Kennst du sie wieder Ginetto
schau dir das paßfoto an
Ihr letztes wort: maledetto
Gott du verfaulst in St Gian
In staubigen spielen als jungen
alles lernten sie
was sterben heißt was: gedungen
und wann man da rauskommt: nie
Gino weiß das nicht mehr
Nur das blut seiner wunde weiß
tatzeit und ort und quer
durchn hals der Camorra geheiß
Nach einer nacht der agamen*
St Gian von der mauer geteilt
Die den lohn bekamen
sind zum palazzo geeilt
Das viertel ist zugemauert
ratten verpfeifen den tag
Hinter schießscharten lauert
Leone auf seinen ertrag
Es brauch kein erdbeben daß
in Neapel häuser zerbrechen
Der tod nimmt es klein Aber was
brauch es die toten zu rächen
Deine mutter Ginetto
die schönste von St. Gian
dafür starb sie Ginetto
bot sich dem gottvater an
Und nun verrat uns Ginetto
wie ging es an in der stadt
Sag uns die sbirren* Ginetto
sag uns wer steckte das blatt
Gino weiß das nicht mehr
Nur das blut seiner wunde weiß
tatzeit und ort und quer
durchn hals der Camorra geheiß
Bezahlt sind töter und sänger
Auf plinthen* der infamie
landen die tauben länger
nicht mehr bezahlt auch sie
Reporter tickern die titel
hunde lecken das blut
Sakkos wie blutige kittel
Die presse atzt ihre brut
Es brauch kein erdbeben daß
in Neapel häuser zerbrechen
Der tod nimmt es klein Aber was
brauch es die toten zu rächen
Deine mutter verriet uns
wollte nicht weitern betrug
Ja deine mutter verriet uns
und das nur weil er sie schug
Sie ist in die höhle gegangen
Leone schirrte sie knapp
Sie sang: gefangen gehangen
und bat für das viertel ab
Gino weiß das nicht mehr
Nur das blut seiner wunde weiß
tatzeit und ort und quer
durchn hals der Camorra geheiß
Etagen verwüstet feuer
meißeln gesichter aus haß
Unterm verschlag im gemäuer
versteckte und vieh im gelaß
Familien abgerissen
ziehn in die andere stadt
Mittagswinde die wissen
die toten blatt für blatt
Es brauchte kein erdbeben daß
in Neapel häuser zerbrächen
Der tod nimmt es klein Aber was
brauch es die toten zu rächen
***
Rohlieder I – X von HEL
HEL ist bekannt als Herausgeber neuer Talente im „literarischen Underground“ und Publizist gesellschaftskritischer Lyrik sowie Essays. Nach dem Zyklus Zeitgefährten, die zwischen 1977 – 2008 entstanden sind, veröffentlicht KUNO die Reihe Rohlieder I – X, die dank Caroline Hartge neu ediert worden sind. In diesen Gedichten spürt HEL das Existenzielle im vermeintlich Banalen auf. Er hat es hat es nicht nötig, Fiktion zu erfinden … die Fiktion existiert bereits.
Weiterführend →
Eine Würdigung von HEL findet sich hier. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Eine Hörprobe des Autors findet sich auf MetaPhon.
Anmerkungen:
agame = „eidechsenart“
sbirren = „ital. schergen, greifer, hilfspolizisten“
plinthen = „griech. vorkragende ziegel“