Gegenwartsvergessenheit und Zukunftsverdrängung

Seit drei Jahren reden wir über den Krieg.

Ein Bekannter hat sich freiwillig gemeldet.
Ein halbes Jahr später ist er zurückgekommen.
Wo er war, weiß keiner.
Wovor er Angst hat, sagt er nicht.
Aber er hat Angst.
Es scheint sogar,
Er hat vor allem Angst. (106)

Die markanten Spuren von Krieg, Tod, Vergänglichkeit, Trauer, Gottverlassenheit und Hoffnungslosigkeit ziehen sich wie Menetekel durch dieses in einem Taubenblau gestalteten Bändchen aus der Feder des ukrainischen Erzählers und Lyrikers Serhij Zhadan. 1974 in einem Dorf des Luhansker Bezirk in der Ostukraine geboren, ist er seit fünf Jahren beredter Augen- und Ohrenzeuge eines Krieges geworden, der in der Zwischenzeit mehr als 13.000 Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet hat. Ausgelöst durch die Autonomiebestrebungen ostukrainischer Machthaber, militärisch alimentiert durch den benachbarten russischen Staat, hat dieser Konflikt zwischen dem ukrainischen Staat und der abtrünnigen „Donbass-Republik“ tiefgreifende psychische Auswirkungen auf die Mehrheit der Bevölkerung. Es ist, als ob sich ein lähmendes Netz, bestehend aus Gegenwartsvergessenheit und Zukunftsverdrängung, über ihre Köpfe gelegt hat. Wie heißt es im Schiffsverzeichnis, im ersten Teil des Gedichtbandes:

Hier sind wir – hinausgeschrien in die Nacht,/
ausgebrannt in der Sonne wie Keramik./
Mit einer Sprache, Vogellauten gleich./
Mit Stimmen wie von Tieren, die sich zurufen,
wenn sie sehen, wie von allen Seiten das Feuer näher rückt./
Die Menschen des atemlosen Grenzlandes kommen zusammen./

(S. 23)

Und was hält die Menschen des Grenzlandes angesichts von materieller Verwüstung und seelischer Zerrüttung zusammen? Es ist

Der bange Glaube der Grenzvölker,/
Den eigenen Toten die Aufnahme ins himmlische Reich zu wünschen,/
Vor allem jenen, die an nichts geglaubt haben:/
Ihr Ende mit dem Gesang der Vögel kundzutun,/
sie in den tiefen Schnee hinabzulassen wie ins Meer,/
in Booten, beladen/
mit den herben Schlehen der Sloboda-Ukraine …/ (S. 26)

Es zeichnet den intimen Charakter der vorliegenden Publikation aus, dass Zhadans Aufzeichnungen aus dem Jahre 2018 mit dem Telefonverzeichnis der Toten beginnen. Sie sind seinem Vater gewidmet, der ein Tagebuch geschrieben hat, das sein Sohn erst nach dessen Tod lesen konnte, nach der Beerdigung, die er zum Anlass nimmt, über Atheisten nachzudenken, die „ein Gebet suchen, um eines anderen Atheisten zu gedenken, der von ihnen gegangen ist. Sie überlegen, aber es fällt ihnen nichts ein.“ (S. 17) Dieses Glaubensvakuum nimmt Zhadan zum Ausgangspunkt seiner Reflexionen über den Begriff ‚himmlisches Reich’. Er übernehme die Aufgabe, als Stellvertreter für allmögliche Empfindungen und psychische Orientierungen in der Menschen- und Tierwelt zu fungieren, selbst für atmosphärische Beschreibungen werde er benutzt.

Das himmlische Reich – die Tiere atmen es in den Ställen,/
Die klugen Vögel spähen es aus am Horizont,/
Beinah Familienmitglieder,/
Die man zu feierlichen Anlässen tötet.
(S. 25)

In der europäischen Lyrik sind solche Stimmen rar geworden, denen es gelingt, die atheistische Furchtbeladenheit in transzendentale Räume zu verlagern, wo „das ewige Jagen nach der schreckhaften göttlichen Beute“ (S. 39) zum Anlass einer Abrechnung mit den Machtbesessenen wird. Doch nicht die moralische Anklage bewegt das imaginäre Ich, es ist vielmehr der universale Dialog mit den Bäumen, die den Steinen ausgeliefert sind, „wie die Prediger der grausamen Vernunft von Tieren.“ (S. 47)

Und welche Aufgabe übernimmt die Liebe in dieser geistig entleerten, technisch hoch gerüsteten, digital verknüpften Welt? Gleich zu Beginn der ‚Antenne’, die die lyrischen Nachrichten im dritten Abschnitt des Gedichtbändchens transportiert, sind den Liebesgeschichten nur noch Botschaften der Zwietracht, der Verlassenheit, des entleerten Streites, des Abschieds auf einem verlassenen Bahnsteig zu entnehmen, auf dem die letzten Umarmung mit der einstigen Geliebten abläuft. Doch auch das Wiedersehen zwischen dem Liebespaar endet nach zwei Jahren hassbeladen. Das lyrische Ich zieht ein ernüchterndes Resümee:

Die Welt hängt in Rechtfertigungsversuchen fest./
Die Welt zeigt sich hoffnungslos ungeeignet für das Leben./
Zur Rechtfertigung hat sie die Literatur erfunden

Und welche Angebote macht der diese Literatur benutzende Dichter, obwohl der Krieg weiter sein mörderisches Geschäft betreibt? Er flüchtet in ein imaginäres Wir, das klug über das Gemetzel redet, das sich an die Zahl der Gefallenen erinnert, das die Wirklichkeit mit der Gartenschere zerschneidet… Und dennoch: in der imaginären Figur einer Bibliothekarin, die in dem teilweise durch Granaten zerstörten Lesesaal nach den Worten der toten Dichter sucht, zeichnet sich noch eine Spur von Hoffnung ab, die beim nächsten Luftangriff jedoch wieder gelöscht wird. Alle Überlebende sollen mit Orden geehrt werden, und während die vom Krieg körperlich und seelisch schwer Verletzten, auf die Ehrung warten … Es mutet wie eine Flucht in eine innere, schwer zugängliche „Welt“ an, wenn mitten in dieser „dekorierten“ Ausweglosigkeit plötzlich eine ganz andere Vision entsteht:

Die tiefe Welt der Freude und Bäume,/
die Welt des Goldenen Schnitts der von Kindern getrampelten Pfade,/
die Welt der Sorge, die aus der Ruhe erwächst,/
gräbt sich mühsam in den Winter wie der Spaten in die Märzerde. (S. 126)

Und der im Kostüm des lyrischen Ichs weiter nach Worten ringende Dichter?

Alles ist so unsagbar gut, schreibe ich./
der Winterhimmel /
wartet hinter der Stadt
und birgt seinen zarten freien Hals
vorm Wind. (S. 127)

Was dann folgt ist die Anrufung eines Gottes, mit dem der Dichter sich anlegen will, um einer erwachsenen Frau, die der Welt gleicht, Trost und Geborgenheit zu spenden. Doch dieser Gott hat sich aus dem Staub gemacht und steht auf einer Kreuzung, um den Verkehr zu lenken. Wie immer solche plötzlichen „Szenenwechsel“ bei einem mitteleuropäischen Publikum „ankommen“, das die Auswirkungen von jahrelangem Kriegsgeschehen nur noch aus Fernsehbildern wahrnimmt, es könnte für winzige Augenblicke schockiert sein.

Serhij Zhadan hat mit der vorliegenden Sammlung von Prosaskizzen und rhythmisierten Gedichten aus dem Jahre 2018, die Claudia Dauthe mit lyrischer Sensibilität und nüchternem Sachverstand aus dem Ukrainischen übertragen hat, ein literarisches Dokument hinterlassen, das in der jüngsten osteuropäischen Kriegsgeschichte einmalig ist. Die Welt der durch den Krieg geschändeten Natur bäumt sich auf gegen die Gewalt, wendet sich in ihrer Hilflosigkeit einem Gott zu, der sich längst anderen Geschäften gewidmet hat. Nichts Neues unter diesem mörderischen Himmel? Was für ein Fehlschluss! Serhij Zhadan hat uns eine tief bewegende Botschaft geschickt. Es liegt nun an uns, ihm zu antworten.

 

 

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Antenne, Gedichte von Serhij Zhadan, Übersetzung: Claudia Dathe. Suhrkamp Verlag, 2020

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1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

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→  Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott KUNO dieses post-dadaistische Manifest.

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