Eine Erinnerung
Der Distelfink pickt in der Wiesenflockenblume, die Wacholderdrossel fliegt in den Bergahorn, der Hausrotschwanz hüpft durchs Gras, und die Amsel sitzt, wie jeden Tag, auf der Stromleitung und singt gegen die in der Ferne lärmende Motorsäge an. Ich betrachte den Natterkopf, der aus dem Pfennigkraut herausragt, und sehe den Klatschmohn ein Blatt verlieren. Der Blick schweift über Gilbweiderich, Kamille und Margerite, Kuckuckslichtnelke und Schlangenknöterich, Rittersporn, Eisen- und Fingerhut, bleibt an der Glockenblume hängen, und ich denke, wie jeden Tag beim Anblick der blühenden Blumen und Pflanzen im Garten, an meinen Freund Hans Bender, der die Namen der Blumen, Bäume, Vögel und „Feldkräuter“ auch so liebt:
Als Dorfkind lernte ich
schon früh sie zu benennen.
Kein Name war schöner als
Tausendgüldenkraut.
Wer am 1. Juli 2009 in den deutschen Lyrikkalender „Jeder Tag ein Gedicht“ schaut, in dem Shafiq Naz liebevoll und kenntnisreich Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart arrangiert, stößt auf Vierzeiler, die an diesem Tag nicht von ungefähr dort stehen, denn am 1. Juli 2009 vollendet Hans Bender das 90. Lebensjahr. Von seiner lakonischen (Selbst-)Ironie hat der seit 65 Jahren im deutschen Sprachraum präsente Bender-Sound nichts eingebüßt, wie „Meine Vierzeiler“ zeigen:
Unbrauchbar
für die Frankfurter Anthologie.
Für Interpreten zu kurz,
sogar verständlich sind sie.
„80 zu werden ist ein Hammer“, meinte Bender vor zehn Jahren, als wir uns an seinem Geburtstag kurz über Zeit und Alter unterhielten. Nun, lieber Hans Bender, sind Sie 90 und hämmern Ihre „Verwunderung“ in die Schreibmaschine wie eh und je:
Irgendetwas will in dir
wie in deiner Jugend keimen.
Deine Wörter, deine Zeilen
wollen wie von selbst sich reimen.
Die Gedichte und Geschichten Hans Benders begleiten mich seit 1966, meinem 10. Lebensjahr. Genauso wie viele Szenen des Endspiels von Wembley sich in mein Gedächtnis gebrannt haben, bleibt ein Bär, der bis zum Dach wächst, genauso lebendig wie „Iljas Tauben“, „Die Brotholer“, „Das Gasthaus“ oder „Die Wölfe kommen zurück“, deutsche Geschichte und Gesellschaft spiegelnde Prosa, die die Kurzgeschichte in Deutschland auf originelle Weise mitgeprägt hat, Kurzgeschichten, die seit Jahrzehnten bis heute in Lesebüchern lebendig sind.
Wie selbstverständlich spreche ich bei jeder Begegnung mit Axel Kutsch (in dessen kürzlich erschienener, vorzüglicher Gedichtsammlung „An Deutschland gedacht. Lyrik zur Lage des Landes“ ich treffende Vierzeiler Benders finde) über Rolf Dieter Brinkmann, über Karl Otto Conrady, über Thomas Kling, über Hans Bender, von dem Kutsch in einer Mail am 29. Juni 2009 schreibt: Als „Akzente“-Mitbegründer, Herausgeber wichtiger Lyrik-Anthologien wie „Mein Gedicht ist mein Messer“ oder „Was sind das für Zeiten“ sowie Autor exzellenter Kurzgeschichten und – in den letzten Jahren – zahlreicher wunderbarer Vierzeiler gehört Hans Bender für mich zu den prägenden Gestalten der neueren deutschsprachigen Literatur.
Hinzufügen möchte ich in diesem Zusammenhang die Aufzeichnung, die ein weiteres Markenzeichen des Autors Hans Bender ist. Ob „Postkarten aus Rom“ (1989) oder „Wie die Linien einer Hand“ (1999): Diese Aufzeichnungen sind bemerkenswerte Nachrichten, die auch nach Jahrzehnten noch merkenswert sind, denn in ihnen leuchtet – wie in den Geschichten und Gedichten – die bildhafte, klare, aufs Notwendige beschränkte, detailliert beschreibende, subtile, natürlich dahinfließende, nuancierte, ironiedurchtränkte Sprache dieses bescheidenen Meisters der scheinbar bloß kleinen Form auf, deren Biß und Punktgenauigkeit bei Bender entspannt und messerscharf zugleich ist, kurz, er „zeigt, was auf der Hand liegt – was die anderen eigentlich auch sehen müßten“, wie es am Ende von „Aufzeichnungen einiger Tage“ (1971) heißt.
Wer sich einen präziseren Überblick über das Werk Hans Benders verschaffen will, der lese hier nach, wie viele Bücher der am 1. Juli 1919 in Mühlhausen im Kraichgau geborene Bender bis heute veröffentlicht hat: wikipedia. Die Gesamtzahl der Einzeltitel – vor allem aber der sich über einen Zeitraum von vierzig Jahren erstreckenden, immer wieder auch die internationale Literatur in den deutschen Sprachraum transportierenden Herausgaben – ist beinahe unüberschaubar. Und so bleibt die Entdeckung des ganzen Werks, das in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Gedichtband „Fremde soll vorüber sein“ (1951), der Literaturzeitschrift „Konturen“ (1952) und dem Erzählband „Die Hostie. Vier Stories“ (1953) einsetzt, eine Herausforderung, die mich lebenslang begleitet.
Ich habe viele Einzeltitel und Herausgaben Hans Benders in meiner Sammlung, aber längst nicht alle. Zumal Bender nie aufgehört hat, zu schreiben und zu veröffentlichen: Nach 2000 sind eine ganze Reihe neuer Bücher erschienen, zuletzt „Wie es kommen wird. Meine Vierzeiler“ und „Rose Ausländer – Hans Bender: Briefe und Dokumente 1958–1995“ (beide 2009), ein weiteres Buch ist in Vorbereitung. Er ist in aktuellen Anthologien, Kalendern und Literaturzeitschriften vertreten, und die Mehrzahl der Bücher ist lieferbar, frühe Titel werden seit einigen Jahren neu aufgelegt und harren nun der jüngeren Leser, die vielleicht gar nicht ahnen, welche Größe Hans Bender im Literaturbetrieb des deutschen Sprachraums seit den frühen 50er Jahren darstellt. Von den Herausgaben benenne ich exemplarisch die beiden Jahrzent-Anthologien der 1970er und 80er Jahre „In diesem Lande leben wir“ und „Was sind das für Zeiten“, Lyrikdokumentationen, auf die der Leser schlecht verzichten kann, der sich aus der Retrospektive einen Eindruck verschaffen will von Jahrzehnten, in denen ganz andere Gedichte geschrieben wurden als heute.
Ebenfalls am 29. Juni flattert das neue „Akzente“-Heft ins Haus: Der komplette Rückumschlag ist Hans Bender gewidmet: Unter der Abbildung des zum runden Geburtstag bei Hanser erschienenen Gedichtbands „Wie es kommen wird. Meine Vierzeiler“ mit dem freundlich in die Ferne blickenden Bender lese ich: Hans Bender, der am 1. Juli 2009 neunzig Jahre alt wird, hat mit haikuähnlichen Vierzeilern seine ideale Form gefunden. Nachdem ihn seine Kurzgeschichten in Deutschland bekannt gemacht haben, schreibt er heute vorwiegend Lyrik. Seine eng bemessenen Gedichte sind voller Eleganz und Witz, Kritik und Melancholie – und immer darauf bedacht, dass sich kein überflüssiges Wort einschleicht. Vier Zeilen sind der Spiegel, in dem die Welt des „Akzente“-Mitbegründers Bender zur Sprache kommt. „Bei mir behalten? / Oder weitersagen? / Du wirst alt sein / und wie Hiob klagen“, heißt es einmal. Schöner als in diesem Gedichtband war die Klage nie.
In den „Lyrikstationen 2008“ mache ich auf der 7. Station Halt bei Hans Bender. Hier erleben Sie den warmherzigen und großzügigen Menschen, in dessen Nähe ich mich so wohl fühle, daß ich gelegentlich bedauere, in Sistig in der Eifel, also über 70 Kilometer weit weg von der Taubengasse im Zentrum Kölns zu leben. Während wir früher regelmäßig per Brief korrespondierten, telefonieren wir seit einigen Jahren alle paar Wochen und tauschen die eine oder andere literarische Neuigkeit oder „Vermutung“ aus:
Satirische Epigramme finden sich
seltener in unseren Tagen.
Die Dichter scheinen sich heute
besser als früher zu vertragen.
Zuletzt freuten wir uns gemeinsam über die schönen Erfolge Walter Kappachers, der den Büchner-Preis zugesprochen bekam, sowie Norbert Scheuers, dessen neuer Roman „Überm Rauschen“ in der FAZ vorabgedruckt wurde. Mit Kappacher ist Bender seit vielen Jahrzehnten befreundet, mit dem gemeinsamen Freund Scheuer seit rund 20 Jahren.
Überhaupt: der Freundes- und Bekanntenkreis Hans Benders! Bei jedem Besuch in der Taubengasse habe ich das Gefühl, einen Spaziergang durch die Literaturgeschichte zu machen. Bender kannte sie einst alle und kennt heute noch viele persönlich. Als „Akzente“-Herausgeber hat er damals noch unbekannten Autoren ein Forum für die Veröffentlichung der ersten Gedichte, Essays oder Erzählungen geboten, das immer wieder zur Triebfeder so mancher literarischer Laufbahn wurde. Werfen Sie, falls noch nicht geschehen, einmal einen Blick in die gemeinsam mit Walter Höllerer edierten „Akzente“-Ausgaben aus den 1950er und 60er Jahren (die beispielsweise als Nachdruck in der mehrbändigen Ausgabe von Zweitausendeins antiquarisch leicht zu bekommen sind) und lesen Erstdrucke von Walter Helmut Fritz, Marie-Luise Kaschnitz, Johannes Poethen und zahllosen anderen Autorinnen und Autoren.
Ich blättere in „Briefe an Hans Bender“, 1984 anläßlich des 65. Geburtstags Benders bei Hanser schienen, und lese Briefe von Alfred Andersch, Rose Ausländer, Gottfried Benn, Thomas Bernhard, Rainer Brambach, Rolf Dieter Brinkmann, Paul Celan, Günter Grass, Hans Henny Jahnn, Günter Kunert, V. O. Stomps, Martin Walser und vielen, vielen andere Autoren, die er nicht müde wurde als Autor, Herausgeber, Juror, Redakteur, Kritiker, Liebhaber der Literatur und Freund zu unterstützen, zu ermuntern und zu fördern.
1988/1990 erschien mit „Was sind das für Zeiten. Deutschsprachige Gedichte der achtziger Jahre“ die letzte von Hans Bender betreute Edition zeitgenössischer Lyrik. Seitdem arbeitet er in erster Linie am eigenen Werk, verfaßt gelegentlich Aufzeichnungen und beständig Vierzeiler (Vertraute Wörter, Rhythmen, Reime / vier Zeilen, leicht zu verstehn / Schön, meine Freundinnen und Freunde / bei der Lektüre lächeln zu sehn), deren Frische ich den Blumen wünsche, die er am 1. Juli 2009 zum 90. Geburtstag, der alles andere als ein Hammer, sondern eine wunderbare und schöne runde Sache ist, geschenkt bekommt.
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Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.