BILD 3. Niemandsland Atlas

 

Vor den Augen: die ausgebreitete, nicht beschriftete Karte der Welt. Keine scheckig bunte politische Aufteilung, keine farbigen Reliefunterschiede. Keine Grenzen, keine Namen. Größere und kleinere weiße Flecken. Sie berühren sich, laufen ineinander und wieder auseinander. Die Konturen erinnern an die filigrane Arbeit eines exzentrischen Goldschmieds. An das Ergebnis einer scheinbar zweckfreien Zusammensetzung. Kein Zwang, kein Anhaltspunkt ersichtlich. Allein das Gesamte steht einem zur Verfügung. Der Kameramann führt seine Kamera unsicher über die Karte, gleitet von unten nach oben, bis die Mitte ins Sucherfeld kommt. Es gibt keine Regieanweisungen. Die Wahl ist offen. Er zoomt beliebig auf eine Stelle, die den Umriss einer Inkrustation aufweist. Er stellt die Schärfe ein. Die Form erinnert an eine waagerecht liegende Niere. Hier oder anderswo?

Egal. Ein Ort so gut wie der andere.

Die Würfel sind geworfen. Ein Wink des Zufalls öffnet die Tür. Nicht mehr als eine Spalte.

„Un coup de dés n’abolira jamais le hasard“

Nahaufnahme. Es ist ein Innenmeer. Es ist das Schwarze Meer.

An seiner Westküste gibt es mehrere mittelgroße Häfen und unzählige kleine Dörfer. In einem der Dörfer gibt es genau fünf Hütten. In einer der fünf Hütten gibt es genau fünf Menschen. Von den fünf Menschen sind vier Frauen.

Von den vier Frauen sind zwei schwanger. Von den zwei Schwan-geren ist eine die Enkelin, Tochter und Mutter der anderen drei. Von den zwei Fötussen, die sie im Leib trägt, weiß sie nicht, wer der Vater ist. Es ist nicht der Mann, der in der Hütte wohnt. Der ist ihr Vater. Er ist der Großvater ihrer Tochter, der Mann ihrer Mutter und der Schwiegersohn ihrer Großmutter. Von ihm ist die andere Frau schwanger, die Mutter.

So etwas kommt oft vor in einer der fünf Hütten dieses Dorfes.

Die schwangere Tochter der schwangeren Mutter kennt den  Vater ihrer Kinder kaum. Den Vater ihrer ersten Tochter hat sie an einem einzigen Abend gesehen, als er betrunken war und sie überfallen hat. Er lebt nicht in dieser Hütte. Er lebt nicht in diesem Dorf. Er lebt überhaupt nicht mehr. Er ist am nächsten Tag mit seinem Fischerboot gesunken und ertrunken.

Beim nächsten Mal, als sie überfallen wurde, waren es mehrere. Fremde in ihrem Dorf. Sie kamen abends mit ihren Fischerbooten ans Land. In der Früh fuhren sie wieder hinaus aufs Meer.

Sie weiß nicht, ob sie am nächsten Tag gesunken oder ertrunken sind. Sie weiß nur, sie sind nie wieder aufgetaucht. Sie weiß nicht, welcher von ihnen der Vater der zwei Wesen ist, die in ihrem Bauch schwimmen. Sie weiß nur, es sind fünf gewesen, die ihr in den Bauch gestoßen haben. In den Bauch und ins Gesicht. Mit geballten Fäusten ihr das Gesicht gerammt. Mit geballten Klötzen in ihren Bauch gerammelt. Ihren schmierigen Kehricht in sie hinein gespieen und ihr Unreines in sie hinein geschleimt.

Alle fünf der Reihe nach, jeder einzelne, während die anderen vier sie an allen Vieren fest hielten.

Sie erbrachen in sie und sie erbrach in den Sand.

Es ist einer von den fünf gewesen, der mit einem Wurf zwei Brocken von sich weg warf und in ihren Bauch hinein schleuderte. Zwei Brocken, die ständig anschwellen und zu Leibern werden. Hungrige Leiber. Sie weiß, es sind zwei, die sie werfen wird, weil gestern zwei Köpfe die Haut ihres Bauches gedehnt haben.

Sie weiß es seit gestern.

– „Noch zwei Mäuler zu stopfen. Hure“, knurrt der Vater. Heute ist er nicht betrunken. Heute ist er wütend. Seine Fischernetze waren am Abend leer. Ein Grund, sich zu betrinken. Nun hat er keine Lust, sich zu betrinken. Oder doch. Er sitzt am hölzernen Tisch, hält die Flasche vor sich und den leeren Becher aus Ton.

 – „Hure“, knurrt er.

Durch die offene Tür kommt das goldene Licht der untergehenden Sonne. Es kriecht auf den Boden bis zu den nackten Sohlen des Mannes. Sie sind mit Schlamm verkrustet. Und mit Seetang.

– „Dreckige Hure“, rülpst er.

– „Halt’s Maul, Schwein“, sagt seine schwangere Frau.

Sie steht im Dunkel drei Schritte von ihm entfernt. Der Vater schwingt den Arm und wirft den Becher nach der schwangeren Mutter. Der trifft ihren Kopf. Sie schwankt und plumpst auf die Erde, neben den zerbrochenen Becher.

– „Prügeln, das ist alles, was du kannst!“ sagt sie leise.

Die jüngste, nicht schwangere Tochter, Enkelin und Urenkelin in dieser Hütte, ist fünf Jahre alt. Sie hilft ihrer schwangeren Oma, sich vom Boden wieder aufzurichten und die Scherben aufzulesen. Ihre schwangere Mama sieht ihnen beiden zu, ohne zu blinzeln. Sie streichelt ihren Bauch. Sie geht aus der Hütte hinaus und hinunter zum Meer.

Das Meer ist ein dunkles, murrendes Tier.

Es spreizt seine Arme und schäumt vor sich hin. Es hat Hunger. Es ist gelangweilt. Es wartet auf Nahrung. Es ist ein Tier, das Nahrung erwartet, weil es Tiere ernährt. Es ernährt Tiere, die es in seinem Inneren trägt, und Tiere, die außerhalb seiner selbst andere in ihrem Inneren tragen.

Die schwangere Frau taucht ihre Zehen ins Wasser. Lauwarm. Die Sonne sinkt hinter ihr in die kahlen Sandmulden. Vor ihr sinkt das Meer in sich selbst. Hinter dem Meer her eilt der Himmel. Er stürzt, sackt ab und drückt sein Lid zu. Die Horizontlinie verschwindet. Sie haben sich vereint. Himmel und Meer bilden in der Finsternis ein einziges Tier. Ein blindes Tier mit einem einzigen riesigen Maul, das weit offen steht und vereinzelte Nahrung verschlingt. In seiner Höhlung steht die schwangere Frau. In der Höhlung ihres Bauches schwimmen zwei blinde Wesen, die ständig Nahrung aufsaugen.

In der Hütte sackt der Mann ab. Sein Kopf liegt auf dem Tisch. In dessen Höhlung schwimmt nichts außer der Finsternis selbst.

Die schwangere Mutter der schwangeren Frau sitzt auf einem Schemel und hält den Kopf der Enkelin in der Höhlung ihrer Brust. Ihre Brüste liegen geschwollen etwas tiefer, links und rechts der Schwellung ihres gierigen Bauches.

Die Großmutter verbirgt keine gierige Höhlung mehr in ihrem Körper und keine Schwellung. Ihr Körper ist seit Jahren von Gier befreit und hohl. Die Wesen, die ihn geschwollen haben, sind nach und nach weggezogen, verschwunden oder ertrunken.

Das kommt in den fünf Hütten dieses Dorfes oft vor.

Deshalb sind es auch nur fünf geblieben.  

– „Sieh nach, wo sich deine Tochter herumtreibt“, krächzt die Großmutter.

– „Ich tu das, ich sehe nach!“ ruft ihre Urenkelin.

Die fünfjährige Urenkelin, Enkelin und Tochter der anderen drei Frauen reißt sich aus den Armen der Großmutter weg und läuft aus der Hütte hinaus und weiter hinunter zum Meer.

Ihre Mutter steht bis zu den Knien im Wasser. Um ihre Waden kräuseln sich die Zungen der Wellen. Sie sondern ihre Spucke ab, den Schaum. Das Maul leckt die vermeintliche Nahrung.

Ob es sie verspeisen darf?

– „Mama, komm rein, wir wollen essen“, ruft die Tochter vom Strand aus.

– „Was essen?“ ruft die Mutter zurück.

– „Wie immer. Geräucherten Fisch.“

– „Geh du nur, ich komme später.“

Die Tochter geht nicht. Sie bleibt eine Weile stehen und kommt dann näher. Sie paddelt durch die Brandung. Sie nimmt die Hand der Mutter. Das Wasser reicht ihr bis zur Hüfte. Es ist dunkel und die Sterne funkeln weit weg.

– „Das Wasser ist kälter geworden“, sagt die Tochter.

– „Ja, es ist fast Herbst“, sagt die Mutter.

– „Und wann kommen die aus deinem Bauch?“

– „Im Winter. Und jetzt geh, du wirst dich erkälten.“

– „Ich gehe nicht. Komm mit.“

– „Ich komme nicht. Geh.“

Die schwangere Mutter und ihre Tochter regen sich nicht von der Stelle. In der Hütte regt sich die schwangere Großmutter auf.

Das Essen wird kalt. Sie hat vier Schüsseln um einen großen Topf auf den Tisch gestellt. Die Schüsseln sind leer, der Topf ist halbvoll mit Brei und geräuchertem Fisch. Heute reicht das.

Der Mann sitzt aufrecht auf seinem Stuhl, döst mit gesenktem Kopf vor sich hin. Schnarcht. Seine Arbeit ist für heute getan. Seine Frau hört mit dem Arbeiten nie auf. Nur mit dem Trinken hat sie neulich aufgehört. Sie reicht seiner Schwiegermutter eine Schüssel mit ein wenig Maisbrei und drei Stückchen Fisch.

Die Schwiegermutter arbeitet überhaupt nicht mehr, sie frisst nur. Und trinkt. Sie kann nicht zum Tisch kommen, sie bekommt ihr Essen wo sie ist, auf einem Lager von Decken und ausgehöhlten Polstern in der Ecke des Zimmers.

– „Sieh mal nach, wo die geblieben sind“, befiehlt sie ihrer Tochter.

– „Sie werden schon von allein kommen.“

– „Das Essen wird kalt.“

– „Sie werden dann kaltes Essen kriegen.“

– „Hexe!“ .

– „Hexe selbst.“

– „Ich hätte dich ertränken müssen, räudige Katze.“

– „So wie die anderen.“

Die Alte schweigt und isst.

Die jüngere wartet und schweigt.

Der Mann grunzt und wartet auf sein Essen. 

Das nächtliche Raubtier da draußen wartet nicht mehr, es raunt, grunzt und frisst.

BILD 4. Eine Wüstenlandschaft.

Krater erloschener Vulkane. In dem größten der Krater ist eine Hightech-Werkstatt errichtet worden. Von außen sieht der Bau wie ein Kunstobjekt von César aus. Ein gigantischer Kubus, der aus gepressten, gebogenen und geknoteten Riesenröhren besteht. Im Inneren – Piranesi in Weltraumtechnologie. Escher im Trauma. Hundert Werkstöcke, hundert Aufzüge. Jeweils zehn Meter versetzt und auf jedem zehnten Werkstock – eine zehn Meter hohe Wendeltreppe. Zehntausend Quadratmeter pro Werkstock rund um den zentralen Schacht in jeweils tausend Räume und hundert Flure gleichmäßig aufgeteilt. Zehn Ebenen mit Büros und Sitzungssälen, zehn mit Verwaltungsarchiven, zehn mit Wohnungen, Unterrichtsräumen, Einkaufs- und Freizeitzentren, Restaurants und Hospitälern. Die restlichen Etagen mit hundert Quadratmeter großen Labors.

Im zentralen Bereich des Schachtes ragt der zylindrische Glaskäfig „Higgs“, derart benannt nach dem unauffindbaren Teilchen, das die Wissenschaftler vor fast einem Jahrhundert an den Rand des Wahnsinns getrieben hat. Higgs steckt wie ein Pfahl in der Erde und ist das Hauptorgan des Unternehmens. Das Sorgenkind. Das Alpha und Omega. Das Totem. Der Gott. Er besteht aus heiligen Eingeweiden – ein Rohr aus edlem Metall, das in einer Spirale gewunden bis zur Decke steigt, um sich dann wieder nach unten zu richten und in der unterirdischen Anlage zu verschwinden. Diese redupliziert spiegelverkehrt die überirdische Konstruktion und bohrt sich hundert Werkstöcke in die Tiefe hinein. Sie durchdringt einen winzigen Teil der Erdoberschicht.

Elftausend Wissenschaftler arbeiten in den Labors.

Tausendeinhundert Beamte verwalten ihre Arbeit.

Hundertzehn Abteilungsleiter koordinieren sie.

Zehn Direktoren begutachten sie.

Ein Präsident überwacht sie.

Er allein entscheidet über aller Zweckmäßigkeit und Nutzung. Er ist der Kopf und die Seele des Unternehmens. Ihm gehört Higgs und alles, was dieser hervorbringt. Es gibt viele innerhalb und außerhalb dieser Werkstadt, die gern das hätten, was Higgs „spuckt“, aber nur er allein, der Präsident, kann darüber entscheiden, ob sie es bekommen oder nicht.

Und sie kriegen es nicht. Noch nicht.

Er ist Herr der Situation.

Deshalb hat er sein Büro getrennt von den anderen. Getrennt und beweglich. Es hat die Form eines kleinen Kubus von César und verfügt über eine sehr komplexe Förder- und Befestigungsanlage.

 Mal sieht man es an der Decke befestigt, über den gesamten Turmbau schwebend. Mal hockt es still auf riesigen Teleskopbeinen auf der Empore einer beliebigen Etage, um gleich danach zehn Meter hohe Sätze durch die Luft zu machen und von einer Treppe auf der anderen zu landen. Manchmal sieht man es hier oben überhaupt nicht und vermutet, es sei irgendwo im Untergrund unterwegs. Der Präsident in seinem kleinen Kubus kann sich zu jeder beliebigen Zeit an jedem beliebigen Ort innerhalb des großen Kubus aufhalten.

Diese Ubiquität ist sein Privileg. Seine Aufgabe. Sein Schicksal. Von seinem Büro aus beobachtet er über hundert Monitore das Geschehen im Hause. Über die Lautsprecher surrt Higgs ständiges Summen in den Raum hinein. Bei der Gründung hat der Präsident das Höchstgebot des Hauses formuliert: keine anderen Zahlen, ausschließlich die Zahl Null und die Zahl Eins werden gebraucht. Ein Pythagoreer eben, die Einheit 10 verehrend. Rein theoretisch. Praktisch hat er von Mathematik, Geometrie oder Physik keine Ahnung. Das gibt er gelassen zu. Dafür hat er die Wissenschaftler. Nicht, um sie zu treuen Epigonen zu erziehen, nein, das nicht. Er bezahlt für ihre Loyalität. Er ist zwar ein Pythagoreer, aber kein Idealist. Weniger adelig und noch weniger mystisch als Pythagoras ist er sicherlich auch.

Er stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie mit einem ängstlich misstrauischen Verhältnis zu dem Leben nach dem Tod und einer totalen Ignoranz darüber, dass es möglicherweise gleich mehrere davon geben könnte. Seine Eltern beschäftigte viel mehr das Leben auf Erden, jetzt und gleich. Es musste gut sein, ruhig, ohne Erdbeben, ob aus Leid oder Freud’. Und es wurde ihnen in der Kirche versichert, dass, wenn sie sich ruhig verhielten, ihnen nichts Böses widerfahren würde.

Keine Verirrung, keine Konfrontation, keine Erschütterung.

Deshalb gingen sie regelmäßig hin und schlossen ihren Deal mit ihrem Gott ab: nämlich keinen größeren Gewinn zu erwarten, als den eingesetzten Eigenanteil an Wonne und Schmerz. Nicht mehr. Glaubensgebot und Gerechtigkeit der Armseligen – das Mittelmaß. Dumm waren sie. Er, der Präsident, erwartet mehr, fordert mehr, als er bereit ist, zu investieren. Und er bekommt mehr.

Das ist das Geheimnis des Erfolgs eines jeden tüchtigen Geschäftsmannes. Er persönlich hat es weit gebracht.

Die Augen werden ihm feucht, wenn er an seine Eltern denkt.

Er muss es zugeben. Sie hinterlassen ihm eine wertvolle Erbschaft, eine brauchbare Lehre. Insbesondere wenn man, wie er, philosophisch veranlagt ist. Man ist imstande, diese Lehre zu interpretieren. Und zwar richtig. Nämlich dass, wenn man sich schon allein auf das Heute und Morgen konzentrieren soll, dann umso intensiver. In allen Hinsichten, mit allen Mitteln.

Carpe diem.

Nicht verschwenderisch, aber überschwänglich.

Umso mehr, wenn es um eigene Belange geht. Er hat diese Lehre verinnerlicht, um sie zu optimieren. Keinen mittleren Weg, kein Mittelmaß. Verirrung, Konfrontation und Erschütterung sind nicht zu vermeiden, sondern zu sortieren und genießen, sie sind, weil sie von Nutzen sind. Gegen die anderen, selbstverständlich. Wonne und Schmerz gehören zum Leben. Seine Wonne und der Schmerz anderer, klar. Vielleicht ist er doch eher ein Zyniker mit hedonistischem Hang. Keine Spur der pythagoreischen Askese in seinem Leben, noch weniger der metaphysischen Art. Jetzt, zum Beispiel, sitzt er an seinem Schreibtisch und sündigt: er hegt hegemonische Gedanken. Und obendrauf trinkt er ein Glas Whiskey und raucht eine sündhaft teure Zigarre.

Nun, die Zeiten haben sich geändert. Das Verhältnis zu der göttlichen Zahl genauso. Auch das Ethos der Verehrung. Es ist nun eine kühl und zweckmäßig entwickelte Verhandlungsstrategie. Es macht Spaß, sie auszuführen. Ein Schachspiel. Nein, ein Pokerspiel. Er ist ein guter Spieler. Er wird auch diesmal gewinnen. Ohne zu bluffen. Mit Higgs Hilfe.

Higgs ist das As in seinem Ärmel. Er allein wird die Bedingungen des Deals bestimmen. Und alle werden sich danach richten müssen. Alle, ohne Ausnahme. Oben wie unten. Amen.

Ja. Der Präsident sitzt an seinem Schreibtisch, trinkt Whiskey, raucht seine Zigarre und ist zufrieden. Er guckt nicht einmal mehr auf die Monitore. Er kritzelt auf einem Stück Packpapier und denkt an Higgs, sein Baby. Der steckt unverfroren im steinigen Fleisch der Erde. Ist da eingeklemmt und schnaubt.

Diese Wüste und der Krater, das war wirklich das Beste, was er für Higgs finden konnte. Abgelegen, dürr, hart. Unnachgiebig. Das beste für sein Baby. Die geeignete Testlage für seine Kräfte. „Spucken“ ist nur so eine Redensart hier im Hause. Higgs spuckt nicht, er sprießt. Die ersten Keime sind schon da, die ersten Knospen. Sicherlich Sprösse einer noch nie da gewesenen Art. Higgs erfindet sie. Schöpferisch, sein Baby. Zielstrebig, rücksichtslos, gierig. Verschlingt ständig, Tag und Nacht. Zweierlei: Hirn- und Muskelmasse. Abstrakte, unendliche Reihen von Nullen und Einsern und konkrete, unendlich variable chemische und physikalische Einheiten. Biologisches und Synthetisches gleichermaßen. Vermengt sie in seinen Eingeweiden und spuckt aus. Er erbricht. Ein Allesfresser sein Baby. Unersättlich, unaufhaltsam. Sein As, sein Hauptorgan.

Der Präsident spürt es kommen. Er beginnt, sich sachte zu streicheln. Sein Glied regt sich immer, wenn er an Higgs denkt. Vor allem am Ende des Tages, wenn er auf noch einen erfolgreich abgeschlossenen Zyklus zurückblicken kann, bekommt er eine Erektion. Diesen Rhythmus hat er schon im Blut, er braucht die Natur da draußen nicht mehr. Weder Sonnenuntergang noch Sonnenaufgang braucht er. Es ist schon eine Weile her, seitdem er sie gesehen hat. Er bedauert es nicht, weil er es nicht mehr braucht. Er hat es hier, in seiner Werkstatt: das Wechselspiel der Natur. Hier, im dicken Rohr von Higgs. Die Welt ist ein Gebräu von Licht und Finsternis, mit blubbernden Säften in gierigen Trichtern. Higgs treibt es doch gleich hier, unter aller Augen, es ist angewandte Naturphilosophie pur, was er tut, gleich hier lässt er sie wahr werden, fleischlich und göttlich, er begeht tagtäglich das sublime, berauschende Verbrechen des absoluten Hochmutes, sie neu zu erfinden. Er tut es. Er braut seinen Samen.

Den Samen einer noch nie da gewesenen Art.

Und der Präsident, er, er allein, verfügt über ihn.

Der Präsident stemmt sein Kinn gegen die Brust. Die linke Hand streichelt nicht mehr, sie reibt, drückt und zieht. Sein Glied schmerzt. Die rechte Hand drückt aufs Papier, sie zieht geschwungene Linien ohne sich zu heben, um das Zittern unter Kontrolle zu halten. Auf das zerknitterte Stück Packpapier, das sein Unternehmen beim Versand der Musterbehälter benutzt, kritzelt der Präsident seine eigene Interpretation des darauf gedruckten Logos, einer eher verharmlosenden Idealdarstellung von Higgs in seiner Behausung. Nichtsdestoweniger trifft sie zu: ein zylindrischer, glatt polierter Glaspfahl, der in der Höhlung des erlöschten Vulkans steckt und die Schichten der roten Erde durchdringt.

Die Kritzelei des Präsidenten ist weder verharmlosend noch idealisierend. Im Gegenteil. Sie ist brutal und konkret. Nichtsdestoweniger trifft seine Darstellung gleichfalls zu: sie ist rein pornographisch. Der Präsident hat zweifelsohne zeichnerisches Talent.

Er sänftigt den Druck. Er will noch nicht kommen, will den Zustand verlängern, um seine Phantasie arbeiten zu lassen. Gewissenhaft. Zielstrebig bis zur Apotheose des menschlich Erträglichen. Was er sieht, wenn er die Augen schließt, will er aufs Papier bringen. Dieses Bild in seinem Kopf, das unablässig Farben und Flächen vermengt, sie aus der leuchtenden Dunkelheit emporsteigen lässt. Er sieht Fleischrundungen, rosig und verwundbar, von schneidigen Oberflächen in künstliche Schichten tranchiert, eingerastet, eingedeicht. Er sieht pathetisch sich windende Mäander, die von kühlen, klar geschliffenen Hyperbolen bezwungen werden. Er sieht sich selbst als Bezwinger.

Die Beschaffenheit seines Wesens zwingt er dem anderen Wesen auf. Der scharfe Blick seiner Linsen zerwühlt es. Er ist der Vergewaltiger. Die Retter werden sich umsonst erheben, sie werden alle stürzen. Ihre Ordnung, dieses Relikt einer besiegten Welt, wird an seiner siegreichen, neu aufgerufenen abprallen, wieder und wieder, bis sie ermattet und schiffbrüchig zu seinen Füßen liegen wird. Die alte Ordnung, die Besiegte, wird ihm die Zehen lecken und ihn bestechen wollen, um Gnade bitten und sich ihm demütig als Versöhnungsgeschenk anbieten. Als Sklavin. Diese Hingabe ist die Gabe, die seine Belohnung sein wird. Einzigartig und kostbar. Ihm ausgeliefert und gefügig: die Erde.

Er zeichnet diesen besiegten Fleischklumpen, reglos, willenlos, entseelt daliegend, ausgestreckt wie eine Leiche in der Pathologie, er zeichnet Muskeln und Hautlappen, die weder sich zu wehren noch zu zucken mehr die Kraft haben und unter dem Stoß seines stumpfen chirurgischen Instruments schlaff auseinanderklaffen. Es ist Higgs, den er in seiner Hand zeichnet, denn wahrhaftig ist der sein allmächtiges Werkzeug. Er zeichnet, stöhnt und masturbiert. Auch wenn es ihm nicht gerade gelingt, das Geschlecht des liegenden Körpers wiederzugeben, weiß er zu gut, dass der weder geschlechtslos ist, noch ist er eine Leiche. Er ist noch lebendig und er ist weiblich, heißt Terra und verspürt das Leid, das ihm zugefügt wird. Der Körper des Präsidenten ist lebendig und männlich und verspürt das Leid, das seine Hand auf das Stück Papier überträgt und dieser gezeichneten Sklavin zufügt. Es löst in ihm eine der intensivsten Freuden seiner oft geübten sadomasochistischen Nekrolatrie aus. Er verspürt das Leid, das er sich selbst mit der anderen Hand zufügt, und das löst eine überwältigend befriedigende Wonne aus. Er muss sich in die Zunge beißen, um nicht laut zu jauchzen. Er schwitzt, blinzelt und schnaubt. Sein Blut rast und überfordert die körperlichen Pumpen. Das Herz hämmert, das Hirn flackert, die Hoden bersten und schleudern ihn hinaus aus sich selbst, hinaus und weit weg in das unendliche Nichts hinein und wieder zurück. Der Sekundenbruchteil gestohlener Ewigkeit, der ihn süchtig macht.

Der Präsident röchelt leise, immer leiser, beruhigt sich.

Er zieht die klebrige Hand aus der Hose und wischt sich die Finger und das Glied mit dem Taschentuch ab. Gut. Er wirft noch einen letzten Blick auf seine Zeichnung und zerknüllt das Stück Papier. Er lächelt. Tja, es ist schwer, das wiederzugeben, was nicht wiederzugeben ist. Eine Vision ist eine Inspiration. Sie zu verwirklichen, ist eine Berufung. Seine Berufung ist es, die Erde zu begatten und ihre Sprösslinge nach seinem eigenen Bilde neu zu erschaffen. Jede Vision beginnt in der Realität mit dem Geschehen, das man gestaltet. Also zurück zur Realität.

Der Präsident hebt seinen Blick und beobachtet das Geschehen auf den Monitoren. Alles scheint in Ordnung zu sein. Das Surren von Higgs rieselt über die Lautsprecher in den Raum hinein. Wie beruhigend. Es ebbt in ihm, es zieht sich zurück ins Gehäuse: das Blut in die Gefäße, die Luft in das Lungengebläse, die Bilder in das frisch gefegte Gehege des Hirns. Sein Herz schlägt befriedigt einen geruhsamen Rhythmus. Er döst ein und träumt. Er sieht den blutigen Schoß der Erde, der sich unter seinem Stoß öffnet. Gefügig ist ihr Wesen, das er jede Nacht besitzt.

Auch jeden Tag, dank Higgs. 

 

 

 * * *

Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.

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Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997

Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.