Schullektüre

„Ich bin ein Mensch wie Einstein / Entwurzelt / In einem fremden Land liege ich im Krankenhaus / Und eines Nachts / erzähle ich aus Versehen / etwas in meiner Muttersprache / Mit der Bitte / Versucht mich zu verstehen /Versucht meinen Schmerz zu verstehen / Versucht meine blauen Seufzer zu verstehen / Sonst sterbe auch ich nach Mitternacht.“

Der aus Bangladesch stammende Zahrad Islam Babul, seit 1988 in Bremen lebend, greift in seinem Gedicht „Muttersprache“ in der vorliegenden Anthologie einen doppelten Aspekt vom entwurzelten Leben in der Fremde auf. Es ist die Rückkehr zur Muttersprache in der Stunde ihres drohenden Verlusts und die Wiedergewinnung des Lebens in einer anderen Heimat, dem schmerzhaften Exil, in dem alle Verfasser/innen der vorliegenden Anthologie leben. Sie haben vorwiegend unter der Anleitung und Betreuung von Angelika Sinn im Rahmen einer Schreibwerkstatt des Bremer Literaturkontors im Jahr 2017 Texte gestaltet, in denen nicht nur ihre leidvollen Erfahrungen auf der Flucht vor Kriegen und Verfolgungen aufgezeichnet sind. Vielmehr sind es tief empfundene Kindheitserlebnisse, die beim ersten aufmerksamen Lesen des übersichtlich gestalteten Text-Bild-Band berühren. Sie stammen aus der Feder des in Caracas (Venezuela) geborenen Ernesto Salazar-Jiménez, der bildhaft-einprägsam über Visionen von seiner Geburt schreibt. Mila Chami, die aus Homs in Syrien nach Deutschland geflüchtet ist, singt ihrer Schwester ein Hohelied auf die Liebe und der im Iran geborene, seit 2016 in Bremen lebende und studierende Saber Lafiti, schreibt eine wunderbar einprägsame Kindheitsgeschichte über seinen Opa. Überhaupt spielen die erinnerten Erlebnisse aus der behüteten Kindheit auch für andere Teilnehmer/innen der Schreibwerkstatt eine wichtige Rolle. Da plaudert Farhan Hebbo, der vor vier Jahren nach Deutschland gekommen ist, „Aus Omas Nähkästchen“ und erinnert sich an den großen Spielplatz, auf dem er einst Fußball gespielt hat. Und der aus der östlichen Türkei stammende Kurde Salman Nurhak, der seit 1991 in Deutschland, vornehmlich in Bremen, lebt, berichtet über eine feierliche Begegnung zwischen Muslimen und Aleviten, deren Alltag einst und immer wieder von heftigen Spannungen geprägt war und ist.

Die Beiträge zweier Autoren zeichnen sich durch besonders eindrucksstarke Erinnerungen an ihre Geburtsländer aus: Die aus Chile stammende, seit rund fünfundvierzig Jahren vornehmlich in Bremen lebende Ökonomin und renommierte Künstlerin Rosa Jaisli und der aus Teheran stammende Madjid Mohit, der seit dreißig Jahren den Bremer Sujet-Verlag leitet. Beide wuchern in ihren Naturstudien und Bildern aus der Kindheit so eindrucksvoll mit ornamentalen Eindrücken aus ihrer Kindheit, dass dem Leser gleichsam neidvolle Erinnerungen an die eigenen, sicherlich weitaus nüchternen Kindheitstage angetragen werden.

Zweifellos hinterlässt der Text-Bild-Band mit den Phantasie fördernden Illustrationen von Tarlan Mirshekari viele rührende Eindrücke, ruft blitzartig Gefühle der Solidarität hervor, versetzt den aufmerksam Mitlesenden in eine harmonische Stimmung, lenkt ihn ab von den bitteren Erfahrungen, die Autorinnen und Autoren der Anthologie während ihrer Zwischenaufenthalte gesammelt haben. Umso wunderbarer dürfte das Erlebnis der an der Schreibwerkstatt Beteiligten sein, dass sie Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Lebenserfahrungen mit dem Ziel aufschreiben, um „ihre Identität in die Kommunikation mit ihren neuen Mitmenschen“ einzuüben, wie es Prof. Dr. Sautermeister in seinem Vorwort formuliert. Ebenso erfreulich ist es auch, dass an dieser Anthologie eine Reihe Bremer Institutionen und Stiftungen beteiligt sind, die ein Anliegen gefördert haben, das den mühevollen Prozess der Mitgestaltung und Integration von einst vor Krieg und Vernichtung geflüchteten Mitmenschen unterstützt.

 

 

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So nimmt man das Leben mit, Angelika Sinn (Hg.) sujet verlag 2019