Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.
Gottfried Benn
dichtung lebt nicht allein von plötzlicher inspiration, sondern ebenso durch kontinuierliche arbeit. in seinem essay VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie läßt weigoni, der betont, daß sprache werkzeug sei, bereits im titel die ursprüngliche bedeutung des worts poet als verfertiger und macher anklingen. mircea eliade schrieb in Schmiede und Alchemisten / Mythos und Magie der Machbarkeit:
»Das sanskritische taksh, „verfertigen“, wird gebraucht, um die Komposition der Gesänge im Rig-Veda zu bezeichnen … das alt-skandinavische lotha-smithr, „Gesangs-Schmied“, und das deutsche Wort Reimschmied, „poetaster“, zeigen noch deutlicher die engen Beziehungen zwischen dem Beruf des Schmiedes und der Kunst des Dichters und des Musikers … Nach Snorri nannten sich Odin und seine Priester „Schmiede von Liedern“.« noch zu beginn der neuzeit waren handwerk und (dicht)kunst eng verbunden, siehe hans sachs.
Seit Jahren beobachte ich die bemerkenswerte Entwicklung des Multimediakünstlers A.J. Weigoni. Zu seinen besonderen Kennzeichen gehört die Wachheit für die Entwicklung zeitgenössischer Kommunikationstechnologie, deren Nutzung und der spielerisch-experimentelle Umgang mit allen erdenklichen Ausdrucks- und Kommunikations- und Vertriebsformen. Er akzeptiert keine vorgegebenen Kategorien medialer Produktionen, sondern sprengt unbekümmert deren Grenzen.
Almuth Keusen–Hickl
im altertum verglich man das dichten mit der webkunst. marcus terentius varro sprach vom flechten der verse. auch kirchenslawisch und arabisch gab es die tradition des verseflechtens. in der dichtung der veden wurde die zungenspitze des dichters, der sein gedicht rezitiert, mit einem weberschiffchen verglichen. im althochdeutschen waren spinnen und weben synonyme für dichten. bei novalis webt die fabel geschichten. der text ist das gewebe der wörter, der sprache und der schrift. verwandt mit text sind lateinisch texere=weben, flechten, zusammenfügen, verfertigen, bauen, errichten, eigentlich kunstvoll verfertigen, textus=gewebe, geflecht, zusammenhang der rede, fortlaufende darstellung, gewebe der schrift, textūra=das weben, gewebe, zusammenfügung, verbindung, textor=weber und textile=gewebe, zeug, tuch, leinwand.
Schreiben ist eine Wiederaneignung der Welt.
„Möglicherweise liegt darin der Sinn von Poesie, zu beschwören, was abhanden gekommen ist oder was wir erforschen wollen. Schreiben ist, so besehen, eine Art Wiederaneignung der Welt.“ man könnte auch sagen, poesie entstehe durch wiedergeburten. und tatsächlich muß sich ja der mensch, und zumal der kreative und geistige, ständig selbst gebären. bei philosophen, mystikern, dichtern und künstlern ist das motiv der geistigen, literarischen und künstlerischen (selbst)geburt oft mit dem der auferstehung verbunden, die jedes originäre werk verlangt. c.g. jung schrieb in Symbole der Wandlung: »Die Vertiefung in sich selbst (Introversion) ist ein Eingehen in das Unbewusste und zugleich Askese. Aus dieser Handlung entsteht für die Philosophie der Brâhmanas die Welt, für die Mystiker die Erneuerung und geistige Wiedergeburt des Individuums, das in eine neue geistige Welt geboren wird.«
Die „Lyrikedition 2000“ wird von Heinz Ludwig Arnold herausgegeben. Neben Walter Höllerer und Günter Kunert steht die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek im Programm. Neuere Lyriker, wie Ulrike Draesner, Björn Kuhligk und A.J. Weigoni, führen den Leser in die Gegenwart.
weigoni verbindet das profane mit metaphysischem, um heimzukommen »in die Ewigkeit der Gegenwart« (Start up in Dichterloh) und eine gegenwart zu überwinden, die bloß der hauswart der wirklichkeit ist. »Gesucht wird ein Mythos – zu finden sind viele einzelne Gedichte.« (VerDichtung). immerhin kann dichtung magische substanz individuell bewahren, während die kollektive magie zerfällt und verflacht. so erhält das entfremdete individuum, die zentrale ich-figur moderner lyrik, manches, das sonst verloren geht, noch am leben, wenngleich vom rande der gesellschaft her. nicht zuletzt deshalb hat der schreibprozeß auch einen therapeutischen sinn. »Nur wenn man ein Talent auslebt / kann man die Narben schützen.« heißt es in Unbehaust, »Einsamkeit ist auch nur eine Form / vor sich selbst zu flüchten.« in Dichterloh.
literaturmarkt und literaturbetrieb begegnet weigoni mit distanz. in den Verweisungszeichen zur Poesie und VerDichtung konstatiert er:
„Die heutige Marktliteratur ist realistisch, optimistisch, fröhlich, sexy und didaktisch … Die meisten SchriftstellerInnen haben die künstlerische Kontrolle über die Resultate ihrer Arbeit verloren und lassen sich vermarkten … Vom utopischen Surplus der Literatur bleibt nicht mehr viel. Statt dieses Mehrwerts liefert die Literatur das, was den Waren zu mehr Wert verhilft … Die Zielgruppe ist an die Stelle der Öffentlichkeit getreten.«, und gibt zu bedenken: »Das Bedürfnis nach Subjektwerdung kann niemals wirklich durch den personalisierten Konsum standardisierter symbolischer Güter gedeckt werden … Als Notwehr dagegen bleibt, eine VerDichtung zu betreiben, ohne sich Illusionen über Kommerzialität und Zeitgeist-Kompatibilität zu machen … Gedichte müssen aus Not und Notwendigkeit entstehen und nicht als Geschäftsgrundlage. Lyrik ist eine Kunstdisziplin, die ihren Weg von unten nach oben antreten muss.«
A.J. Weigoni ist en voc schlechthin, er versagt sich die Koketterie durchgehender Authentizität in einer Zeit der Explosion des Bedeutungslosen ebenso wie die Einkehr in die plane Verständlichkeit der Selbstvergewisserung. Er zeichnet den Diskurs der schweifenden ortlos gewordenen Raubritter der Wahrnehmung in einer verbleiten Szenerie.
Dieter Wieczorek
wenigstens in einigen bereichen der gesellschaft, und dazu gehören kultur, bildung, medien, kinderbetreuung, gesundheitswesen und sport, sollten geldmechanismen, mit denen der ideelle wert einer arbeit nur unzureichend erfaßt wird, nicht bestimmen, da sie sonst verwerfungen anrichten und unrecht verursachen. denn natürlich beschädigt und deformiert die geldgelenkte verwertung literatur und künste. wo die kunst zum nur noch kommerziellen faktor wird, entsteht häufig eher kunstgewerbe. auch der literaturbetrieb gerät so leicht zur bloßen begleitmusik einer strukturellen entwertung der eigentlichen literatur. wenn es allein um die popularität beim publikum ginge, wären iffland und kotzebue die wichtigsten dramatiker der Goethe-Zeit gewesen, die man dann besser Iffland-Ära oder Kotzebue-Epochenennen sollte.
Die Jaynes’sche These aus den 1970er-Jahren von der “Sprache als Wahrnehmungsorgan” findet in Weigonis Essay eine neue Entsprechung.
Joachim Paul
literarische oder künstlerische wirkungen und erfolge basieren ohnehin häufig auf projektionen, illusionen, mißverständnissen, irrtümern, inszenierungen, manipulationen, vereinnahmungen und mißbräuchen. denn die motivationen, antriebe, ambitionen und intentionen im schreibprozeß, die der künstlerische autor selber bewußt oft gar nicht wahrnimmt oder nicht einmal kennt, und die erwartungen der leser, das sind zwei völlig verschiedene wirklichkeiten. manche können die produkte der literatur interpretieren, die spezifik ihrer entstehung verstehen schon viel weniger und eigentlich bloß winzige minderheiten.
unterm diktat der geldherrschaft verliert die literatur an gesellschaftlichem wert. »Eine Waare mag das Produkt der komplicirtesten Arbeit sein, ihr Werth setzt sie dem Produkt einfacher Arbeit gleich und stellt daher selber nur ein bestimmtes Quantum einfacher Arbeit dar.« schrieb karl marx in Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, und: »Als Gebrauchswerthe sind die Waaren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerthe können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswerth.« gedichte anbieten ist wie mit spielgeld einkaufen wollen.
Weigoni zieht die Sprache aus, reißt ihr die Verkleidungen herunter, schält sie aus ihren Klischees heraus, führt sie zum Ursprung ihrer Bedeutung zurück… die nackte Schönheit der Worte, zärtlich und zornig, stark und klar, betörend und begehrenswert. Sich darin zu verlieren. Zu verlieben. Und vielleicht wiederzufinden, wer weiß… in einer Wirklichkeit – mehrdimensional und auf verschiedenen Ebenen erfühlbar… bei erhöhter Temperatur!
Patricia Brooks
selbst wenn man sich anschaut, aus welchen gründen lyrik anderswo noch einen höheren öffentlichen wert besitzt, findet man dafür überwiegend außerliterarische gründe. slawische völker schätzen dichter traditionell, indem sie ihnen als seher und priester sowie lebensweise weltdeuter und ratgeber erscheinen, islamische kulturen, da viele ihrer lyriker mystiker waren und damit religiosität stifteten, trotz des anfänglichen mißtrauens mohammeds dichtern gegenüber, lateinamerikanische völker, weil dort schriftsteller zwischen tradition und moderne vermitteln und öfter politische oder soziale aktivisten sind. in nordeuropa, wo regierungen teilweise verdienstvollen autoren lebensstipendien verleihen, gewinnt die literatur ihre wertschätzung nicht zuletzt durch ihre bedeutung für die nationale identität dieser länder. österreich fördert seine kultur unter anderem, da diese, zumindest unbewußt und indirekt, an die weltmacht der monarchie erinnert, wovon sie praktisch allein übrigblieb. kleinere völker schätzen ihre kulturen, die gegenwärtigen wie die überlieferten, insgesamt mehr.
Fest steht, daß Originalität (außer bei besonders kraftvollen Geistern) keineswegs, wie manche meinen, eine Sache des Instinkts oder der Intuition ist. Im allgemeinen läßt sie sich nur durch mühseliges Suchen finden, und sie verlangt, wenngleich von höchstem positivem Wert, für ihre Verwirklichung doch weniger Einfall als Auswahl.
edgar allan poe, der ausgeprägte wirkungsästhetische strategien hatte, stellte die idealistischen motivationen der literatur infrage. etwa schrieb er in Die Methode der Komposition: »Fest steht, daß Originalität (außer bei besonders kraftvollen Geistern) keineswegs, wie manche meinen, eine Sache des Instinkts oder der Intuition ist. Im allgemeinen läßt sie sich nur durch mühseliges Suchen finden, und sie verlangt, wenngleich von höchstem positivem Wert, für ihre Verwirklichung doch weniger Einfall als Auswahl.«, und: »Die meisten Verfasser – insbesondere die Poeten – möchten gern so verstanden sein, als arbeiteten sie in einer Art holden Wahnsinns – einer ekstatischen Intuition –, und sie würden entschieden davor zurückschaudern, die Öffentlichkeit einen Blick hinter die Kulissen tun zu lassen: auf die verschlungene und unschlüssige Unfertigkeit des Denkens – auf die erst im letzten Augenblick begriffene wahre Absicht – auf die unzähligen flüchtigen Gedanken, die nicht zu voller Erkenntnis reiften – auf die ausgereiften Ideen, die verzweifelt als nicht darstellbar verworfen werden – auf die vorsichtige Auswahl und Ablehnung – auf das mühsame Streichen und Einfügen – kurz, auf die Räder und Getriebe – die Maschinerie für den Kulissenwechsel – die Trittleitern und Versenkungen – den Kopfputz, die rote Farbe und die schwarzen Flecken, die in neunundneunzig von hundert Fällen die Requisiten des literarischen Histrionenausmachen.«was kunst und literatur, die keine modelle für die gesellschaft sein können, anregt, indem es kreative energien freisetzt, kann zugleich sozial verheerend wirken. eine lebensreal inszenierte phantasiewelt wäre barbarisch. bliebe das leben nicht hinter der kreativen konsequenz der kunst zurück, die straßen wären gepflastert mit knochen. »Können Sie sich das unvergleichbare Chaos vorstellen, das zehntausend absolut einzigartige Wesen anrichten?« fragte paul valéry in Monsieur Teste.
Seit nunmehr vier Jahrzehnten verfolgt Weigoni seine literarischen Investigationen. Über verschiedene Formate – Hörspiel, Roman, Gedicht – tanzt seine Poesie und seine Beobachtungen weben ein Netz zwischen diversen Genres.
Sabine Hoffman
weigoni läßt sich von desillusionierungen, die entstehen, wenn er mit einer massenhaften reproduktion plakativer ideen und Inkompetenzkompensationskompetenz (‚Dehumanisierungsprozess‘ in Dichterloh) konfrontiert wird, »Meine Mitmenschen haben sich / einer Sprachschulung unterworfen / die darin befähigt / Fragen wortreich unbeantwortet zu lassen.« (Unbehaust), die hoffnungen, ernst bloch hatte darauf verwiesen, daß hoffnung nicht zuversicht sei, auf einen lebbaren eigenständigen wert der literatur, die er als motivation braucht, nicht zerstören, zumal die sprache, die ihm in ihren tiefen und nuancen halt gibt, seine eigentliche heimat ist. »Die in den Wettern von Ökonomie und Politik ungesicherte Existenz scheint im sprachlichen Ausdruck einen Halt zu suchen, den sie andernorts schon lange nicht mehr vermutet.«, die sehnsucht inbegriffen »nach dem, was fehlt: Bedeutung, Hunger nach Sinn, Sinngebung« (briefzitat weigoni). seine texte haben, neben aller analyse, die sie zugleich bieten, oft einen theoretischen, programmatischen, postulierenden ansatz. postulate kompensieren häufig reale erfahrungen. und sie enthalten utopische substanz, indem sie auf uneingelöstes und unerfülltes verweisen. andererseits kennt er natürlich die gefahren des theoretisierens und postulierens und reflektiert kritisch seine eigenen ideen, ist also sozusagen ein theorieskeptischer theoretiker.
Durch Sprache zur Welt finden und durch das Buchstabieren der Welt zur Sprache.
weigoni wird vollauf zu recht als sprachakrobat und wortkünstler bezeichnet. »Durch Sprache zur Welt finden und durch das Buchstabieren der Welt zur Sprache.« heißt es in Unbehaust, »Es beginnt immer mit einem Wort.« und »Sprache schafft Realität, mit Worten und durch Worte konstruieren wir Welt.« in VerDichtung. angestrebt ist eine »Verschränkung von Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Tonalität«. der autor, der sich mit sprachtechniken von arno schmidt beschäftigt hat, was man etwa in Letternmusik und Dichterloh merkt, erweitert durch die komposition der worte, die musikalischen prinzipien folgt, und mit verfremdungen im wortmaterial seiner kodierten und entkodierenden texte, das er permanent umformt und zu dem auch umgangssprache, redensarten, dialekt und wissenschaftsvokabular gehören, das spektrum des sprachlichen ausdrucks. indem er, neben rhythmen und lautmalereien, sprachliche schichtungen, brechungen und ambivalenzen, inbegriffen ironisierungen, parodien und persiflagen, nutzt und schafft, können sich verschiedene sprachebenen berühren und verbinden sowie gegenseitig kommentieren und relativieren. derart spielt er auch mit rastern und facetten der verständigung.
Jede Schrift und jedes Sprechen ist immer mehrdeutig und offen, weil sprachliche Zeichen sich nicht in ihrer konkreten Bezeichnungsfunktion erschöpfen, sondern untereinander kommunizieren.
jean paul sartre sprach vom bedeutungshumus der sprache. literatur wird so zum sprachlabor. französisch labour heißt pflügen und ackern, labourer (um)pflügen, ackern, aufwühlen. laboratorium bedeutete mittellateinisch werkraum, werkstatt, deutsch später destillierstube, alchemistenküche. manche gedichte, die schrift, zeichnung und metapher, die übers sichtbare hinausweist, ineinander übergehen lassen, nähern sich grafischen formen. zudem verraten die texte ein vertrautsein mit filmischen techniken und besonders denen des filmschnitts.
Wie die Bäume mit ihren Blättern zur Jahresneige sich wandeln, ihre ersten abfallen, so sterben auch Wortveteranen, so blühen eben geborene Wörter und sind kräftig wie Jünglinge
horaz schrieb in Über die Dichtkunst: »Wie die Bäume mit ihren Blättern zur Jahresneige sich wandeln, ihre ersten abfallen, so sterben auch Wortveteranen, so blühen eben geborene Wörter und sind kräftig wie Jünglinge. Wir schulden dem Tode uns und das Unsre … Menschenwerk wird vergehen, Geltung und Ansehn der Wörter, wie könnten sie ewig leben! So werden viele längst schon untergegangene Wörter von neuem geboren, es werden vergehn, die heute geschätzt sind, falls es der Sprachgebrauch will.«
viele techniken der dichtung, selbst manche, die wir der moderne zuordnen, sind jahrtausende alt. beispielsweise enthielten religiöse und magische rituale vielfach sprachakustische elemente. auch mystiker verschiedener religionen, so jüdische und islamische, kannten buchstabenundzahlenmagie sowie klangundlautmalerei, etwa bei der bezeichnung und anrufung des gottesnamens, lange bevor moderne lyrik sprachspielerisch und lautmalerisch auftrat. lichtenberg zitierte an einer stelle zahlreiche lautnachahmende wörter und schrieb dann:
Diese Wörter und noch andere, welche Töne ausdrücken, sind nicht bloße Zeichen, sondern eine Art von Bilderschrift für das Ohr.
bei walter benjamin, einem erkunder der labyrinthe, heißt es einmal, kindern seien wörter wie höhlen, zwischen denen sie seltsame verbindungswege kennen. spuren der sprache folgend läßt weigoni wortwurzeln anklingen und die wörter, als erspürer und erdenker ihrer genesis und helfer bei ihrer geburt, oder wiedergeburt, aus sich selbst wachsen. die wortbildungen der frühen sprachen bezogen sich meist auf sinnlich konkrete eigenschaften, merkmale und erscheinungen der bezeichneten dinge, wovon die bildhaftigkeit der sprache bis heute lebt. wer die ursprünge der sprache versteht, kommt der poesie schon nahe, die ebenfalls aus bildhaftem und assoziativem wahrnehmen wächst, das klang und sinn zusammenfügt. man findet so sinnliche versprachlichung und sprachliche versinnlichung, Klang-Rede und Wort-Laut (VerDichtung). worte wie Kipppunkt (ML I-III in Dichterloh) oder artIQlation (‚UEberkommen‘ in Letternmusik) entstehen gleichermaßen durch spiel und analyse. selbst laute lassen derart sinn anklingen.
Poesie zählt zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.
der eigene anspruch ist hoch: »Gedichte sind freie Zeichen, die auf keinen schon fertigen Code bezogen werden können, sondern die ihre Leser zum Entwerfen neuer Zeichensysteme herausfordern. Aus dieser Sicht verkörpert jedes Gedicht durch seine spezifisch ausdifferenzierte Gestalt eine multiple und komplexe Bedeutung, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sondern die es im Prozess einer ästhetischen Reflexion erst und immer wieder frisch zu ergründen gilt. Die ästhetische Qualität eines Gedichts erweist sich darin, ob sich seine Gestalt bis in die Details hinein durch diesen vom Betrachter auszulotenden semantischen Gehalt erklären lässt; ist das nicht der Fall, hätten wir es mit einem Zeugnis bloßer künstlerischer Willkür zu tun.« (VerDichtung). tatsächlich ist die genauigkeit, mit der weigoni, dem das präzise denken spürbar freude bereitet, worte in ihren nuancierten bedeutungen erkundet, erstaunlich. wenn er sprache demontiert und dekonstruiert sowie neu montiert und neu konstruiert, »aus dem Wortwerk wird ein Wortbruch« (‚Wesenheiten‘ in Dichterloh), hinterfragt er zugleich ihre strukturen und kodierungen. und wir brauchen die genaue sprache, gerade weil unsere gedanken immer nur vorübergehende erkenntnisse enthalten, die wir wieder überwinden müssen. indem er permanent über antriebe und techniken seines schreibens, denkens und empfindens nachdenkt und in gedichten eine intellektuelle reflexivität erreicht, die man sonst eher in essays findet, ist er, als wissender autor, oft selbst der beste kommentator seiner texte. »Essayist ist man, weil man ein Kopfmensch ist.« schrieb roland barthes in Die Körnung der Stimme.
Inhärentes Programm aller Dichtung ist es, die Sprache, die uns von der Welt trennt, durchlässig zu machen … die produktiven Vielheiten unserer Umwelt zu erzählen, erfahrbar und mitteilbar zu machen, eben: Bewusstsein also Realitäten mit Kommunikationen zu verunreinigen – das ist die Aufgabe und die Möglichkeit zeitgenössischer Literatur.
will bedeutungen sichtbar werden lassen, ohne sie durch allzu große eindeutigkeit zu vergröbern. dies heißt auch, das vorgefertigte und verfestigte der sprache, deren verschiedene bewußtseinsinhalte potentiell stets gleichzeitig verfügbar sind, analytisch und sprachgestalterisch zum mehrdimensionalen verständnis hin aufzubrechen, damit entwicklung möglich wird und die wörter veränderungen der menschen und ihrer wirklichkeiten nicht nur entsprechen, sondern ihnen vorausgehn können. und das verlangt, das denken und erkennen selbst und damit geistige und intellektuelle prozesse und techniken zu reflektieren und zu hinterfragen, bis hinein in die strukturen der gegenstände und wahrnehmungen.
Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten „Wahrheit“, daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt
es gibt nie nur eine wahrheit, sondern immer verschiedene wahrheiten, die nebeneinander, oder auch gegeneinander, berechtigung haben. egon friedell schrieb in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit: »Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten „Wahrheit“, daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt. Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein. Man steht also vor der traurigen Alternative, entweder die kommenden Wahrheiten verkünden zu müssen und für eine Art Scharlatan oder Halbnarr zu gelten, oder die arrivierten Wahrheiten verkünden zu müssen und für einen langweiligen Breittreter von Selbstverständlichkeiten gehalten zu werden, sich entweder lästig oder überflüssig zu machen. Ein Drittes gibt es offenbar nicht.« eben dieses dritte wäre aber wichtig. »was wahrhaft tief geht / liegt gut vergraben.« heißt es in ‚Vage Vermutung‘ (Letternmusik), »gerade in der fernsten Fremde spricht / uns das Vertraute an.« in ‚Weite Ferne … unendlich nah‘ (Dichterloh). letzteres variiert die annahme walter benjamins, die aura sei die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«.
A.J. Weigoni weiß, wie man Dichtung zu Klang macht. Er bringt Ausdruck und Struktur in Einklang, instituiert damit eine auratische Zeichenhaftigkeit dodekaphoner Expressivität und verändert die Sprache mit jedem Sprechen. Die Zeichen geraten in Schwingungen, feste Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden lösen sich auf.
Dr. Tamara Kudrjawzewa
der autor folgt einem dynamischen denkprinzip, das ihn befähigt, sich stets von neuem mit den details der eigenen wahrnehmung zu beschäftigen, unter anderem indem er lineares denken sprachlich hinterfragt und aufhebt. der leser oder hörer findet bei ihm den stachel, der zur erkenntnis antreibt, und die relativierende und bergende denkhaltung. viele gedanken haben aphoristische schärfe. doch indem er vieles durchschaut und empört, aufbrausend, sarkastisch darauf reagieren kann, weiß er auch, wie man gütig handelt. humanität und skepsis bedingen einander. seine skepsis ist die andere seite seines idealistischen anspruchs. und vor allen idealisten steht, sofern sie nicht früh zugrunde gehen, die frage, ob sie ihren heißen utopischen kern abkühlen können, ohne ihn aufzulösen und selber zu erkalten.
A.J. Weigoni, in puncto moderner Sprachtheorie und Ästhetik ganz auf der Höhe, setzt die verdinglichten Wendungen und Sprechhaltungen kritisch gegeneinander. Er verfremdet mit seiner Letternmusik das Gewohnte satirisch und polemisch. Seinem zornigen Elan fehlt es bei alledem nicht an Pathos und Sehnsuchtsausdruck. Unversehens entsteht bei dieser linguistischen Abräumarbeit ein faszinierender Phantasieraum eigener Art.
Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier
die literarischen techniken seiner texte, die unterwanderungen und verfremdungen vorgeprägter sprache, die ironischen untertöne, die aphoristischen sentenzen, die filmischen momentaufnahmen, dienen auch einem reflexiv vom intellekt gelenkten und dabei häufig paradoxen und persiflierenden spiel. wenn weigoni postulaten, die ihm abstrakt erscheinen, ob mythen, utopien oder moralvorgaben, mißtraut, zugleich aber den mangel an ideell gelebtem in vorgefundener wirklichkeit konstatiert, verweist er auf ein grundproblem postmoderner intellektualität. sarkasmus und ironie sind so auch refugien gegen eine totale ernüchterung, obwohl, oder weil, viele stellen dem analytisch genauen blick eines heiner müller, ernst jünger, paul virilio oder jean baudrillard nahe kommen.
Als Worte wie aus Seidenkokons entbunden, sind die rigorosen Gedanken, Sentenzen und Illuminationen dieses Poesie-Schamanen das Zündholz für sein dichterlohes Hörspiel.
Francisca Ricinski
weigoni mißtraut jedem systemdenken, schreibt von der Totenstarre des Determinismus (ML I – III in Dichterloh) und Gletschern der Abstraktion (‚Bewegungsprofil‘ in Dichterloh) und versucht die worte zu befreien, indem er sie aus ihren begrifflichen prägungen herauslöst. »die spröde Spreu / vom Weizen / der Sprache / trennen« postuliert das gedicht ‚Phrasendreschpflegel‘ in Letternmusik. „Die Worte ruinieren, was man denkt.“ meinte thomas bernhard. in begriffen degeneriert die substanz. und keine einzige aussage, ja kein einziges wort, ist unter allen umständen gültig oder gar allgemeingültig.
Wer nicht hören kann, muß lesen; wer auch nicht lesen kann, muß… rückschließen.
HEL
eine skeptisch-reflexive denkhaltung bewahrt vor illusionen, auch denen eines allzu sehr der vorgefundenen wirklichkeit angepaßten und verpflichteten realismus oder pragmatismus. günther anders schrieb schon vor jahrzehnten: »Wer heute einen Weltausschnitt so wiedergibt, wie er sich der Wahrnehmung bietet, also „realistisch“, der flieht, da das Wahrnehmungsbild mit dem bildlosen Bild unserer heutigen horizontlosen Welt nichts mehr zu tun hat, in einen Elfenbeinturm, auch wenn er diesen Turm mit der Portalaufschrift „Wirklichkeit“ tarnt.« Kein Ding ist so, wie es aussieht. wußte hugo ball, der die befreiung der dinge von ihren erscheinungen forderte.
Tom Täger und A.J. Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.
lyrikwelt.de
indem sprachanalyse und sprachklang, philosophieren und musikalität spielerisch verbunden werden, kommt zum ernst die leichtigkeit und unterwandert so realitäten, wo sie nicht übersteigbar sind. »Wo gespielt wird, kann logisch (oder zeichentheoretisch) die Wirklichkeit nicht sein. Das wussten schon die alten Griechen: die Darstellung des Ritus ist Literatur – kein Ritus mehr.« (briefzitat weigoni). die spielerische aneignung, reflexion und nutzung von medienundkommunikationstechniken, die man in weigonis texten findet, ist nicht zuletzt, über die literatur hinaus, deshalb sinnvoll, weil sie angeborene gaben des menschen nutzt, der spielerisch lernt. die gesellschaftsverändernden wirkungen einer spielerischen kultur verlangen freilich sehr viel geduld.
Ganz im Gegensatz zu den anderen “experimentellen” CDs meiner Sammlung sind die von A.J. Weigoni immer stimmig, ja richtig, philosophische Aufsätze auf den Punkt gebracht. Man merkt auch die feine Feile, das Entstehen und die Mühe über einen langen Zeitraum hinweg.
Dieter Scherr, Literaturhaus Wien
die stimme sei der »Fingerabdruck des / Charakters« heißt es im gedicht ‚Leerstelle‘ in Dichterloh. der autor vermittelt texte, die man eigentlich vor augen haben und mehrfach lesen muß, um ihre sprachlichen nuancierungen und assoziativen anklänge sowie fließenden übergänge und brüche wahrzunehmen, mit einer stimme, die ähnlich verfremdet und kommentiert wie das geschriebene wort. »Vorgetragene Poesie strebt danach, die vermeintlich klare Form der Sprache aufzulösen und über die Ränder des Verstehbaren zu treiben.« (briefzitat weigoni). indem er die gedichte sprechend als in musik verwandelte sprache interpretiert und gestaltet, verbindet er wieder, was bei den dichtern der alten kulturen, ob skalden oder veden, natürlicherweise zusammengehörte.
A. J. Weigoni´s “Sound” besticht durch rhythmische Sicherheit, während seine formale Arbeit sich durch Eigenständigkeit und eine Verweigerung klassisch-seichter Erzählhaltungen auszeichnet. Einen philosophischen Unterbau bietet seine gesellschaftskritische Haltung, die… den Blick auf die Zukunft gerichtet hält.
Sophie Reyer
auf die musikalität der zugleich sprachanalytischen texte, und damit das kunstvolle der andeutungsreichen sprache weigonis, sei überhaupt hingewiesen. dynamisches sprachspiel und konzentrierte analyse ergänzen sich hier, ja gehen auseinander hervor. die sprache fließt durch präzision, klarheit und konzentration. der zeilenbruch schafft zugleich brüche und fließende übergänge, so daß bruch, stauung und fluß verschmelzen. zeitgeistgeprägten leseundhörgewohnheiten, die von sich immer mehr beschleunigenden, und dabei nur selten innehaltenden oder gar vertiefenden, oberflächeneindrücken bestimmt sind, ist dies freilich etwas sehr fremdes. wer hingegen keinen trends des zeitgeistes folgt, kann nebenflüsse schaffen, mäanderströme der kultur. manche gedichte formulieren die sehnsucht des gehetzten ich nach kontemplativer bergung gegenüber einer vitalistisch durchorganisierten welt. musik, die metaphysische tiefe und technische perfektion zu verbinden vermag, erscheint in diesem zusammenhang als alternative zur reinen technologie. denn »die Musik des / Lebens kommt aus / der Stille.« (‚Mili\Meta/Ebenen‘ in Letternmusik). bei thomas bernhard findet sich der gedanke, daß das gehör das philosophischste aller sinnesorgane sei.
im hörbuch Prægnarien, das in der Edition Das Labor erschien und hörbar macht, welches vortragstalent weigoni hat, entspricht die musik von philipp bracht (posaune) und frank michaelis (saxophon kunstübergreifend dem improvisierenden, und dabei teils auch ironischen, der sprachspiele und sprachexperimente, während der maler haimo hieronymus den höreindruck verbildlicht.
Einmal mehr Weigonis Sabotage des Signifikanten? – Nun, es ist mehr, zweierlei: die Preisgabe der kontextuellen Funktion und die des Wesen des Wortes.
Thomas Laux
weigonis texte sind ernst jandl und mauricio kagel nahe gerückt worden. manches verbindet ihn auch mit ror wolf, so die sprache als akteur und die hinterfragung und behandlung sprachlicher produkte als eigentlicher inhalt der literatur, die deformation und neuformation vorgefundener sprachformen und sprachinhalte, die reflexive und ironische distanz dem material gegenüber, montagetechniken, die hinwendung zur hörbaren literatur, bis hin zum akustisch experimentellen, eine jazzähnliche sprachliche improvisation, die thematisierung medialer wirkungen, einflüsse der filmkunst, die einbeziehung des profanen, populären, genrehaften und trivialen, ohne daß damit vordergründig populäre leseroderhörererwartungen bedient werden. auch korrespondenzen zu ernst jandl, franz mon, ferdinand kriwet, hans g. helms oder elfriede jelinek lassen sich finden.
literatur und letter gehören zusammen. der autor, der von »Papierwohnungen« weiß, (‚Bannkreis‘ in Letternmusik), fühlt sich unverändert mit dem buchdruck verbunden. man lese, wie er über die verletzbarkeit des papiers, der haut der gedruckten schrift, spricht, das die sprache bei veröffentlichungen trägt und ihn mit andern menschen, ja dem menschlichen überhaupt, verbindet: »Zwischen Mensch und Papier gibt es eine Intimität, eine geradezu körperliche Affinität. Papier ist dem Menschen ähnlich. Es ist schwach und altert. Der kleinste Unfall, und es reißt. Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, die der unsrigen nahekommt. Das Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt.« (VerDichtung). laut chinesischer überlieferung wurde papier von menschen erstmals im jahr 105 hergestellt.
Eine virtuelle Realität ist meiner Anschauung nach nur dann sinnvoll, wenn sie eine andere Art der Sinnlichkeit ermöglicht.
als die tiefsten und intensivsten texte und passagen empfinde ich jene, in denen sich, »auf / dem Weg vom Logos zum Eros.« (Vignetten) in Dichterloh), auch vom »Logos des Fleisches« (‚An der Demarkationslinie der Sprache‘ in Dichterloh) ist die rede, intellekt und sinnlichkeit, reflexionen und metaphern verbinden und miteinander verschmelzen. indem der autor körperliches erleben beschreibt und reflektiert, entdeckt er dessen teils verborgenen ausdruck in der sprache. umgekehrt werden sprachkörper, »lustlesewandelnd« (‚RAPSOdie‘ in Letternmusik), erotisiert. besonders in Letternmusik und Dichterloh sind, und zwar gerade obwohl die wahrnehmung mehr vom kopf her geschieht und der körper auch als lebendes material betrachtet wird, geistig sinnliche symbiosen von großer intensität und tiefe zu finden, mit denen der reflektierende intellekt sinnliche bedeutungen der worte freilegt.
Da der Mensch nicht mehr Natur ist, sollte er wenigstens in seiner Sprache so natürlich, so aufrichtig wie möglich sein, und eine gegenwärtige Sprache finden, die sich öffnet für das Mysterium der Dinge.
die dem griechischen philosophen longinus zugeschriebene schrift Über das Erhabene, die noch im 18. jahrhundert nachwirkte, postulierte die einheit aus natur und kunst: »Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschliesst.« heute fragen wir uns, ob »ein reines Schauen … ohne kuenstlichen Zauber« (‚Poeten der Tatsachen‘ in Dichterloh) überhaupt möglich sei. wirkliche naturlyrik gibt es sowieso kaum noch, zumindest in europa, sondern allenfalls kulturnaturlyrik. naturmetaphern beschreiben fast immer bereits menschlich angepflanzte, bearbeitete, produzierte und beeinflußte kulturnatur. natursymbole gleichen also mehr forstbäumen als waldbäumen. wir sind umstellt von naturattrappenundprothesen. der intellekt hat die seelen der menschen gepflastert wie der asphalt die erde der städte. dabei wurzelt symbolik, zumindest ursprünglich, ganz erheblich in der naturbeobachtung, auf die man ganze mythenkomplexe zurückführen kann.
Im Mythos finden wir die Spuren eines Schmerzes, der sich an ihren Abschied von den Höhlen, den Wäldern, den stillen Strömen knüpft.
ernst jünger schrieb über die menschen des altertums: »Im Mythos finden wir die Spuren eines Schmerzes, der sich an ihren Abschied von den Höhlen, den Wäldern, den stillen Strömen knüpft. Er gleicht dem unseren. Wie ein Echo davon kommt in der Spätantike das Gerücht vom Tode des großen Pan auf. Von dieser Trauer, die dem Verlust des Erd- und Naturgeistes gilt, ist auch Guèrins Le Centaure durchtränkt. Sie, und nicht die Sehnsucht nach im historischen Sinne abgelebten Zeiten, bildet den Kern der romantischen Philosophie. Auch gibt es keine Lyrik ohne diese Mnemosyne.« so gesehen bewahren natursymbole verlorene natur, oder zumindest die erinnerung daran, und bergen sie. »daß ein großer Teil aller Natur-Lyrik, besonders der Romantik, zu den Ausdrucksformen des Archetyps der Großen Mutter gehört.« erklärte der psychoanalytiker erich neumann. »und kommen ihnen zärtliche Regungen, so meinen die Dichter immer, die Natur selber sei in sie verliebt.« sagt nietzsches zarathustra.
A.J. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern.
Peter Maiwald
aufgrund der immer rasanter werdenden geschwindigkeit der technologischen prozesse brauchen wir mehr als zuvor die fähigkeit der geistigen vorwegnahme, zur voraussicht möglicher gefahren und zum entwickeln alternativer lösungsvarianten. bereits darstellungen der höhlenmalerei zeigen götter, die in wagen fahren. erst jahrtausende später sind die menschen so gefahren. schon leonardo da vinci hatte ein u-boot konstruiert. mondflüge geisterten jahrhunderte vor der realen raumfahrt durch die literatur. die phantasie ging also vielfach der technischen machbarkeit voraus. inzwischen hat sich das verhältnis umgekehrt und die geistig-ideellen prozesse bleiben hinterm tempo der technologischen zurück, wodurch letztere unter umständen unkalkulierbare wirkungen produzieren können.
Diese Letternmusik erinnert weniger an ein Buch, als eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Erarbietet an einem Notenpult hat dieser Lyriker jedes Wort stimmig auf den Rhythmus, die Materialität des Textflusses, die visuelle Interpretationen und seinen Klang geprüft. Lesen Sie diese szenische Lyrik als leises Spiel zum Hören: die Bretter, die die Welt bedeuten, knarren bei jeder Vorstellung.
Jürgen Diehl
in einem gedicht aus Letternmusik heißt es: »Meine Generation ist daran gescheitert / das Physische mit dem Intellektuellen zu verbinden.« »Die Kältetendenz rührt vom Eindringen der Physik in die moralische Idee.« schrieb ossip mandelstam. viele der texte weigonis beschreiben und reflektieren das spannungsfeld zwischen sinnlichkeit und technik sowie die zunehmende technisierung der sinnlichen wahrnehmung, die neue möglichkeiten menschlichen erlebens erschließt und zugleich verwerfungen verursacht. »Der Mensch, losgekettet von Religion und Humanismus, ist sein eigenes Produkt geworden, der Körper seine einzige Utopie. Nicht dem Sonnenstaat, sondern dem Astralkörper gilt die Sehnsucht; nicht Gedanken schaffen eine neue Welt, sondern Pharmazie und Chirurgie einen fortwährend sich erneuernden, in der Erneuerung sich zerstörenden Leib.« (VerDichtung). vielleicht ist die künstlichkeit der medienwelten nur der modische vorbote, die triviale ouvertüre, zur herstellung eines künstlichen menschen. wozu braucht man noch natürliche natur, denken heute schon viele, wenn man sie im zeitalter ihrer technischen reproduzierbarkeit als künstliche kaufen kann. womöglich stehen wir vor einem urknall der technologien, den kulturelle phänomene bloß einleiten und begleiten und der alle bisherige natur hinter sich zurückläßt.
Notate fürs Auge, adressiert ans Ohr. So schreibt kein anderer im deutschen Sprachraum.
Theo Breuer
im gedichtband Dichterloh, der sich unter anderem mit der sprache der neuen medien auseinandersetzt, läßt das gedicht ‚Zuegellos zukunftsorientiert‘ die vermutung anklingen, daß die technisierung auf paradoxe weise in animalisierungen umschlagen könne. die welt der medien funktioniert mehr noch als die wirkliche nach pawlowschen reflexen. führt uns das virtuelle zuletzt ins animalische zurück? descartes betrachtete tiere als automaten. »Wir tun alle Augenblicke etwas, das wir nicht wissen, die Fertigkeit wird immer größer, endlich würde der Mensch alles ohne es zu wissen tun und im eigentlichen Verstand ein denkendes Tier werden. Vernunft nähert sich der Tierheit.« hatte lichtenberg geschrieben. elias canetti prognostizierte, mit wachsender erkenntnis würden dem menschen die tiere wieder näher sein. wenn sie dann aber so nahe seien wie schon einmal in den ältesten mythen, werde es keine tiere mehr geben.
ein hauptfeld künftiger naturveränderungen scheinen die biotechnologien zu sein, mit denen gleichermaßen medizinische hilfe und körpermanipulation, chancen der lebenserweiterung und gefahren der lebenszerstörung verbunden sind. der mensch kommt bei seinen veränderungen der natur wieder an, wovon er einmal ausgegangen war, beim eigenen körper, der sich einst vielleicht ebenso vom natürlichen leib unterscheiden wird wie eine autobahn von einem trampelpfad. und je mehr der mensch automaten gleicht, umso stärker hat er das bedürfnis, wieder ganz tier zu werden. bis beide daseinsweisen ineinander aufgehn und eine neue barbarei daraus entsteht. die reaktionsweisen der computer ähneln schon animalischen instinktverhalten. man muß nur noch den menschen zwischenschalten.
Weigoni stellt mit einen Hörspiel unser Zeitempfinden und unsere Vorstellung von Identität auf die Probe. Der vielfach ausgezeichnete ungarisch-deutsche Schriftsteller und Medienpädagoge Weigoni schafft mit seinem Text, Papiergeräuschen und der Stimme von Bibiana Heimes eine Atmosphäre, die uns einem Gedanken ganz schnell auf den Pelz rücken lässt: wir sind alle Gefangene unserer selbst.
Buchpiloten, Radio Bremen
in den lyrikbänden Dichterloh und Letternmusik versucht weigoni die erlösung von erfahrungen der lebenswirklichkeit durch virtuelle neukompositionen und neukonstruktionen, die auch, nicht zuletzt durch sprache, indem dichtung zum medium der welterschaffung wird, gegenwelten formieren, und seien es nur »kleine Sinn-Inseln im Ozean des Unbegreiflichen« (‚Klangwerkzeug im Satzbaukasten‘ in Dichterloh). die gedichte nehmen erscheinungsformen und ausdrucksweisen moderner medienundkommunikationstechniken auf und transformieren diese, indem sie deren sprache spielerisch und virtuos verwenden und zugleich, mit aufklärerischem anspruch, kritisch reflexiv ihre funktionen hinterfragen. im band Parlandos / Langgedichte & Zyklen begegnet man etlichen seiner besten, und insbesondere sprachlich dichtesten, texte wieder.
Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.
(Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels)
weigoni hat ein gespür dafür, daß die mentale bewaffnung der individuen im konkurrenzkampf gegeneinander, die den bloßen egoismus siegen läßt, letztlich individualität zerstören und die verwertung menschlicher leistungen menschen entwerten kann. »Was nutzt uns alle Freiheit / wenn wir von der kommerziellen Verwertbarkeit / aller menschlichen Regungen / vollkommen umgeben sind?« (Unbehaust). die monodramen Unbehaust und Señora Nada beschreiben entfremdung, ideelle obdachlosigkeit und existentielle unsicherheit, die der autor wiederholt an frauenfiguren sichtbar macht. der satz »Überwältigende Fremdheit wird zum / Sinn des Aufbruchs.« in ‚Unbehaust‘ könnte andeuten, daß menschen gezielt entfremdet werden, weil dies fluchtbewegungen hervorruft, die dynamik erzeugen.
A text that alludes to Eliot’s Waste Land,was set to music by Tom Täger, using minimalist techniques and sound effects like the rustle of paper.
Judith Ryan · The Long German Poem in the Long Twentieth Century
Unbehaust, ein monolog der schwer kranken chinesischen einwanderin jo chang, zielt durch reflexive sprachbehandlung aufs wesentliche und vermeidet so allein schon stilistisch die monologische darstellung von bloß momentanen eindrücken und privaten befindlichkeiten. das bewußtsein der krankheit und das leiden an der zivilisation verschmelzen in der hellsicht der figur, die als physisch und psychisch versehrte spricht, was ihre sprache, bei aller sensibilität der wahrnehmung, teilweise hart und abstrakt macht. die emigrantin wird indes exemplarisch, indem sie die aufspaltung der realität in disparate erfahrungssphären und darin ihr eignes fremdsein besonders extrem und existentiell wahrnimmt, und damit auch die seelischen deformationen, komplexe, lebenslügen, fragmentierungen, orientierungslosigkeiten und desorientierungen der andern umso genauer erkennt. weigoni selber sucht nach kräften, die das ich wieder defragmentieren.
Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte. Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre. Dieses “Nachtstück” besticht nicht nur durch seine souveräne sprachliche Meisterschaft, sondern auch durch eine gedankliche Tiefe, die dichterisch facettenreich ausgelotet wird.
Axel Kutsch
die namensgebende figur aus Señora Nada, also nichts, betrachtet ihre wirklichkeit bewußt aus der distanz und nimmt sie doch, wie in einem reich zwischen alltagsrealität und traumhaftem erleben, hochsensibel wahr. bei ihr, die vielleicht eine utopische figur ist, möglicherweise sogar ein utopisches ich des autors selbst, hat man das gefühl, daß sie aufgrund ihres ganzheitlichen wahrnehmens vollkommen in sich ruht und gerade deshalb die zerrissenheiten ihrer lebenswelt sieht. mehr scheint derzeit kaum machbar. Kostenlose Menschlichkeit (hugo ball) ist immer weniger zu haben.
Zähes Schreiben nährt den Geist. A.J. Weigoni belohnt seine Leser mit Erkenntnisgewinn.
Mischa Kuball
der lyrikband »Schmauchspuren« von a.j. weigoni enthält gedichte aus den jahren 2005 bis 2015. der titel, der die spuren eines pistolenschusses assoziiert, läßt darüber nachdenken, ob die abdrücke des daseins in der literatur nicht ebenfalls schmauchspuren seien. ist der poet als macher und verfertiger zum verschmaucher und zerschmaucher geworden? bei weigoni heißt es: »der Bewusstseinsstrom versandet in einer / geistigen Mappe zwischen Erinnerungsflecken« und »das Eigentliche verstreicht beim Versuch / es im Bild zu bannen & auf magische Weise / am Verschwinden zu hindern«. das cover-motiv des original-holzschnitts von haimo hieronymus hat ebenfalls etwas schmauchendes.
»die Skepsis zum Lebensprogramm machen.« postuliert der autor. wer dem glück vertraut, ist noch nicht aufgewacht. viele textpassagen benennen desillusionierende erkenntnisse. »dass Freiheit / verloren ist: sobald man sie einsetzt.«, »Wahrheit gibt es nurmehr als Totalitæt des Geredes« oder »Tiefsinnsverweigerung weist auf / eine systematische Auswilderung.« hellsichtig beobachtet weigoni, daß der scheinbar freie mensch tatsächlich meist bloß rollen bedient, wobei es egal scheint, ob anpassungsrollen oder egorollen, weil beides sowieso ineinander übergeht, da der egoistische mensch zum angepaßten menschen wird und umgekehrt.
Wie immer höchste Komplexität, die ich an A.J. Weigoni schätze, weil sie eine Art bewegte Bewegerin ist.
Wer erzählt? – Vielleicht im Sinne von Mallarmé: Der Autor ist ein Element des Weltbuches, das ihn schreibt.
Wer verarbeitet? (Hindurchgang) – In diesem Sinne ist der Leser passage au passant u n d zugleich Medium des Werkes.
Wem gehört eine Geschichte? – Die Geschichte bleibt ein immaterielles Angebot und ist deshalb potenzielles “PräsenzGut” Aller.
Angelika Janz
immer wieder reflektieren die gedichte das spannungsfeld zwischen intellekt und empfinden. schmauchen kann auch genußvolles rauchen bedeuten. und genuß gelingt weigoni, dessen texte spielerisch illusionslos und illusionslos spielerisch sind, durch sein spiel mit worten und klängen. der klappentext nennt seine lyrik »eine fließende Sprachmusik aus Wahrnehmungsfragmenten.« die gedichte selbst erklären des dichters intentionen so: »das Schriftbild in den Klangleib fliessen lassen.« und »einen gravitationsfreien Schwebezustand anstreben.« sprachfluß und rhythmus führen hier zu einem fließen, das den strömungen des wassers ähneln, die nicht ohne strudel und untiefen bleiben und das wogende pulsieren in teils schmerzhafte rhythmik übergehen lassen, indem diese lyrik auf unebenem und kantigem untergrund fließt, in flußbetten, die durch heftige bewegungen eingegraben wurden und nie ganz geglättet werden.
andererseits findet man die fürsprache für eine entschleunigung der lebensformen und wahrnehmungen. »im Schritt-Tempo wird das Unterwegs-Sein / geographisch verortet & erweitert«. der autor sucht nach alternativen zu einer mit rasendem tempo und abrupten wechseln geistig und kulturell durchchoreographierten postmoderne: »in der Rumpelkammer des Realen / am Trauerrand der Erinnerung / zwischen Traum & Traumata / dem Klang des Quellwassers lauschen.« die drei hörbücher Schmauchspuren, Dichterloh, 1/4 Fund , die 2015 unterm gesamttitel »Gedichte von A.J. Weigoni« erschienen sind, bieten ein spektrum seiner sprachundsprechkunst, wobei das hörerlebnis zum lesen seiner bücher einlädt und anregt.
Die Gedichte sind sein eigentliches Hauptwerk.
Ulrich Bergmann
durch ihr sprachspiel haben weigonis gedichte mitunter etwas hieroglyphenhaftes, das der deutung bedarf. jacques derrida schrieb in »Die Schrift und die Differenz«: »Freud denkt zweifellos, der Traum bewege sich nach dem Vorbild einer Schrift fort, die die Wörter inszeniert, ohne sich ihnen zu unterwerfen; sicherlich denkt er hier an ein Schriftmodell, das gegenüber der Rede irreduzibel ist und das wie die Hieroglyphen piktographische, ideogrammatische und phonetische Elemente enthält.«
genau genommen sind die texte in »Schmauchspuren«, die motivisch und stilistisch miteinander verschmelzen, ein einziges gedicht. sie lassen sich indes auch als literarisch verdichtete analytische rede lesen, die gegenwärtige lebensformen bedenkt und kommentiert. weigonis lyrik ist bei allem sprachspielerisch strukturierten und musikalisch komponierten zugleich eine intellektuelle, weshalb man sie nicht ohne permanentes nachdenken, das heißt vorundzurückdenken, lesen kann.
Weigoni und Täger spüren der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach.
Christiane Schlüter, Buecher-Wiki
manche passagen klingen wie aufrufe zum handeln, so »aus der Zufriedenheitsfalle ausbrechen« oder »sich nach dem Peitschenknall der Erkenntnis / abseilen in die Dunkelheit / des gelebten Augenblicks.« im rhythmisierten tonfall gehen postulieren und konstatieren ineinander über. manche akteure einer apologetischen gesellschaft postulieren nur noch, was sie konstatieren können, und nennen dies realismus. bei weigoni ist im postulierenden ton oft auch die persiflage nicht weit. wer diese parodierende komponente, die bis zur selbstparodie reichen kann, nicht mitdenkt, wird seine literatur insgesamt nur unvollständig verstehen können.
weigoni wuchs in einer zeit auf, als kreativität vor allem verstöße gegen normen und konventionen verlangte. die klassische moderne war damals noch nicht so weit entfernt wie heute. so setzte er sich früh von älteren traditionen ab und versuchte nicht nur ein denken, sondern auch eine literatur ohne geländer, die zugleich denkprozesse und denktechniken sowie die dialektik der ambivalenzen und paradoxien reflektiert: »jeder Gedanke, den man zu Ende denkt / umfasst sein eigenes Gegenteil«.
Das ist natürlich schon eine starke Pose, mit der Andrascz Jaromir Weigoni auf dem Cover seiner von der Kunststiftung NRW geförderten vierteiligen CD-Edition mit Gedichten zu sehen ist: Langes wallendes Haar, konzentrierter Blick, die Falten treten deutlich hervor und die Finger sind wie beim Rezitieren kelchförmig geformt, als wollte er etwas Wichtiges auf den Punkt bringen. Nur das kurzärmlige Hemd im gedeckten Ton wirkt etwas neuzeitlich. Es erinnert, und da sind auch die Initialen, an Albrecht Dürer, mit der Jahreszahl 1500.
Steffen Tos (NRZ)
hugo friedrich hat wesentliche eigenarten moderner dichtung in seinem buch »Die Struktur der modernen Lyrik« beschrieben. in welcher richtung er die moderne sah, ahnt man schon, wenn man überschriften seiner kapitel und abschnitte liest, so »Traditionsbruch«, »Sprengung der Grenzen«, »Zerstörte Realität«, »Zerlegen und Deformieren«, »Ästhetik des Häßlichen« oder »Theorie des Grotesken und des Fragments«. seine grundthese lautet, moderne lyrik unterwandere normen und konventionen und sei überwiegend dunkel, hermetisch, vieldeutig, entgliedernd, fragmentarisch, paradox, absurd, ambivalent und dissonant. sie bilde nicht die wirklichkeit ab, sondern forme sie um und schaffe gegenwelten. die innere logik werde gegen die äußere gesetzt. das unbekannte sprenge das bekannte auf. mit entsprechenden techniken, etwa der demontage, geht weigoni bis heute über literarische zeitgeistmoden hinweg. seiner vorläufer ist er sich dabei bewußt. »Verdient haben nur wenige Autoren eine Anerkennung, finanziell und historisch, etwa die Kollegen von DaDa und Futurismus oder die Performer von Jazz meets Lyrics. Diese 5 % sind im Literaturbetrieb eher marginalisiert.« (Aus Ich möchte lieber nicht)
Mehr als 20 CDs mit Hörstücken und Hörspielen entstanden bis heute, erst in den letzten Jahren widmete sich A. J. Weigoni wieder stärker dem Buch. Als roter Faden zieht sich aber durch alles das Wortspiel, die kreative Auseinandersetzung mit der Sprache. Mit Witz und Esprit erforscht er neue Nischen und Unterschlupfe.
Enno Stahl, Heinrich Heine Institut
friedrich erklärte: »Das Weltverhältnis der Lyrik im 20. Jahrhundert ist mehrfacher Art. Doch bringt es das stets gleiche Ergebnis hervor: Entwertung der wirklichen Welt.«, »Die von der Gewalt der Phantasie entgliederte oder zerrissene Wirklichkeit liegt als Trümmerfeld im Gedicht.«, »Dies alles dient dem dunklen Ziel, in Dissonanzen und Bruchstücken eine Transzendenz anzudeuten, deren Harmonie und Ganzheit niemand mehr wahrnehmen kann.«, »Modernes Dichten ist entromantisierte Romantik.« »Seit RIMBAUD und MALLARMÉ ist der mögliche Adressat des Dichtens die unbestimmte Zukunft.«, und fragte: »Sind uns alle diese Dichter so weit voraus, daß noch kein gemäßer Begriff sie einholen kann und das Erkennen sich darum an jene negativen Begriffe halten muß, um einen Notbehelf zu haben?« auf eben solch unabgegoltenes und uneingelöstes greift weigoni zurück, der in einem brief schrieb: »Kulturell gesehen gibt es wenige bis keine Formen, die im 21. Jahrhundert entstanden sind oder nicht schon im 20. Jahrhundert hätten existieren können.« und »Innovation und Fortschritt sind nicht dasselbe. Die Fortschrittsidee mag Sinn haben in Bezug auf Politik oder Medizin, hat aber keine Verwendung in der Kultur.« die kunst entwickelt sich nicht geradlinig, sondern eher spiralförmig. und die müllkippen der kulturgeschichte halten viel material für kreative rückgriffe bereit, das man nur finden muß.
Das lange Gedicht ist, im gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch; denn es zeigt eine Gegenbewegung gegen Einengung in abgegrenzte Gebiete und Kästchen.
Walter Höllerer
pierre bourdieu schrieb in »Die Regeln der Kunst / Genese und Struktur des literarischen Feldes«: »Der Prozeß, der die Werke mit sich reißt, ist Produkt des Kampfes zwischen denen, denen aufgrund ihrer (Dank ihres spezifischen Kapitals auf Zeit) beherrschenden Position innerhalb des Feldes am Konservieren, das heißt an der Verteidigung der Routine und der Routinisierung, des Banalen und der Banalisierung, kurz: an der bestehenden symbolischen Ordnung gelegen ist, und denen, die zum häretischen Bruch, zur Kritik an bestehenden Formen, zum Sturz der geltenden Vorbilder und zur Rückkehr zu ursprünglicher Reinheit tendieren.«
Zum Langstreckenpoem aus dem Nachlass, das Holger Benkel als Typoskript vorlag:
der text, sozusagen ein digitaler abreißkalender, folgt mit 366 strophen der struktur der 12 monate und 366 tage des schaltjahres 2024. zu silvester heißt es illusionslos: »auf ein ungerechtes Leben folgt ein gerechter Tod«, ehe der text mit dem wort »Schweigen« endet, literarische wiederbelebungen nicht ausgeschlossen.
der gleichermaßen literarische und geistige text ist eine rhythmisierte montage von gedanken im mäandernden denken eines labyrinthgängers, ein sprechen in inversionen und emphasen. weigoni schafft wortfelder ohne satzenden, wandert durch sie hindurch und betreibt »eine unentwegte Suche nach einer Sprache der Sprachlosigkeit« die absätze stehen, indem sie unterbrochen werden und ineinander übergehen, zugleich in distanz und nähe zueinander. auf diese weise wird im laufe des textes vieles gesagte ergänzt, erweitert, relativiert.
der autor fordert: »den mikroskopischen als auch den teleskopischen Blick wagen«. georg christoph lichtenberg meinte: »Ein Mensch, dessen eines Auge ein Perspektiv«, also fernrohr, »das andere ein Mikroskop wäre, wird unter gewöhnlichen Menschen eine sonderbare Rolle spielen.«, theodor w. adorno: »Der Splitter in unserem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.« weigoni schreibt: »Die strengen Wortbilder zersplittern im Kaleidoskop der Farben« und »der Zerstücktheit der menschlichen Existenz entspricht eine implizite Poetik des Bruchstücks«.
worte und bilder zerspringen im gedicht wie die wirklichkeit. wir begegnen lebensrealen, analytischen, literarischen und bildlichen splitterungen und spaltungen, und deren übergängen. »Aufspaltungen sind das Strukturprinzip des Medienzeitalters.« »hypermoderne Aufzeichnungs- & Speichertechnik dokumentiert die Aufspaltung der Lebenswelten« »das Individuum wird durch Kommerzialisierung aller Träume zerschreddert« emile m. cioran bemerkte: »Modern sein heißt, am Ausweglosen herumbasteln.« helmut heißenbüttel, der im zweiten weltkrieg seinen linken arm verloren hatte, nannte sich als autor einen bastler.
karl kraus schrieb: »Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoffe. Was in der Sprache lebt, lebt mit der Sprache.«, »Der Sinn nahm die Form, sie sträubte und ergab sich. Der Gedanke entsprang, der die Züge beider trug.«, aber auch: »Der Analytiker macht Staub aus den Menschen.« der text spricht von einer »Wortmühle«. das analytische zermahlen der worte, besonders der begriffe, und zumal schlagworte, zu wortmehl oder wortmüll scheint nötig in anbetracht der realität. schon werden wieder festere strukturen gegen die aufspaltungen und auflösungen ersehnt. doch welche?
wenn ein gedicht intellektuell ist, dann dieses. der autor, studierter medienpädagoge, bei dessen lektüre man merkt, allein schon weil der text voller anspielender, versteckter und abgewandelter zitate steckt, wie sehr er sich mit strukturalismus und postmoderne beschäftigt hat, reflektiert sprache, bildwelten und medien sowie deren wirkungen, wobei das denkende und schreibende ich ebenfalls als medium sendet und empfängt. zugleich kann man das gedicht als selbstgespräch lesen, als einen geistigen inneren monolog, mit dem der autor, »Archäologe des Ich« und »Ethnologe des Alltags«, »auf eine Selbstentdeckungsfahrt« geht.
»Propagandisten der Desillusionierung haben die Gleichzeitigkeit im Blick« »Die geplante Planlosigkeit wird zum Konzept der Wirklichkeitbewältigung«, indem man improvisiert. susan sontag formulierte: »Das Gedächtnis ist eine Performance.« arthur schopenhauer fragte: »Wenn die ganze Welt eine Bühne ist, wer sind dann die Zuschauer?« wohl alle. weigoni beschreibt, wie der »hypermoderne Mensch« seine wirklichkeit in echokammern einer medialisierten welt erlebt und kaum erkennt. die »Hyperrealität« besteht mehr als je zuvor aus virtuellen und hypothetischen wirklichkeiten, bis hin, zuende gedacht, zum gewesenen menschen der postmoderne, der im nachhinein wie erfunden wirkt.
der autor denkt nach über ursachen und folgen von denkundverhaltensweisen, und zwar weit hinaus übers bloß private und zeitgeistige, also modische. elias canetti mahnte: »Wer den Zustand der Welt, in dem wir leben, nicht sieht, hat schwerlich etwas über sie zu sagen.« weigoni erkennt: »hypermoderne Menschen geben die distanzierte Auszenwahrnehmung zugunsten einer identifikatorischen Haltung auf \ Apokalypse nach innen = Kapitulation des Denkens«. »die hypermodernen Menschen haben sich versteinert… \ & in der Contenance eingerichtet \ unter dieser total individualisierten Lebenslage sind sie gezwungen \ sich für Selbststeigerungskapazitäten zu entscheiden…« »die hypermodernen Menschen stehen im Bann eines Glücksversprechens \ welches sich ihnen nicht offenbaren will«. aus der nicht-offenbarung gottes ist die nicht-offenbarung des glücks geworden. »das Kühlschranklicht bietet die einzichte Erleuchtung«
»stets muss sich der hypermoderne Mensch seines Körpers neu versichern / er scheint nurmehr als faszinierendes Kostüm der Seele zu baumeln«. tätowierungen auf der haut lassen sich mit graffitis an der wand vergleichen. beide markieren reviere. graffitis waren einmal subversiv, indem sie auf öffentlichen wänden sagten: »Das gehört uns!« heiner müller berichtete: »Die Wandbilder der Minderheiten und die proletarische Kunst der Subway, anonym und mit gestohlener Farbe, besetzen ein Feld jenseits des Marktes. Vorgriff aus dem Elend der Unterprivilegierten in das Reich der Freiheit, das jenseits der Privilegien liegt.«
heute sind tattoos reviermarkierungen hautmaskierter ich-marionetten, die rufen: »Hier bin ich!«, als ob das nicht klar wäre, und dafür präfabrizierte, zu deutsch vorgefertigte, zeichen, bilder und figuren, also (schnitt)muster, und damit schablonen, verwenden. englisch tattou heißt zapfenstreich, to tattou trommeln. französisch tatou bedeutet gürteltier. die tätowierten, früher seefahrer, binnenschiffer und strafgefangene, haben sich in menschliche gürteltiere der späten postmoderne verwandelt: ihre haut, ornament, dekor und etikette, ist eine gestochne gürtelrose.
weigonis gedanken haben einen programmatischen, postulierenden, theoretischen und utopischen ansatz und klingen teilweise wie aufrufe: »Haarrisse im Gefüge des Denkens vertiefen«, »hermetisch versiegelte Einheiten aufbrechen \ ein gegenalgorithmisches Verhalten entwickeln«, »zum analytischen Visionär des Rationalismus werden«, »Ironie als Gegengewicht zur Gravität«, doch auch zweifelnd: »die existenzielle Metamorphose macht wurzellos«, »auf die Himmelsgrotesken folgt der Höllensturz«. »Im Abgrund der Geschichte ist für alle Platz.«, vermerkte paul valéry. am ende ist mehr ironie, die auch makaber sein kann, das positive, das halt gibt, und weniger theorie.
der autor hinterfragt das uneingelöste und erkennt narrative, erfundene erinnerungen, die teils in algorithmen übergehn, und postulate, die vielfach aus legenden bestehn und verblenden können, was erneut den analytiker herausfordert. susan sontag schrieb 1996: »Die Zeit, in der wir leben, wird nicht als utopischer Moment erfahren, sondern als das Ende − genauer gesagt, als die Zeit unmittelbar nach dem Ende − jedweder Ideale. (Und deshalb auch als Ende der Kultur: wahre Kultur ist ohne Altruismus nicht möglich).«
wenn weigoni fordert: »in einer intellektuellen Selbsterbauungsnotwendigkeit der historischen Spur folgen«, als ob menschen aus der geschichte lernen würden, ausnahmen ausgenommen, und in langen historischen prozessen auch gemeinschaften, und »mit maximaler Sachlichkeit als Höhlenforscher der menschlichen Abgründe von der gegenwärtigen Gattungsbaustelle zu den Primaten zurückkehren.«, so klingt das ernst ironisch und ironisch ernst. der mensch ist biologisch eine affenart, die andere affenarten, und zuletzt womöglich sich selber, an den rand des aussterbens bringt.
dennoch spricht das gedicht, neben aller analyse, die es als gedächtnisarchäologie bietet, oft von hoffnungen, auch für eine weit in die zukunft hinein gedachte zeit. »Wer sich das Denken nicht verkümmern läßt, der hat nicht resigniert.«, wußte adorno. postulate, die häufig reale erfahrungen kompensieren, können utopische substanz enthalten und freisetzen, indem sie auf unerfülltes verweisen. »Veränderungen beginnen mit Verwandlungssehnsucht.« »neue Deutungsansätze bieten sich an \ um die Welt auf den Kopf zu stellen \ damit die Gedanken einen Bodensatz durch die Fusznoten bekommen…«. »Erfundenes bringt das verborgene Wirkliche ans Licht« »Das Ungeahnte spielt in den Zwischenräumen.«
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Wiederbelebungsmasznahme, ein Langstreckenpoem von A.J. Weigoni. Edition das Labor 2024
Der Schuber. Das lyrische Werk + ein Hörbuch mit den Gesamteinspielungen. Edition Das Labor, Mülheim 2017.
Schmauchspuren. Gedichte. Edition Das Labor, Mülheim 2015.
Parlandos, Langgedichte & Zyklen. Edition Das Labor, Mülheim 2013.
Dichterloh. Kompositum in vier Akten. Lyrikedition 2000, München 2005
Letternmusik. Gedichte. Rospo-Verlag, Hamburg 1995
Der lange Atem. Gedichte & Collagen 1975–1985, Verlag Die Schublade Nr. 19 (Zusammenarbeit Bundensring junger Autoren), Mettmann 1985.
→ A.J. Weigoni geriet nie in die Nähe des Verdachts, eine Autobiographie zu schreiben. Daher versteht KUNO diese essayistische Hinterlassenschaft des Ohryeurs als Liebeserklärung an den Hörsinn.
→ VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.
→ Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.