1
Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,
Und, mit Fakeln geschmükt, rauschen die Wagen hinweg.
Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäfftige Markt.
Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vieleicht, daß
Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann
Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen
Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.
Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Gloken,
Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
Jezt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.
2
Wunderbar ist die Gunst der Hocherhabnen und niemand
Weiß von wannen und was einem geschiehet von ihr.
So bewegt sie die Welt und die hoffende Seele der Menschen,
Selbst kein Weiser versteht, was sie bereitet, denn so
Will es der oberste Gott, der sehr dich liebet, und darum
Ist noch lieber, wie sie, dir der besonnene Tag.
Aber zuweilen liebt auch klares Auge den Schatten
Und versuchet zu Lust, eh′ es die Noth ist, den Schlaf,
Oder es blikt auch gern ein treuer Mann in die Nacht hin,
Ja, es ziemet sich ihr Kränze zu weihn und Gesang,
Weil den Irrenden sie geheiliget ist und den Todten,
Selber aber besteht, ewig, in freiestem Geist.
Aber sie muß uns auch,daß in der zaudernden Weile,
Daß im Finstern für uns einiges Haltbare sei,
Uns die Vergessenheit und das Heiligtrunkene gönnen,
Gönnen das strömende Wort, das, wie die Liebenden, sei,
Schlummerlos und vollern Pokal und kühneres Leben,
Heilig Gedächtniß auch, wachend zu bleiben bei Nacht.
3
Auch verbergen umsonst das Herz im Busen, umsonst nur
Halten den Muth noch wir, Meister und Knaben, denn wer
Möcht′ es hindern und wer möcht′ uns die Freude verbieten?
Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maas,
Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden,
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.
Drum! und spotten des Spotts mag gern frohlokkender Wahnsinn,
Wenn er in heiliger Nacht plözlich die Sänger ergreift.
Drum an den Isthmos komm! dorthin, wo das offene Meer rauscht
Am Parnaß und der Schnee delphische Felsen umglänzt,
Dort ins Land des Olymps, dort auf die Höhe Cithärons,
Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo
Thebe drunten und Ismenos rauscht im Lande des Kadmos,
Dorther kommt und zurük deutet der kommende Gott.
4
Seeliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle,
Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört?
Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge,
Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!
Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,
Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?
Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?
Delphi schlummert und wo tönet das große Geschik?
Wo ist das schnelle? wo brichts, allgegenwärtigen Glüks voll
Donnernd aus heiterer Luft über die Augen herein?
Vater Aether! so riefs und flog von Zunge zu Zunge
Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein;
Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,
Wirds ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt
Vater! heiter! und hallt, so weit es gehet, das uralt
Zeichen, von Eltern geerbt, treffend und schaffend hinab.
Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so
Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag.
5
Unempfunden kommen sie erst, es streben entgegen
Ihnen die Kinder, zu hell kommet, zu blendend das Glük,
Und es scheut sie der Mensch, kaum weiß zu sagen ein Halbgott,
Wer mit Nahmen sie sind, die mit den Gaaben ihm nahn.
Aber der Muth von ihnen ist groß, es füllen das Herz ihm
Ihre Freuden und kaum weiß er zu brauchen das Gut,
Schafft, verschwendet und fast ward ihm Unheiliges heilig,
Das er mit seegnender Hand thörig und gütig berührt.
Möglichst dulden die Himmlischen diß; dann aber in Wahrheit
Kommen sie selbst und gewohnt werden die Menschen des Glüks
Und des Tags und zu schaun die Offenbaren, das Antliz
Derer, welche, schon längst Eines und Alles genannt,
Tief die verschwiegene Brust mit freier Genüge gefüllet,
Und zuerst und allein alles Verlangen beglükt;
So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit Gaaben
Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht.
Tragen muß er, zuvor; nun aber nennt er sein Liebstes,
Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.
6
Und nun denkt er zu ehren in Ernst die seeligen Götter,
Wirklich und wahrhaft muß alles verkünden ihr Lob.
Nichts darf schauen das Licht, was nicht den Hohen gefället,
Vor den Aether gebührt müßigversuchendes nicht.
Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen,
Richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf
Untereinander und baun die schönen Tempel und Städte
Vest und edel, sie gehn über Gestaden empor –
Aber wo sind sie? wo blühn die Bekannten, die Kronen des Festes?
Thebe welkt und Athen; rauschen die Waffen nicht mehr
In Olympia, nicht die goldnen Wagen des Kampfspiels,
Und bekränzen sich denn nimmer die Schiffe Korinths?
Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater?
Warum freuet sich denn nicht der geweihete Tanz?
Warum zeichnet, wie sonst, die Stirne des Mannes ein Gott nicht,
Drükt den Stempel, wie sonst, nicht dem Getroffenen auf?
Oder er kam auch selbst und nahm des Menschen Gestalt an
Und vollendet′ und schloß tröstend das himmlische Fest.
7
Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,
Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.
Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,
Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.
Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,
Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.
Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsaal
Hilft, wie Schlummer und stark machet die Noth und die Nacht,
Biß daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen,
Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind.
Donnernd kommen sie drauf. Indessen dünket mir öfters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn,
So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen,
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?
Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,
Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.
8
Nemlich, als vor einiger Zeit, uns dünket sie lange,
Aufwärts stiegen sie all, welche das Leben beglükt,
Als der Vater gewandt sein Angesicht von den Menschen,
Und das Trauern mit Recht über der Erde begann,
Als erschienen zu lezt ein stiller Genius, himmlisch
Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet′ und schwand,
Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen und wieder
Käme, der himmlische Chor einige Gaaben zurük,
Derer menschlich, wie sonst, wir uns zu freuen vermöchten,
Denn zur Freude, mit Geist, wurde das Größre zu groß
Unter den Menschen und noch, noch fehlen die Starken zu höchsten
Freuden, aber es lebt stille noch einiger Dank.
Brod ist der Erde Frucht, doch ists vom Lichte geseegnet,
Und vom donnernden Gott kommet die Freude des Weins.
Darum denken wir auch dabei der Himmlischen, die sonst
Da gewesen und die kehren in richtiger Zeit,
Darum singen sie auch mit Ernst die Sänger den Weingott
Und nicht eitel erdacht tönet dem Alten das Lob.
9
Ja! sie sagen mit Recht, er söhne den Tag mit der Nacht aus,
Führe des Himmels Gestirn ewig hinunter, hinauf,
Allzeit froh, wie das Laub der immergrünenden Fichte,
Das er liebt, und der Kranz, den er von Epheu gewählt,
Weil er bleibet und selbst die Spur der entflohenen Götter
Götterlosen hinab unter das Finstere bringt.
Was der Alten Gesang von Kindern Gottes geweissagt,
Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists!
Wunderbar und genau ists als an Menschen erfüllet,
Glaube, wer es geprüft! aber so vieles geschieht,
Keines wirket, denn wir sind herzlos, Schatten, bis unser
Vater Aether erkannt jeden und allen gehört.
Aber indessen kommt als Fakelschwinger des Höchsten
Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab.
Seelige Weise sehns; ein Lächeln aus der gefangnen
Seele leuchtet, dem Licht thauet ihr Auge noch auf.
Sanfter träumet und schläft in Armen der Erde der Titan,
Selbst der neidische, selbst Cerberus trinket und schläft.
Brod und Wein ist eine Elegie von Friedrich Hölderlin, mit 160 Versen die umfangreichste der sechs großen Elegien und zugleich eines der berühmtesten Gedichte Hölderlins überhaupt. Schon Norbert von Hellingrath meinte zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „es wird immer die beste Grundlage bleiben zum Eindringen in Hölderlins Gedankenwelt.“
Das Gedicht wurde wahrscheinlich im Winter 1800/1801 vorläufig fertiggestellt, später aber nochmals überarbeitet. Schon der erste Entwurf zur Elegie ist dem 26 Jahre älteren Schriftsteller Wilhelm Heinse gewidmet („An Heinze“), den Hölderlin im Juli 1796 kennengelernt hatte, als er sich mit Susette Gontard auf der Flucht vor den französischen Truppen in Kassel aufhielt. Die Widmung bezeugt also die Hochschätzung des väterlichen Freundes und seines Romans „Ardinghello“, enthält aber auch einen versteckten biographischen Hinweis auf „Diotima“, die Geliebte Susette Gontard.
Die Elegie trug im ersten Entwurf und in der ersten Reinschrift noch den Titel „Der Weingott“, erst in den Überarbeitungen erscheint auch die neue Überschrift „Brod und Wein“, die im Zusammenhang mit einer neuen Akzentsetzung steht: Zunächst war das Gedicht ganz auf Dionysos ausgerichtet, erst später wird es an entscheidenden Stellen so umgedichtet, dass eine Doppelsinnigkeit entsteht, die auf Dionysos und Christus zugleich verweist.
Hölderlin hat das Gedicht aber nie zum Druck gegeben. Nur die erste Strophe wurde von Leo von Seckendorf nicht autorisiert im „Musenalmanach für das Jahr 1807“ unter dem Titel „Die Nacht“ herausgegeben. Diese Strophe beeindruckte Clemens Brentano so nachhaltig, dass er urteilte:
Niemals ist vielleicht hohe betrachtende Trauer so herrlich ausgesprochen worden. […] Ich halte sie (= „Die Nacht“) für eines der gelungensten Gedichte überhaupt. Es ist diese eine von den wenigen Dichtungen, an welchen mir das Wesen eines Kunstwerkes durchaus klar geworden.
Das ganze Gedicht blieb dagegen bis Ende des 19. Jahrhunderts unbekannt. Es wurde erstmals 1894 in einer kleinen Biographie publiziert, aber dem Vergessen entrissen wurde es erst – so wie Hölderlins Gedichte überhaupt – dank der Herausgabe der Werke Hölderlins durch Norbert von Hellingrath zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab Friedrich Beißner dann das Gedicht in der Form heraus, in der es bis heute meist gedruckt und zitiert wird. In den 70er Jahren begann die Frankfurter Ausgabe zu erscheinen (der 6. Band, in dem die Elegien enthalten sind, erschien 1976), in der die Handschriften als Faksimiles und in Umschrift veröffentlicht wurden, so dass zum ersten Mal die gesamten Korrekturen und Veränderungen, die Hölderlin an dem Gedicht vornahm, also die verschiedenen Textstufen sichtbar wurden. Schon Beißner hatte im Anhang seiner Ausgabe auf einige „Lesarten“ aufmerksam gemacht, aber erst durch die Frankfurter Ausgabe entbrannte die Diskussion um den Stellenwert der einzelnen Fassungen und die Aufmerksamkeit wurde auf die sogenannte Spätfassung der Elegie gelenkt. Da aber eine Abschrift der letzten Überarbeitung nicht erhalten ist, bleibt offen, wie sie aussah und wie die späteren Korrekturen zu bewerten sind. Die Meinungen der Germanisten dazu gehen auseinander: D.E. Sattler und Wolfram Groddeck konstruieren in der Frankfurter Ausgabe aus dem Text und den Korrekturen eine letzte Fassung, und Groddeck ist in seiner Studie von 2012 der Meinung, dass in den späten Eingriffen „ein radikaler Revisionsprozess zu erkennen [ist], der den Textbestand der Reinschrift nicht sosehr weiterentwickelt, sondern in gewisser Weise dekomponiert“. Sein Interesse gilt ganz der Spätversion der Elegie, dem „‘hypothetischen Text‘, als dem Surrogat der verschollenen Druckvorlage für die definitive Spätversion der Elegie“. Jochen Schmidt argumentiert dagegen, dass Hölderlin die späteren Änderungen „in ganz anderem Stil und z. T. auch mit ganz anderer Konzeption eingetragen hat“ – darin kommt er Groddecks späterer Haltung durchaus nahe –, folgert daraus aber, dass sie deshalb „nicht mit den Partien des ursprünglichen Textes zu einer neuen ‚Fassung‘ verbunden werden“ könnten.
In der zweiten Reinschrift hat die Elegie eine kompositorisch vollkommene Form erreicht. Sie besteht aus neun Strophen, von denen je drei eine Einheit bilden, also aus drei Strophentriaden (3 × 3 Strophen), und jede Strophe enthält wiederum 3 × 3 Distichen. Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass das Gedicht ein Distichon zu wenig hat, es umfasst statt der zu erwartenden 81 nur 80 Distichen. Schmidt sieht darin ein Versehen Hölderlins, während Groddeck eine tiefergehende Absicht Hölderlins vermutet, denn das fehlende Distichon betrifft gerade diejenige Strophe, „wo der Mangel der götterfernen Gegenwart am direktesten ausgesprochen wird, die siebte. […] Der formal-kompositorische ‚Mangel‘ kann daher durchaus auch als ein formsemantisches Indiz gelesen und gedeutet werden, indem die Elegie ‚ideal‘ 81 Distichen enthält, ‚real‘ aber nur.“
In der ‚idealen‘ Komposition beruht die gesamte Text-Architektur nicht nur auf der Drei-, sondern auch auf der Zweizahl: Die Distichen bestehen aus zwei Versen zu je zweimal drei Versfüßen. Zugleich hat „jede Strophe […] neben der triadischen Form auch eine hälftige Struktur, indem im fünften Distichon bzw. im Übergang vom neunten zum zehnten Vers die Möglichkeit einer Sinnzäsur oder einer Sinnzentrierung gegeben ist.“ Außerdem befindet sich genau in der Mitte des Gedichts eine bedeutsame Aussage, die ebenfalls eine entscheidende Zäsur markiert.
In der Elegie geht es um die Abwesenheit und die Vergegenwärtigung des Göttlichen in der Welt. Sie ist eine Klage um den Verlust von erfülltem Leben in einer entfremdeten Welt und zugleich eine hymnische Feier dessen, „was den Menschen überragt, das Erhabene in der Natur, in der Gemeinschaft und der Liebe, letztlich ist es das Göttliche“.
Das Gedicht wird durchzogen vom Gegensatz zwischen Tag und Nacht, der sich zunächst ganz real auf den Wechsel der Tageszeiten bezieht. Doch dann geht die Tag-Nacht-Thematik ins Metaphorische über und bezieht sich auf den geschichtsphilosophischen Gegensatz von gotterfüllter und götterloser Zeit: Die Nacht wird zur unerfüllten geschichtlichen Gegenwart und der Tag steht einerseits für die glanzvolle, erfüllte Zeit der griechischen Antike und andererseits für eine ersehnte zukünftige Zeit der Erfüllung, in der Gegenwart und Vergangenheit dialektisch verbunden und in neuer Einheit aufgehoben sind. Die Elegie führt von der Erfahrung der gegenwärtigen Nacht, die aber in sich schon die Möglichkeit der Erinnerung birgt, in der ersten Strophentrias (Strophe 1 – 3) zur Vergegenwärtigung des griechischen Tags in der zweiten Strophentrias (Strophe 4 – 6) und mündet in der dritten Strophentrias erneut in der Nacht, diesmal als einer Zeit der Erwartung und inneren Vorbereitung auf die ersehnte Zeit der Erfüllung.
Mit der Tag-Nacht-Metaphorik und ihrem geschichtlichen Sinn verbinden sich zwei Empfindungen: Trauer und Freude, die zugleich auch Schlüsselbegriffe des Gedichts sind. Diese zwei Empfindungsarten wechseln im Gedicht häufig, also auch innerhalb der Strophen, je nachdem, um welche geschichtsphilosophische Epoche es geht und welche Haltung der Sprechende gerade einnimmt. So verschränkt die Elegie also den elegischen Ton im engeren Sinn, die Trauer, mit der Freude über die (zugleich imaginierte und erlebte) Gegenwart des Göttlichen, also mit dem hymnischen Ton.
Im Zentrum des Gedichts steht die Gestalt des Dionysos, des Weingotts in der griechischen Mythologie. Der ursprüngliche Titel lautete Der Weingott. Dionysos ist auch der Gott der Nacht, der dionysischen Begeisterung, des inspirierten Wahnsinns, der Gott der Dichter und der Freudengott. Er erscheint zum ersten Mal in der 3. Strophe als der „kommende Gott“ (V. 54). In der 2. Strophentrias (4. – 6. Strophe) weitet sich der Blick auf die griechischen Götter der Antike insgesamt, die als Himmlische (V. 55, 71, 81, 95) und als selige Götter (V. 91) benannt werden. Am Ende der 6. Strophe wird dann zum ersten Mal auf Christus angespielt, später auch in den Versen 129/130, und in der Schlussstrophe verschmilzt die Dionysos-Gestalt mit der des Christus (V. 155/156). Dieser allumfassende Gott hinterlässt den Menschen die Gaben Brot und Wein, als tröstliches Zeichen (V. 131) seiner Gegenwart.
Die Begriffe Brot und Wein symbolisieren nicht nur die Bestandteile des Abendmahls in der christlichen Liturgie, sondern auch die Gaben der Demeter und des Dionysos. Christliche und antike Konnotationen werden miteinander verschränkt.
***
Weiterführend → Ulrich Bergmann hat das Stück „Der Tod des Empedokles“ neu gelesen und fand ein Gedicht.
→ Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.
→ Lesen Sie auch Friedrich Hölderlins Essay Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes
→ Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.