus gewachsen, und, weil wir nicht eben überrascht sein würden, diese unsere Behauptung selbst von halben Richtungsgenossen angezweifelt zu sehen, zögern wir nunmehr nicht länger, unsere Ansicht darüber auszusprechen, was wir überhaupt unter Realismus verstehen.
Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, daß es nöthig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Productionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht u. dgl. m.) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt. Wol ist das Motto des Realismus der Goethe’sche Zuruf:
Greif nur hinein ins volle Menschenleben,
Wo du es packst, da ist’s interessant;
aber freilich, die Hand, die diesen Griff thut, muß eine künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunstwerk, und dennoch haben wir die Erkenntniß als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf. Diese Erkenntniß, sonst nur im Einzelnen mehr oder minder lebendig, ist in einem Jahrzehnd zu fast universeller Herrschaft in den Anschauungen und Productionen unserer Dichter gelangt und bezeichnet einen abermaligen Wendepunkt in unserer Literatur. Ein Gedicht wie die in ihrer Zeit mit Bewunderung gelesene „Bezauberte Rose“ könnte in diesem Augenblicke kaum noch geschrieben, keinesfalls aber von Preisrichtern gekrönt werden; der „Weltschmerz“ ist unter Hohn und Spott längst zu Grabe getragen; jene Tollheit, die „dem Felde kein golden Korn wünschte, bevor nicht Freiheit im Lande herrsche“, hat ihren Urtheilsspruch gefunden, und jene Bildersprache voll hohlen Geklingels, die, anstatt dem Gedanken Fleisch und Blut zu geben, zehn Jahre lang und länger nur der bunte Fetzen war, um die Gedankenblöße zu bergen, ist erkannt worden als Das, was sie war. Diese ganze Richtung, ein Wechselbalg aus bewußter Lüge, eitler Beschränktheit und blümerantem Pathos, ist verkommen „in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle“, und der Realismus ist eingezogen wie der Frühling, frisch, lachend und voller Kraft, ein Sieger ohne Kampf.
Wenn wir in Vorstehendem – mit Ausnahme eines einzigen Kernspruchs – uns lediglich negativ verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der Realismus nicht ist, so geben wir nunmehr unsere Ansicht über Das, was er ist, mit kurzen Worten dahin ab: er ist die Wiederspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst; er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine „Interessenvertretung“ auf seine Art. Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste: den Columbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wasserthierchen, dessen Weltall der Tropfen ist; den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn Alles das ist wirklich. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das blos Handgreifliche, aber er will das Wahre. Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcirte, das Nebelhafte, das Abgestorbene – vier Dinge, mit denen wir glauben eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben. Der Realismus wünscht nicht „todt geschossen zu werden“, wie Heine in einem seiner berühmtesten Liedchen; er wünscht nicht wie Freiligrath „gelehnt an eines Hengstes Bug“ zu stehen; er beschwört nicht wie Lenau „den Blitz, ihn zu erschlagen“, er nennt den Gram nie und nimmer wie Karl Beck „den rothen Korsaren im stillen Meere der Thränen“; er hält nichts von Redwitz’schen „Harfensteinen“ und belächelt jenen unerreichten Freiheitssänger aus der Herwegh’schen Schule, der „sich blind zu sein wünschte, um nicht die Knechtschaft dieser Welt tagtäglich mit Augen sehen zu müssen“. Der Realismus hält auch nichts von Dem, was unserm Interesse völlig fremd geworden ist. Der ganze La Motte-Fouqué ist ihm mit Haut und Haaren noch nicht das kleinste Uhland’sche Frühlingsliedchen werth, und ein deutscher Kernspruch ist ihm lieber als alle Weisheit des Hariri. Ob König Thor den Hammer schwingt oder nicht, ist ihm ziemlich gleichgiltig, und Sesostris und Rhampsinit, ja selbst die „Kraniche des Ibykus“ mit der Schilderung griechischen Bühnenwesens, oder die „Braut von Korinth“ mit ihrem wunderbar verzwickten Problema, sind nichts weniger als angethan, dem Realismus seine heiterste Miene abzugewinnen. Noch einmal: er läßt die Todten oder doch wenigstens das Todte ruhen; er durchstöbert keine Rumpelkammern und verehrt Antiquitäten nie und nimmer, wenn sie nichts Anderes sind als eben – alt. Er liebt das Leben je frischer je besser, aber freilich weiß er auch, daß unter den Trümmern halbvergessener Jahrhunderte manche unsterbliche Blume blüht.
Wir wenden uns nunmehr zu den Erscheinungen selbst und schicken nur noch zwei unerläßliche Bemerkungen voraus. Zunächst bitten wir, dem begrenzenden Zusatz unserer Ueberschrift „seit 1848“ außer der Absicht, an bestimmter Stelle einen Strich ziehen zu wollen, keine weitere Bedeutung unterzuschieben. Wir sind durchaus nicht der Meinung, daß die Vorgänge des Jahres 1848 richtunggebend auf unsere schönwissenschaftliche Literatur eingewirkt haben, und können uns höchstens zu der Ansicht bequemen, daß sie der Gewitterregen waren, der die Entfaltung dieser oder jener Knospe zeitigte. Aber die Knospen waren da. Wir würden vergeblich geschrieben haben, wenn dem Leser nicht unsere Ansicht dahin entgegengetreten wäre, daß der Realismus kam, weil er kommen mußte, und daß die Extravaganzen innerhalb der Kunst selbst den Keim und die Nothwendigkeit einer gesunden Reaction mit sich führten. Ein rein äußerlicher Grund ließ uns jene Bezeichnung „seit 1848“ wählen, und zwar der Wunsch, bei den Einzelbesprechungen nicht auf Persönlichkeiten und Productionen recurriren zu müssen, die bereits seit Jahren der Kenntnißnahme des Lesers vorliegen und seine Sympathien oder Antipathien gefunden haben.
Und noch eine zweite Bemerkung. Wenn wir in Vorstehendem den Realismus als den charakteristischen Zug unserer Zeit und unserer Kunst bezeichnet haben, so erwarte man doch keineswegs von uns, daß wir nun bei Aufzählung der einzelnen Productionen bemüht sein werden, jene im Großen und Kleinen unleugbar vorhandene Wahrnehmung auch in den kleinsten Erscheinungen nachzuweisen. Am allerwenigsten sind wir geneigt, uns mit einer zurechtgeschnittenen Schablone an die Arbeit zu machen und ohne weiteres zu verwerfen, was nicht in dieselbe hineinpaßt. Wir wissen, daß immer noch Vieles geschrieben wird, was sich geflissentlich vom Realismus fernzuhalten sucht, und sind durchaus nicht gewillt, uns gegen das Maß von Talent (auch wenn wir seine Richtung nicht gutheißen können) zu verschließen, das aus manchen dieser Dichtungen ganz un[361]bestreitbar hervorleuchtet. Wir werden also in Nachstehendem nicht loben und tadeln, je nachdem uns aus den verschiedenen Productionen unsere eigene Richtung entgegentritt oder nicht, sondern wir werden, eingedenk der Wahrheit, daß alles Schematisiren und Rubriciren doch erst in zweiter Reihe steht, mit gespanntem Ohre auf das Wort des Genius lauschen und, ehe wir uns weitere Fragen vorlegen, vor allem immer die eine beantworten, ob wir’s mit einem Dichter zu thun haben oder nicht. Denn noch einmal: der Weg, den wir einschlagen, ist Viel, aber er ist nicht Alles; gewichtiger bleibt immer die Frage: wer ihn betritt. Die „Jungfrau von Orleans“ und „Wilhelm Tell“ schreiten nicht auf unsern Wegen einher, aber wer unter uns hätte den Muth, bedeckten Hauptes vor dem Genius stehen zu bleiben, der jene Werke schuf?
Und so denn ans Werk!
Wir beginnen mit vier Namen, die trotz der größten Verschiedenartigkeit unter sich doch das Eine miteinander gemein haben, daß es dem Jahre 1848 und seinen Vorgängen vorbehalten war, ihren ganz besondern Ruhm zu begründen. Diese vier Namen sind: Freiligrath (worunter wir immer den neuen Socialreformer im Gegensatze zum alten Wüstenkönig verstehen), Redwitz, Scherenberg und Otto Roquette. Alle vier sind „Poeten“; aber ihre besondern Erfolge waren nur unter besondern Umständen möglich. Freiligrath war der Tyrtäus der deutschen Barrikadenarmee, und ohne den Fanatismus jener Zeit wäre es unmöglich gewesen, seine fliegenden Blätter, zahllos wie eine Heuschreckenplage, sich über Deutschland verbreiten zu sehen. Der Revolution und der Erhebung der Gemüther folgten Reaction und Erschlaffung. Die Reaction (politische wie religiöse) hob Redwitz und Scherenberg auf ihren Schild; die Erschlaffung, die wieder Ruhe und Gemüthlichkeit haben wollte, machte Otto Roquette zu ihrem Manne. Hiermit kann und soll nichts gegen die Dichter selbst gesagt sein; sie fanden günstigen Wind vor und segelten damit; für uns aber, die wir nicht gewohnt sind, die Dinge nach äußerlichen und rein zufälligen Erfolgen zu beurtheilen, ergeben sich aus dem Factum einer funfzehnten Auflage noch keine besondern Verdienstlichkeiten, und, so gewiß wir in Nachstehendem den billigen Forderungen jener vier Dichter gerecht zu werden hoffen, so bestimmt wissen wir auch, daß Mancher von [362] Denen uns mehr gilt, die bei der Wettfahrt weit, weit zurückblieben und um desselben Windes willen nicht recht von der Stelle gekommen sind, der jene Vier im Fluge über die Wellen trug.
Freiligrath.
Die Erscheinung Freiligrath’s in unserer Literatur ist noch lange nicht hinreichend gewürdigt. Nachdem sich jene erste Begeisterung lange gelegt hat, womit derselbe – noch zu Chamisso’s Zeiten – vom deutschen Volke begrüßt wurde, ist es in Folge jener Impietät, die den Deutschen charakterisirt, Mode geworden, über die Wüstenpoesie vornehm die Achseln zu zucken und zu thun, als verrathe es Mangel an Bildung und Geschmack, sich durch so „gedankenloses Zeug“ unterhalten zu lassen. Es liegt hierin eine schnöde Undankbarkeit. Wir sind Freiligrath in einer Weise verpflichtet, wie vielleicht seit dem Tode Schiller’s keinem Zweiten, und erweisen ihm kaum Ehre genug, wenn wir ihn den „Bürger“ unserer Epoche nennen. Es gab eine Zeit, wo man auf ihn als auf den Träger der gesammten Kraft und Frische unserer modernen Literatur blicken konnte, und einer Richtung, die jetzt Schritt vor Schritt dem endlichen Siege näher rückt, hat er die Wege gebahnt. Wir sind ihm doppelt verpflichtet. Er war zunächst ein Reformator innerhalb der Form; er ist es schließlich auch dem Stoffe nach geworden. Seine frühern Gedichte waren insofern mangelhaft, als sich Form und Inhalt in ihnen nicht recht deckten. Beide waren neu, aber, während die Form (wir sprechen natürlich nur von den besten Sachen) Neuheit mit Natürlichkeit einte, war der Inhalt neu wie etwa – Rococo. Der meisterhafte Ausdruck (denn es war, als gewönnen die Worte neue Kraft und neuen Vollklang unter seinen Händen) ward oft an einen Inhalt verschwendet, der im günstigsten Falle eine Marotte war, und es galt, sich aus diesen Banden zu befreien, wenn er nicht das zweifelhafte Lob in die Literaturgeschichte mit hinüber nehmen wollte: der Berlioz, d.h. der lauteste und dröhnendste Componist unserer Sprache gewesen zu sein. Und er machte sich frei! Er vergaß zu seinem Heil, daß er einmal geschrieben hatte:
Laßt mir der Wüste dürren Pfad!
Wächst in der Wüste nicht die Palme?
Und, andere Pfade einschlagend, errang er sich das schattige Blatt, [363] das seine Sehnsuch gewesen war. Freiligrath in einzelnen seiner neuern Dichtungen ist ganz der Poet, den wir fodern. Nicht der höchste Ausdruck desselben (denn es fehlt ihm die Macht des Gedankens), aber völlig auf dem Wege, den wir als den besten zum Ziele bezeichnet haben. Das Gedicht „Die Todten an die Lebenden“ (jetzt aus allen möglichen Gründen halb vergessen) ist in Wahrheit ein Apostel des Realismus. Inhalt und Form decken hier einander: der Stoff aus dem vollsten Leben herausgerissen, die Behandlung einfach und doch schwungvoll, wahr und doch voll Phantasie. Wir verwahren uns auf das entschiedenste dagegen, als ob die politische Richtung dieses Gedichts auf unser Urtheil influirt hätte; wir bekennen uns vielmehr als einen eingefleischten Royalisten vom Wirbel bis zur Zeh, können aber freilich nicht umhin, bei Beurtheilung von Kunstwerken lediglich den ästhetischen Maßstab gelten zu lassen. Haß gegen das Bestehende und Republikanismus mögen hier zu Lande eine Kugel vor den Kopf verdienen, aber sie sind um deshalb noch nicht unschön oder ungeeignet für eine dichterische Behandlung. „Eine feste Burg ist unser Gott“ sangen die Lutherischen bei Lützen; wir fodern nichtsdestoweniger auch von jedem Katholiken ein Gefühl für die Schönheiten dieses Liedes, vorausgesetzt, daß er unter ästhetisch gebildeten Leuten mitzählen will.
Oskar von Redwitz.
Die Erfolge der „Amaranth“ bilden ein Unicum in unserer Literatur; selbst Geibel ist dadurch in den Hintergrund gedrängt worden. Wir erinnern uns aus einem vorjährigen Aufenthalte in London, das „rothe Buch mit Goldschnitt“ überall auf den Büchertischen bemerkt zu haben, wohin die fashionable Vorliebe für deutsche Literatur nur irgendwie gedrungen war. Dort wie hier waren es orthodox-protestantische Kreise, in denen das Buch mit Andacht und Begeisterung gelesen wurde, und wir könnten in den bekannten Ausruf ausbrechen: „Die Dummheit ist das ewig Siegende!“ wenn wir uns so recht vergegenwärtigen, daß Jahre vergehen mußten, bevor dem protestantischen Norddeutschland die Schuppen von den Augen fielen und es Einsicht gewann, was eigentlich des Pudels Kern sei. Wir entsinnen uns, die „Amaranth“ vielfach bei Landpredigertöchtern vorgefunden und den Herrn Pastor selber in leidlicher Extase über [364] „diese herrliche Dichtung“ gesehen zu haben, sodaß uns an diesem Beispiele wieder so recht klar geworden ist, wie kleine Zahlen das Häuflein Derer aufweist, die überhaupt irgend welches Verständniß für eine Dichtung (gleichviel welche) mitbringen, und daß sich die meisten Menschen, selbst Personen von sogenannter literarischer Bildung, sofort ihres Urtheils, ja selbst ihres gesunden Menschenverstandes begeben, sobald sie gereimte Jamben vor sich haben. Der albernste Autoritätsglaube, die geistloseste Nachplapperei tritt sofort an die Stelle der eigenen Kritik, und, zu bequem zum Nachdenken, zu feig zum Widersprechen, faselt sich Groß und Klein in eine Begeisterung hinein, die natürlich so lange dauert wie die Mode und der Antrieb, der sie gibt.
Die „Amaranth“ ist ein katholisches Buch, und wir dürfen uns nicht wundern, daß Herr Reichensperger um dieser Tendenz der Dichtung willen sie in ultramontanen (namentlich auch französischen) Blättern als die bedeutendste Erscheinung der neuern deutschen Literatur herausgehoben hat. Wir wundern uns auch nicht, daß man Herrn von Redwitz nach Wien berufen hat und daß er damit umgeht, das kirchliche Drama des Mittelalters (über dessen Ueberreste Eduard Devrient so interessant geschrieben) wieder zu beleben. Wir finden das Alles überaus natürlich, aber wir können freilich keinen Grund aus der Leichterklärlichkeit dieser Thatsachen herleiten, um auch die Productionen des Dichters als Arbeiten von ganz besonderm ästhetischen Werth zu betrachten. Der „Katholicismus“ ist’s keineswegs, woran wir Anstoß nehmen, ja sogar nicht einmal die katholische Tendenz. Wir wissen sehr wohl, auf wie gutem Fuße Poesie und katholische Kirche stehen, und kennen die Kräfte, die dem gläubigen Dichter aus ihr erwachsen. Aber, was uns widersteht, das ist der Amaranth’sche Katholicismus, ein armes, eitles, cokettes Ding, das entweder die Lüge selber ist, oder doch mit seinen feinen Füßchen in Vaters großen Stiefeln so lächerlich einherschreitet, daß man das Bischen Verwandtschaft gar nicht merkt und immer wieder nur den Eindruck der Unwahrheit, mindestens völliger Gespreiztheit empfängt. Die einzig gesunde, lebensfähige Gestalt dieser Dichtung ist Ghismonda, sie eben, die gegeißelt und in ihrem Unglauben gebrandmarkt werden soll. Ritter Walter ist kein Ritter, sondern der modernste, pretensiöseste Geck von der Welt, ein Fant, der durch Jagdhorn und obligaten Falken noch lange nicht zum Jäger und durch etwas Sehnsucht nach dem Heiligen Grabe noch lange nicht zum Kreuzfahrer gestempelt wird. Die Art, wie er Ghismonden seinem Wunsch und Willen gehorsam machen will, ist lächerlich, und die eclatante Weise, in der er mit ihr bricht (nachdem er lange weiß, wie es mit ihrem Glauben steht), verächtlich und nichts als Effecthascherei. Der Dichter brauchte dies große Tableau, um den Pomp der Kirche in aller Herrlichkeit entfalten zu können. Und nun Amaranth selbst, dies holde Waldkind? Man lese die Lieder, die sie singt. Wir unserstheils haben, ein paar Niedlichkeiten abgerechnet, nie Alberneres gelesen. Das soll naiv, das soll der Ton des Volkslieds sein? Komödianterei und nichts weiter. Wir haben Gärtnermädchen und Bäuerinnen auf wüsten Maskenbällen gesehen: sie trugen Friesröcke und blanke Knöpfe am Mieder, ja sie mühten sich sogar, mit Plattdeutsch unser Ohr zu kitzeln; aber es waren Ballprinzessinnen, just so fest geschnürt wie all die Donna Annen und Elviren neben ihnen und nur noch röther geschminkt. Der Eindruck der ganzen Dichtung auf uns war so unerquicklich wie möglich; dennoch verkennen wir weder die dichterische Begabung des Verfassers noch große Schönheiten im Einzelnen. Nur im Lyrischen ist er entschieden schwach. Die Schilderung hingegen und vor allem eine gelegentlich meisterhafte Behandlung der schwierigsten Formen bilden seine starke Seite. Auf jene Schilderungen legen wir kein wesentliches Gewicht; alle unsere modernen Dichter excelliren nach der Seite hin, und insbesondere die Schilderungen in der „Amaranth“ scheinen unter unmittelbarem Einflusse des Kinkel’schen „Otto der Schütz“ entstanden zu sein. Aber jene Beherrschung der Form zwang uns an mehren Stellen eine unbedingte Bewunderung ab, und wir können uns nicht entsinnen (selbst nicht in Rückert und Platen) schönere, die Situation concreter malende Ottaven gelesen zu haben als jene zu Anfang des zweiten Abschnitts, unter der Ueberschrift „Das Banket“. – Noch einmal: wir halten, allen Versicherungen vom Gegentheile zum Trotz, den Katholicismus durchaus noch für eine im Volke lebendige Kraft und bezweifeln nicht, daß dieselbe über kurz oder lang ihren dichterischen Ausdruck finden wird; aber die „Amaranth“ des Herrn von Redwitz ist dieser Ausdruck nicht. Wäre er’s dennoch, so würden wir freilich in unserm guten Glauben irre werden müssen und uns gezwungen sehen, von der tauben Blüte einen Rückschluß auf die Hohlheit und Fäulniß des ganzen Baumes zu machen.
Christian Friedrich Scherenberg.
Was halten Sie von Scherenberg? fragten wir neulich einen unserer Bekannten und erhielten ohne viel Zögern zur Antwort: „Scherenberg’s Poesie ist das Freiligrath’sche Wüstenroß, bis zum preußischen Cavaleriegaul heruntergekommen.“ Dieser Scherz hat bei flüchtiger Betrachtung etwas Blendendes, aber, sobald man näher darauf eingeht, erweist er sich als baare Ungerechtigkeit. Zwischen beiden Dichtern herrscht eine gewisse Verwandtschaft, jene Verwandtschaft, die man so oft bei Talenten findet, die unter ähnlichen Verhältnissen ihren Entwickelungsgang gemacht haben. Beide haben, unter erquickender Ursprünglichkeit, ein Kraftmaß, das sich von Zeit zu Zeit in Ueberkraft verliert, und wissen nicht immer die feine Gränze zwischen Originalität und Ungeschmack scharf innezuhalten. Es passirt ihnen zuweilen der schlimmste aller Fehltritte – der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen. Sie haben auch eine entschiedene Vorliebe für den bildlichen Ausdruck miteinander gemein; während indeß bei Freiligrath das Bild in hundert Fällen nichts Anderes ist als der Ersatzmann für den fehlenden Gedanken, verwendet es Scherenberg nur, um seinen Gedanken (deren er eher zu viel als zu wenig hat) den sprechendsten, anschaulichsten Ausdruck zu geben. Daß ihm das oft nicht glückt, nimmt dieser Behauptung nichts von ihrer Wahrheit. Freiligrath auf der andern Seite ist ein Meister über die Form, während wir hier bei Scherenberg die Achillesferse des Dichters haben und gelegentlich auf Dinge stoßen, die wol angethan sind, den ganzen Poeten in Frage zu stellen. Wenn wir unsere Ansicht unumwunden aussprechen sollen, so müssen wir bekennen, daß der Dichter eher der Gedanken als der Form entbehren kann. Sie ist es vor allen Dingen, die das Gedicht von der Prosa unterscheidet; auch die Dichtkunst ist eine Kunst, jede Kunst aber verlangt ihre Technik, und erst durch diese wird sie – sie selbst. Wir meinen damit nicht, daß er schlechte Jamben schreibt und daß er die Nibelungenstrophe in einer Weise ausweitet, daß man sie einmal für einen Alexandriner und in der nächsten Zeile schon für einen Trimeter halten muß, nein, wir wollen über derartige Verstöße nicht mit ihm rechten und nur die Totalität seiner Form ins Auge fassen. Von richtiger, geschweige von schöner Satzbildung hat er keine Ahnung; Cäsuren kennt er nicht; ein Komma am Schluß der Zeile oder doch mindestens ein Punkt am Schluß der Strophe bedünkt ihm überflüssig, und, auf die Mühseligkeit richtiger Reime zu achten, ist ihm vollends unter seiner Würde. Aber die Formlosigkeit geht weiter und afficirt den Kern der Sache. Scherenberg’s ganze Ausdrucksweise, so oft voll poetischer Kraft und Fülle, entbehrt doch fast immer der Schönheit; sein Pathos wird Bombast, sein Humor wird Trivialität, und Alles das nicht weil es sein mußte, nicht weil es dem Dichter, so zu sagen, an ihm selber gebräche, nein, Alles nur weil er nicht weiß, daß in Sachen der Kunst das Maß der Dinge entscheidet, und weil der Himmel, der ihm so Vieles gab, ihm Eines verweigerte: den Geschmack. Wir wissen, daß wir hiermit eine Art Todesurtheil aussprechen, doch thun wir es in der vollen Ueberzeugung, daß wir ein Recht dazu haben und daß Scherenberg seinen Ruhm überleben wird. Seine besten Sachen finden sich unter seinen kleinern Gedichten, die verhältnißmäßig unbekannt geblieben sind. Sein „Abu Abdallah“ trägt nahezu den Stempel der Vollendung. Hieran reihen sich lyrische Gedichte von großer Schönheit („Mein Ostermorgen“, „Der verlorene Sohn“, „Reisephantasien“ u.a.m.); nur sein Humor („Ein Aprilfrost“, „Blücher auf der Gewerbeausstellung“, „Eulenspiegel’s Umgang“ etc.) ist auch in dieser Sammlung ungenießbar. Ueber seine berühmt gewordenen epischen Dichtungen („Ligny“, „Waterloo“, „Leuthen“) sei uns gestattet, in Bewunderung wie Verwerfung das Urtheil eines Freundes zu citiren, mit dem wir nach beiden Seiten hin einverstanden sind: Wir finden hier in der That ein neues Epos, welches das historische zu nennen ist, angebahnt, wir finden hier – ähnlich wie in den bewundernswürdigen Gemälden von Horace Vernet, welche den Krieg der Franzosen in Afrika feiern und ihrerseits für die bildende Kunst das neue Fach einer echt historischen Malerei in entschiedener Selbstberechtigung hingestellt haben – das große geschichtliche Ereigniß in seiner vollen Breite aufgerollt und doch dichterisch gefaßt, doch dichterisch gestaltet, wie dies in den Werken älterer Dichter gar nicht oder etwa nur episodisch vorgekommen ist. Es ist in der That nicht, wie die Gegner sagen, versificirte und bebilderte Historie, was uns hier geboten wird: es ist poetische Historie – Historie, die uns der Dichtergeist verkündigt. Der Begriff des alten Epos paßt nicht mehr darauf; die Aesthetiker haben sich, mögen sie wollen oder nicht, zu neuen Principien zu bequemen. Aber, dennoch, diese Dichtungen, so hervorragend an poetischer Kraft, sind weitab davon, Meisterwerke zu sein; der Dichter hat durch die Behandlung seines Werkes alle Vorzüge desselben wiederum zu nichte gemacht. Wir haben keinen sonderlichen Hang zu ästhetischer Pruderie; wir wissen jenen großen Humor, der sich aus einer freien Betrachtung der Weltgeschichte ergibt, mit vollster Seele zu würdigen; wir erkennen selbst das Recht des soldatischen Humors bereitwillig an; aber darum wird Das, was schwarz ist, nimmer weiß, daß Häßliche und Widerwärtige nimmer schön. Die Gedanken (oft frappant und bedeutend in ihrer Intention) werden hingeworfen, wie sie ihm kommen, und es kümmert ihn nicht, ob sie der Leser nach langem Kopfzerbrechen versteht oder nicht versteht. Diese Dichtungen gleichen einer zerstörten Stadt: kostbare Säulen, Statuen, Capitäler und Tempelfriese liegen bunt durcheinander; das fix und fertige Material zu Pracht und Herrlichkeit ist da, nur die Ordnung ist gestört und ihr Fehlen hat eine Welt voll Schönheit zu einem bloßen Chaos gemacht. Dieser Mangel tritt in seinem ersten Epos: „Ligny“, am wenigsten hervor, in seiner letzten Dichtung: „Leuthen“, am meisten. Wir geben deshalb jener den unbedingten Vorzug. Etwas hat sich Scherenberg unzweifelhaft errungen: einen Platz in der Literaturgeschichte; im Munde künftiger Geschlechter aber wird er nicht leben, denn er mag Alles sein, nur Eines ist er sicherlich nicht – populär. Es ist eher denkbar, daß das Volk Platen’sche Oden auswendig lernt, als eine beliebige Seite aus „Waterloo“ oder gar das bombastische Bild, worin uns der Dichter des Preußenthums die große Action von Leuthen gibt.
Otto Roquette
Wer das Glück gehabt hat, den kleinen anspruchslosen Dichter von „Waldmeisters Brautfahrt“ jemals am Klavier sitzen und mit dem Vortrag seiner von ihm selbst componirten Lieder lustig beschäftigt zu sehen, der vergißt die freundlichen Eindrücke so leicht nicht wieder und hat wenig Neigung, mit dem Sänger um seinen Ruhm zu rechten, zu dem er freilich gekommen ist – er weiß nicht wie. Er könnte mit vollstem Rechte wie Lord Byron von sich sagen: „Eines Morgens wacht‘ ich auf und fand mich berühmt in meinem Bette.“ Schon in der Einleitung zu diesen Einzelbesprechungen haben wir das Wunder des Otto Roquette’schen Ruhmes auf einfache und naheliegende Weise zu klären gesucht, und, indem wir das Factum nochmals constatiren, gehen wir zunächst zu einer Aufzählung seiner Arbeiten über. Er schrieb – außer „Waldmeisters Brautfahrt“ – ein „Liederbuch“ und den „Tag von St.-Jakob“; alle drei bei Cotta erschienen. Unsere Ansicht über den Dichter ist folgende: ein entschieden lyrisches Talent, das am Volksliede mit Erfolg seine Studien gemacht und ihm den Naturlaut gelegentlich auf überraschende Weise abgelauscht hat. Seine Liedchen sind oft unbedeutend, aber immer frisch und liebenswürdig, und, summt man sich gar die passende Melodie dazu, so hat’s mit aller Kritik ein Ende, und trällernd und tanzend und über das ganze Gesicht lachend schwört man darauf, <daß> es kein reizenderes Lied gebe als:
Das beste Bier im ganzen Nest
Das schenkt Margret am Thore.
oder gar:
Ach Gott, das druckt das Herz mir ab,
Daß ich mein Schatz Valet geb’n hab,
Wo ich auch geh, wo ich auch steh,
Das druckt das Herz mir ab! Diese Sachen lesen, ist im höchsten Grade mislich, sie singen oder singen hören, ist eine wahre Herzstärkung. Daher die völlig voneinander abweichenden Urtheile. Aesthetiker, die eine lange Kunstelle, aber keinen Ton in der Kehle mitbringen, schlagen die Hände zusammen über „solche Dudeleien“, die den Namen „Gedichte“ usurpiren, während die ganze Studentenwelt, vom Neckar bis an die Eider und vom Rheine bis an den Pregel, nichts Prächtigeres kennt, als ihren Otto Roquette, und den „kleinen Waldmeister“ (wie sie ihn nennen) zu ihrem Poeten par excellence ernannt hat. Beide haben Recht, aber die Letztern doch mehr, denn diese Liederchen wollen mit ihrem eigenen Maßstab gemessen sein, und die Anspruchslosigkeit des Dichters verbietet geradezu, nach mehr zu fragen, als eben da ist. Ein besonderes Verdienst Roquette’s ist noch sein Humor; dieser gibt der überall vorhandenen Frische von Zeit zu Zeit einen erhöhten Reiz und beschenkt unsere thränenreiche Literatur mit ein paar lachenden Gesichtern, woran wir so trostlos Mangel leiden und wofür wir uns nicht dankbar genug erweisen können. So weit unser Lob. Auf andern Gebieten sind uns die Kräfte Roquette’s nicht ausreichend erschienen, und selbst in die Bewunderung seines gepriesenen „Waldmeisters“ können wir nur sehr bedingungsweise einstimmen. Die Idee ist niedlich, vielleicht auch originell; aber die Ausführung krankt nach unserer Meinung an einer kaum zu überwindenden Breite, und neben reizenden Einzelnheiten läuft im Großen und Ganzen ein bedeutendes Theil Langeweile einher. – Für die Ballade hat er wenig Talent (auch hier glückt ihm das Humoristische am besten), und sein „Tag von St.-Jakob“ ist ein entschiedener Irrthum. Jenem mächtigen Freiheitsgefühl, das bei St.-Jakob wie in dreißig Schlachten zuvor die Schweizer zum Siege führte, vermochte er nur einen schwachen Ausdruck zu geben, und die hineinverwebte Liebesgeschichte wurde, weil sie die Alltäglichkeit vermeiden wollte, zu einem unlösbaren psychologischen Räthsel. Nach einem alten Gesetz soll sich das Epos an keine Verzwicktheiten machen; Alles muß plan und einfach sein, und statt des Spannenden in Situation und Charakteren ist es lediglich der poetischen Darstellung vorbehalten, dem Ganzen Reiz und Zauber zu leihen
Wir wenden uns jetzt einer zweiten Gruppe zu, einer Trias, und besprechen in möglichster Kürze: Wilhelm von Merckel, Bernhard von Lepel und Paul Heyse.
Wilhelm von Merckel.
Merckel ist eine echte Poetenseele; er ist ein Schlesier, das sagt Alles. Alle Poeten von dort sind dichterische Naturen und liebenswürdige Menschen, aber der große Dichter soll noch kommen. Man muß ihnen gut sein; man steht vor ihren Sachen wie vor Landschaften und Genrebildern, Alles heimelt Einen an, aber der Historienmaler, der uns im Innersten faßt, wie ein Gallait, wenn er uns die abgeschlagenen Häupter Horn’s und Egmont’s vor das Auge führt – ein solcher Maler fehlt noch unter ihnen. Auch Wilhelm von Merckel (mit Ausnahme einzelner Parteigedichte, die ihn bekannt machten und doch nur angethan sind, uns ein falsches, selbst verzerrtes Bild von dem Manne zu geben) ist Einer aus dieser Gemüthlichkeitsschule und erreicht da sein Höchstes, wo er sich an das Kleinste macht und nach Weise eines echten Humoristen aus einem halben Nichts seinen Faden spinnt. Was von ihm in allerhand Sammlungen übergegangen, ist wenig geeignet, ihn in seinem eigensten Wesen, am wenigsten in seiner Bedeutsamkeit erkennen zu lassen. Das Beste, was wir von ihm kennen, ist eine humoristische Erzählung in spanischen Trochäen, unter dem Titel: „Ein Urlaub“. Es erschien kurz vor dem Ausbruch der Februarrevolution und wurde mit Größerm begraben. Die Welt liebte es damals, über alles Mögliche zur Tagesordnung überzugehen, natürlich auch über harmlose Gedichte. Wen in diesen Tagen – und deren dürften Viele sein – das innige Verlangen nach einem frischen, erquickenden Trunk beschleicht, dem empfehlen wir jene muntern Trochäen mit vollster Ueberzeugung. Zu dem Humor, der die neuerdings erschienenen „<Difteldinger>“, so vortheilhaft auszeichnet, gesellt sich bei jener Erzählung noch die dichterische Weihe, und es war uns beim Lesen derselben immer, als athmeten wir den würzigen Duft des Heu’s und jener schlesischen Felder ein, die uns darin mit soviel Wahrheit und Liebenswürdigkeit beschrieben werden.
Bernhard von Lepel.
Man hat ihn den kleinen Platen genannt. Mit Recht und Unrecht. Bevor er seine Entwickelung hinter sich hatte, mochte diese spöttische Bezeichnung für ihn passen; jetzt steht er auf eigenen Füßen. Das StudiumPlaten’s (eine Platen’sche Schule würden wir für ein Unglück und für den Tod unserer jungen Poesie halten) wäre jedem jungen Dichter anzurathen; es würde zum Ernste stimmen und uns vor jenem Darauflosdichten bewahren, das den Büchermarkt mit unreifen Productionen überschwemmt und das verselesende Publicum immer stutziger und kleiner macht. Lepel emancipirte sich völlig von seinem Vorbild, als er die „Zauberin Kirke“ schrieb. Platen hatte nichts von jenem derben und natürwüchsigen Humor, der Lepel’s hervorstechendste Seite bildet. Das reizende kleine Epos, das sich mit Scherz und Witz zwischen die beiden politischen Extreme stellt und doch zu gleicher Zeit wieder „das himmlische Reich der Mitte“ (hier keineswegs „China“) voll Selbstironie bespöttelt, ist wenig bekannt geworden, gleich allen den modernen Erscheinungen, die es verschmäht haben, dem Parteiinteresse zu dienen und von ihm sich in die Welt tragen zu lassen. Doch wer nähme Anstand daran? Jeder Buchhändler sagt Einem: das Beste wird nicht gekauft. Lepel hat sich neuerdings der Ballade und dem Drama zugewandt. Glückliche Wahl des Stoffs, knappe Darstellung, Klarheit und Schönheit des Stils, dabei – wie sich von selbst versteht – makellose Behandlung von Form und Reim, haben uns mit einem Cyclus von Balladen beschenkt, die wir mit gutem Gewissen dem Besten an die Seite setzen können, was unsere Literatur auf diesem Gebiete aufzuweisen hat. Seine dramatischen Versuche waren bisher nicht glücklich. Wir hören von einem neuen vaterländischen Drama, dem wir so entschiedene Erfolge auf der Bühne wünschen, als wir von der poetischen Ausführung der einzelnen Theile uns im voraus überzeugt halten.
Paul Heyse.
Wenn Spötter für Lepel den Beinamen „der kleine Platen“ erfanden, so waren Neider und sogenannte gute <Freunde> desgleichen bemüht, Paul Heyse als einen forcirten jungen Goethe in Miscredit zu bringen. Es hat indeß mit diesem Anlauf zur Ironie wenig auf sich, und wir wagen in der That die Behauptung: wenn unter allen jungen Poeten Einer ist, den die Götter zu etwas Höchstem und Größtem bestimmten, so ist er’s. Er könnte leicht berufen sein, Alles Das, was in diesem Augenblick in Deutschland dichterischen Klang und Namen hat, in den Schatten zu stellen. Alle seine Arbeiten, auch die verfehltesten, tragen den Stempel außergewöhnlicher Begabung, viele unter ihnen den des Genies. Erst 22 Jahre alt, kann bei ihm von einem Abschluß keine Rede sein. Alles, was wir von ihm haben, sind nur Vorläufer, nur Studien, aber sie reichen aus, uns einen „ganzen Mann“ dermaleinst erwarten zu lassen. Er trat mit einem Märchen, „Der Jungbrunnen“, zuerst vors Publicum, einer frischen und zierlichen Arbeit, die indeß, mit Ausnahme einiger Liedchen, die den Volkston überaus glücklich trafen, nichts von Bedeutung aufwies. Ein Drama, „Francesca von Rimini“, folgte. Die Kritik fiel unisono darüber her: man nannte es die Ausgeburt einer unreinen Phantasie, die unreife und doch schon faul gewordene Frucht eines Knabengeistes u. dgl. m. Wir bekennen, daß wir über die sittliche Entrüstung der Leute recht herzlich gelacht haben. Wir machen kein Hehl daraus, daß wir den Verfasser dieser unglücklichen, in den kritischen Bann gethanen „Francesca“ persönlich kennen, und dürfen auf Wort versichern, <daß> sein Herz keuscher ist als das vieler seiner Ankläger. Nach Jahren erst, wenn Paul Heyse Der geworden sein wird, der er nothwendig werden muß, wird man im Stande sein, jene, freilich jugendliche und an hundert Fehlern krankende Arbeit in ihren genialen Zügen und Eigenschaften zu würdigen. Es sind oft die Fehler, die es uns möglich machen, einen Charakter wie ein Talent in allen seinen Vorzügen zu würdigen.
Der „Francesca von Rimini“ folgte ein kleines Epos, „Urica“, merkwürdig durch seine kecke Behandlung der überaus schwierigen Form (einer Nachbildung der Spencer-Strophe), in der es geschrieben ist. Was den Inhalt angeht, so waren wir niemals damit einverstanden. Es stellt sich zur Aufgabe, das Egalitätsprincip in seiner ganzen Nichtigkeit darzustellen. Wir haben nichts gegen diese Intention, der wir gegentheils die vollste Berechtigung zuerkennen, aber der Dichter hat alles Mögliche bewiesen, nur eben Das nicht, was er beweisen will. Wir müssen diese Arbeit verfehlt nennen. Erst Paul Heyse’s neueste Dichtung zeigt ihn ganz als ihn selbst. „Die Brüder, eine chinesische Geschichte“ ist das schönste Gedicht, was, unserm Dafürhalten nach, die neuere deutsche Literatur hervorgebracht hat. Es ist rein, reif, einfach, markig und schließt sich jenen makellosen Dichtungen an (die es an poetischer Unmittelbarkeit und, als Folge davon, an Eindruck auf das Menschenherz übertrifft), womit die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts unsere bis dahin magere Literatur beschenkten. Der junge Dichter weilt seit fast einem Jahre auf italienischem Boden; Rom und der blaue Himmel von Neapel werden an ihm nicht ohne Einfluß vorübergegangen sein, und wir erwarten ihn als Den zurück, den wir gewohnt sind seit Jahren in ihm zu erblicken.
Im Vorübergehen den Namen Adolf von Schack’s nennend, der, neben einer meisterhaften Uebersetzung des Firdusi, auch durch selbständige, namentlich ihrer Form und ihrem Wohlklang nach gelungene Productionen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken wußte, wenden wir uns jetzt nach Norden hin, aufs Weser- und Eidergebiet, und haben für Bodenstedt (in Bremen) und Theodor Storm(in Husum) einige kurze, aber anerkennende Worte.
In Bodenstedt haben wir eine doppelte Richtung zu unterscheiden. Mit einem Fuße steht er auf der Domäne Freiligrath’s (des vormärzlichen), mit der andern auf der Schwelle seines Gastfreunds Mirza Schaffy. Selbst sein persönlicher Aufenthalt am Kaukasus und die andauernde, unmittelbare Einwirkung jener Spruch- und Weisheitspoesie, die wir zuerst aus den „Liedern des Hafiz“ und den „Makamen des Hariri“ kennen lernten, ist nicht im Stande gewesen, die Gedoppeltheit seines Wesens aufzuheben, und, während er uns die Lieder des Mirza Schaffy als eine Frucht seiner Reise mit heimbrachte, bot er uns zu gleicher Zeit Bilder, mit Augen geschaut, und frisches, aus dem Volke selbst genommenes Leben. Er philosophirt, unter Anleitung seines Meisters, über Liebe und Wein, Leben und Schönheit, aber nur um sich hinterher mit um so größerm Behagen an die Schilderung einer Kaukasuslandschaft oder gar des kriegerischen Treibens seiner Bergvölker, den alten Schamyl an der Spitze, zu machen. Wir verkennen nicht, daß Bodestedt der, von uns nicht allzu hoch verehrten Spruchpoesie eine Seite abzugewinnen im Stande war, die wir bis dahin kaum für möglich gehalten hatten. Er verstand es, die Sachen, unbeschadet ihrer Tiefe und Feinheit, interessant und selbst populär wiederzugeben. Wir haben Personen sich an den Liedern des Mirza Schaffy erquicken sehen, die bei Platen’schen Ghaselen und Rückert’schen Makamen es nicht über die dritte Seite hinausgebracht hätten. Ein glücklicher Instinct ließ ihn die Klippe des Zopfigen (Platen) und Difftligen (Rückert) in gleichem Maße vermeiden. Man könnte sagen, es gehe verhältnißmäßig ein Naturtalent durch diese Sachen. Nichtsdestoweniger ist uns diese Weisheitsseite an Bodenstedt die minder werthe. Wenn er die feurigsten Sachen Lermontow’s (den er so schön übersetzt hat) auf sich wirken läßt, wenn er den weißbärtigen Schamyl und den Kasbek und seinen wilden Sohn, den Terek, uns vor die Seele führt, dann lieben wir ihn ganz und können im Innersten ein leises Bedauern darüber nicht unterdrücken, daß er, seine Kraft zersplitternd, uns lieber fast die Gespinnste eines feinen Kopfes, als eine Reihe lebensvoller Gestalten gibt, und mehr Gewicht auf den Ruf eines morgenländischen Philosophen als auf den Ruhm eines heimathlichen Dichters zu legen scheint. Seine neueste Dichtung, „Ada die Lesghierin“, lenkt ein auf eine Bahn, wie wir sie ausschließlich von ihm betreten wünschten; aber das Mirza-Schaffy-Wesen haftet ihm gelegentlich auch hier noch an und stört die Reinheit des epischen Styls, die nach einer Epoche von Flitterüberladung wieder anfängt in ihr Recht zu treten.
Theodor Storm.
An ihm ist jeder Zoll ein Dichter. Kein großer, aber ein liebenswürdiger, wir möchten sagen ein recht poetischer Dichter. Er wandelt keine absolut neuen Wege, aber die alten, die er einschlägt, sind die echten und wahren. Das Kleinste, was er schreibt, liegt immer vor Einem wie eine Morgenlandschaft: Thautropfen hängen an den Gräsern, nur das Geläute einer Heerde oder schmetternde Lerchen unterbrechen die Sabbathstille, durch den Nebelschleier, der über der Erde liegt, bricht strahlend die Sonne; Duft und Frische und der Zauber einer unentweihten Natur ringsum! Neben dem Volksliede, das er mit Eifer studirt hat, sind Heine und Mörike seine Vorbilder. Mit Letzterm zeigt er eine entschiedene Verwandtschaft; sein Humor ist ganz der des Verfassers der „Storchenbotschaft“. Von Heine entlehnte er eine gewisse Vorliebe für Secirung erotischer Stimmungen und Situationen, ohne deshalb in Nachahmung jener Manier zu verfallen, die nur an Heine selbst zu ertragen ist und jeden Nachfolger ruinirt. Storm’s reizendste Sachen zeichnen sich durch Kürze aus; wir sind deshalb in der Lage, einige derselben zu seiner Charakteristik folgen lassen zu können.
Frauenhand
Ich weiß es wol, kein klagend Wort
Wird über deine Lippen gehen;
Doch, was so sanft dein Mund verschweigt,
Muß deine blasse Hand gestehen.
Die Hand, an der mein Auge hängt,
Zeigt jenen feinen Zug der Schmerzen,
Und daß in schlummerloser Nacht
Sie lag auf einem kranken Herzen.
Meine Mutter hat’s gewollt,
Den Andern ich nehmen sollt‘;
Was ich zuvor besessen,
Mein Herz sollt‘ es vergessen;
Das hat es nicht gewollt.
Meine Mutter klag‘ ich an,
Sie hat nicht wohlgethan;
Was sonst in Ehren stünde,
Nun ist es worden Sünde;
Was fang‘ ich an?
Für all mein Stolz und Freud‘
Gewonnen hab‘ ich Leid.
Ach, wär‘ das nicht geschehen,
Ach, könnt‘ ich betteln gehen
Ueber die braune Haid!
Bevor wir zum Schlusse schreiten, sei uns noch gestattet, auf die auffallende Erscheinung hinzuweisen, daß die Localpoesie, die sich mit Innigkeit dem Allernächsten zuwendet und deshalb den Dialekt der Heimat als Mittel zum Ausdruck wählt, in einem steten und überraschenden Wachsen begriffen ist. Viele bedauern das und sehen darin nichts als jenes Pfahlbürgerthum, das nicht über die Stadtmauer hinwegguckt, und jenen Hang zum Besonderlichen und Isolirten, der allerdings von jeher der Fluch der deutschen Stämme gewesen ist. Unsere Meinung darüber ist nichtsdestoweniger genau die entgegengesetzte. Der Reichthum, der unserer Sprache wie unserm Leben daraus fließt, ist noch unberechenbar. Wer sein Haus recht liebt, der liebt auch sein Land, und wer für jenes fechten will, der stirbt auch für dieses. Was uns so vielfach fehlt, das ist die Pietät; diese aber wird gepflegt durch ein geistigesVerwachsen mit der Scholle. Der Wandertrieb und die Bewunderung alles Fernen und Fremden ist nicht das bessere Theil in uns. Die Liebe zu dem Fleck, der uns geboren, schließt hundert Kräfte in sich, und der mit Recht geschmähte „Particularismus“ ist nur die wurmstichige Frucht eines an und für sich gesunden Baumes. Die plattdeutsche Sprache hat in allerneuester Zeit Dichtungen voll wunderbarer Schönheit hervorgebracht. Der Verfasser des „Quickborn“ (Claus Groth auf der Insel Fehmarn) hat einmal wieder an den Quellen [377] der Poesie gesessen. Da liegt’s! So viele unserer Dichter dichten nach dem Buche, statt nach dem Leben.
Und nun wenige Worte zum Schluß! Wir hatten anfänglich die Absicht, auch unsere neueste Roman- und Bühnenliteratur mit in diese Besprechung zu ziehen, doch wuchs uns der Stoff unter den Händen, und wir mußten davon abstehen. Vielleicht, daß wir Gelegenheit finden, in einem besondern Aufsatze darauf zurückzukommen. Was die Zahl und Auswahl der von uns einzeln besprochenen Dichter angeht, so erlauben wir uns, den Leser nochmals darauf aufmerksam zu machen, daß es sich nur um Hervorhebung der Poeten seit 1848 handelte. Die Namen aller Derer, die schon vorher zu irgend welcher Bedeutung gelangt, waren ausgeschlossen von dieser Revue. Aber ein zweiter Umstand könnte auffallen: die Ausschließlichkeit des Nordens in dem vorstehenden Verzeichniß. Die Schuld ist nicht unsere. Man nenne uns irgend einen Dichter von Bedeutung, den Oestreich oder das einst so liederreiche Schwabenland seit einem Jahrzehnd hervorgebracht hat! „Die Welt ist rund und muß sich dreh’n.“ Die Musen und Grazien in der Mark sind kein Stoff mehr für die Satire, und das oft verspottete Flachland zwischen Oder und Elbe kommt auch einmal zu seinem Recht.
***
Erstdruck in: Deutsche Annalen zur Kenntniß der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit. Bd. 1, 1853, S. 353-377.
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