literatur und tod
d literatur, des wisz jo
ist a gaunz a diaffs grob
wo kaana drin waas
ob a jemoes a r aufaschdehung hod
Ernst Jandl
arnikabläue ∙ aber annette ∙ ausgerottete augn
Freunde aus Kindertagen wundern sich jedes Mal, wenn wir uns denn, alle paar Jahr, eher zufällig einmal treffen, über mein »photographisches Gedächtnis« (wie Kraus es nennt), sie lachen, raunen, schäkern, wenn ich ihnen haarfein Situationen schildre, in denen sie einst die Hauptroll spielten und die sie völlig vergessen haben. 27. März 2015. Während ich in der von Jo Lendle (mit Co-Herausgeber) edierten ›Neuerfindung‹ der Akzente blättre, in der er es b∙u∙c∙h∙s∙t∙ä∙b∙l∙i∙c∙h sehcilgömnu zu lesen gibt, we start to have this panicked feeling (Mira Gonzales), scheint die Welt, Griechenland/Irak/Jemen hin, Nigeria/Syrien/Vanuatu her, aus nichts als einem in den französischen Alpen abgestürzten Flugzeug zu bestehn. Ich blend mich radikal raus aus dem medial grellgeblendeten ›Zeit‹-Geschehn (›Zeit‹ sei k/eine Illusion, murmelts, maliziös?, hinterm Rücken), leg eine andre Filmroll ein : Sonntag, 3. April 2005. Übermütiger Sonnenschein, tollkühner Wind schon den ganzen Tag. Nachmittäglicher Zweifelgang von Sistig über Steinfeld nach Urft runter, an der Post wendend, zurück den steilen Berg nach Steinfeld rauf, wo Peer Quer mich an der Einfahrt zum Kloster mit seiner Rostlaub abholt. Motorräder überholen dröhnend, auf der Krekeler Höh schütteln Osterglocken glühende Köpf.
unbekannt und unbewältigt
Nach der exorbitanten Tasse Darjeeling seh ich mich im angestammten Sessel sitzen, weiterlesen in Dieter Fortes Haus auf meinen Schultern, der Romantrilogie, die den 2. Weltkrieg, insbesondre den Luftkrieg aus Sicht der Bevölkerung schildert. Ein Buch, von dem W. G. Sebald behauptet, es existiere nicht. Während ich die Wörter aufnehm, die sich im Kopf zu Bildgetös verformen, blick ich bisweilen hoch, betracht im Garten blühende Blumen, Narzissen, Osterglocken, Primeln, beobacht das Schattenspiel von Ästen, Stämmen, Zweigen der Eberesch, des Bergahorns. Das Bild des am Vorabend verstorbnen Papstes scheint unvermittelt vorm geistigen Aug auf (im blinden Fleck : Bomben im Irak, in Thailand, Marburg-Virus in Angola). Ich wart auf das Schlußresultat des Fußballspiels der Münchner Löwen gegen die Kölner Geißböcke, hier geht’s, am 27. Spieltag, um den Aufstieg in die Bundesliga. Ich les : Am anderen Morgen, als alle den Raum verließen, lag er immer noch da und bewegte sich nicht und starrte in den Himmel und war tot. Der Junge sah noch lange diesen dunklen, bewegungslosen Klumpen, für den sich keiner interessiert hatte, das Lied und den schreienden Gesang vergaß er nie mehr. Kurz zuvor wird Louis Armstrong erwähnt (die Amerikaner sind in das Städtchen einmarschiert), und ich such die CD raus, um C’est si bon zu hören. Sekunden später, gegen halb fünf, klingelts Telefon (was selten ist an einem Sonntagnachmittag). Ich leg das Buch auf den Tisch, drück die Stoptast am Player. Das Display auf dem Hörer verrät nichts außer : Unbekannt. Ich meld mich, hör unvermittelt die Stimm von Axel Kutsch. Ich halt den Film an, katapultier mich zurück zum 27. März 2015, greif nach Friederike Mayröckers 2005 erschienenen Gesammelten Gedichten, find schnell das Gedicht, das ich such :
Lilien auf die Brust gemalt /
für Thomas Kling
in den Haaren die Lindenbaumfächer
nordafrikanischer Knötchenfrucht
springen im funkelnden Wind nämlich
zu Boden geschüttelt vom zaubrischen
Schopf oder Duft oder Hölderlins Jugendlocke
oder es steigt ein Hündchen schwammig
ins herbeigerufene Taxi
oder es stehen weisze Tennisschuhe zum Trocknen
in der Sonne am offenen Fenster
oder man liegt ausgestreckt mit wächsernen
Ohren auf einer Bank im Halbschatten des Baumes
welcher die Herzschläge zählt
/ einer heiligen Caterina von Siena
mit dem Lilienstab vor den weiszen, vor den
halbgeöffneten Augen
sehschlitze ∙ sektionsergebnis ∙ stimmen
Der Film läuft weiter, ich seh, wie ich mich wundre, Kutsch und ich haben doch erst tags zuvor lange miteinander gesprochen. Mir ist klar, daß er anruft, um etwas Außerordentliches mitzuteilen. Ich rechne, gern schon mal hoffnungslos optimistisch, mit einer guten Botschaft, hör nach kurzer Begrüßung : »Thomas Kling ist tot.« Kutsch hats von Markus Peters erfahren. An Karfreitag, eine gute Woch zuvor erst, haben wir stundenlang beisamm’ gesessen und, begeistert, über Thomas Kling bzw. dessen gerade erschienenes Buch Auswertung der Flugdaten gesprochen, intensiv, ja, berauscht über ein Buch gesprochen, das sich im ersten Kapitel so radikal mit dem Tod auseinandersetzt – und jetzt diese Mitteilung. Ein Schlag vor den Kopf. Wir reden, in Gedanken irgendwo und sehr weit weg, über Thomas Kling, zählen ihn zu den Vorreitern der Lyrik der letzten 20 Jahre, flüchten in Floskeln, faseln von herbem Verlust usw. (Ich weiß, ich weiß, Herr Wittgenstein, die Wörter versagen : Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.) Wir beenden das Gespräch nach weniger als vier Minuten.
warnun’! ∙ wasserstandsbericht ∙ wespen ∙ wespen 2 ∙ wespen 3
Ein Vers kann sich wie gereimt anhören, ohne daß er einen Reim hat, fällt Eckermann auf, und Goethe weiß natürlich, wann das der Fall ist : Es liegt im Rhythmus. Thomas Kling geht einen großen Schritt weiter, indem er kategorisch jede wie auch immer schwindelweichgespülte Alternativ ausschließt : Gedichte sind immer vom Rhythmus geprägt, sonst sind es keine Gedichte. – – – Am Sonntag, dem 23. Mai 2010, steh ich, berauscht von Marino Formentis Klavierkonzert Kurtág’s Ghosts, vor Thomas Klings Haus auf der Raketenstation Hombroich. Nie bin ich ihm persönlich begegnet, wir haben nicht einmal telefoniert, einander einen Brief geschrieben. Christina Döring im Gespräch mit Enno Stahl :
„Thomas Kling war ein sehr impulsiver, ein, das wissen wir, liebenswerter, geradezu zärtlicher Autor, sowohl im Umgang mit nahezu täglichen Anrufen, Telefonaten, Erkundigungen nach dem Wohlbefinden, dem Durchsprechen von Kritiken, Büchern anderer Autoren, das Sichten sozusagen der Konkurrenz, das auf der einen Seite. Nehmen wir sein Schreiben, den Schreibprozess, das Entstehen seiner Manuskripte, so war er hier ein Lyriker, mit dem man auch sehr leicht umgehen konnte, in dem Sinne, dass er aller Kritik gegenüber sehr aufgeschlossen war, sehr hellhörig war. Und er hat niemals um ein Gedicht gestritten, wenn ich der Meinung war, das passt hier nicht rein, oder das fällt ab oder das ist schwächer.“
Mitte der 1990er Jahre beginnt die wortwährend intensiver gewordene Auseinandersetzung mit dem Werk Thomas Klings, die in der Zeit jener ersten Annäherung Raufen und Ringen um jeden wörtlichen Geländegewinn bedeutet. Das Bitzeln, Kribbeln, Prickeln, das ich heut mehr denn je beim Lesen Klingscher Gedichte erleb, war von Beginn an da. Grund genug, am Ball zu bleiben – eben wegen der eckn kantn, der anmut und rohheit in stückn, die die Gedichte Thomas Klings auf so markante Art kennzeichnen. Olaf H. Hauge, der Norweger, schreibt 1948 ins Tagebuch (das Anfang 2015 in Klaus Anders’ Übertragung als Mein Leben war Traum ∙ Aus den Tagebüchern 1924-1994 in der Edition Rugerup erscheint) : Ein Lyriker soll seinen Blick nicht auf die Leser richten, sondern auf ein Maß, das wir nicht kennen, er soll immer weiter gehen, obwohl ich ihn mir gut als einen Kommenden denken kann. Was ich meine: Er soll nicht in die Runde schauen, auf die Wirkung seiner Wörter, sondern bei sich bleiben, hingerissen, außer sich, so wie ein Kind spielt.
erfassung ∙ erprobung ∙ ethnomühle ∙ ende
Wenn ich Klings Gedichte les, bin ich hochgradig konzentriert, dabei distanziert ›cool‹; hier geschieht, naturgemäß, was stets beim Lesen eindrucksstarker Gedichte geschieht : Die lyrische Tiefenstruktur überträgt sich auf den Leser, Kling ist als Autor der Installationsmeister, ich als Leser zwangsläufig (möglichst souveräner) Gesell, sein Gedicht nennt er nicht ›Gedicht‹, sondern : Sprachinstallation, die anarchisch, bissig, knochig ist, hier glitscht, spült, bröckelt es – horizontal, vertikal, erster vogelherd (vorwerk) // lerche, die zungn und himmel verschraubt. / garne im blick, blickgaze, … und stellt sich / als vogelsteller vor, als vogelherd. / schnappt irgend etwas zu? Im Jahrbuch der Lyrik 2015 stößt mich, auf Seite 134, Michael Buselmeiers Polarfuchs mit harter Schnauze an : Wie mich der Dichter Thomas Kling / anrief / ein einziges Mal – // der sonst scharf deklamierte / wirbelnd / die Worte zersang // hauchte kaum hörbar ins Handy / ich habe Krebs kratze ab im Mai /kann leider nichts mehr bei- / tragen zu deinem neuen Wunderhorn / nun musst du’s allein richten / in Ruhe krächzte er fror // dieser Moment als ich wankte / und mich am Stuhl festhielt / der heiser knarzte (Polarfuchs) / Mensch machs gut / verfluchtes Ende in Schrecken / im Schlund / die blaue Zunge Lunge / Sprachspielverlust
rotor ∙ raketenstation ∙ radiologisch ∙ ragazza ∙ ruma
»Mancher Weg mag nach Rom führen (oder sonstwohin), an Westwärts 1 & 2 führt kein Weg vorbei«, schreib ich in Flickenteppich ∙ Blicke auf Brinkmann, und fahr fort : »Wer im Lyrikdiskurs mitredet, ohne dieses Gedichtbuch zu lesen, der soll halt weiter mitreden. Geredet wird ja viel, wie ich gelegentlich hör. Ich kann da nicht mitreden. Bist du nicht alt genug zu schweigen? (heißts in Joseph Roths Roman Hiob …)«. Das gilt, da beißt die Maus keinen Faden ab, genauso für Thomas Klings großes Gedichtbuch Gesammelte Gedichte 1981 – 2005, das mich entscheidend dabei unterstützt, das Lebenschaos, wenn schon nicht zu meistern, so doch immerhin, ein bißchen wenigstens, auf Distanz zu halten, und so les ich und les und les : Was ist das Chaos? Eine masse, ungestalt, / Wo jedes element sich im geheimen hält, / Dazu verschieden ist die sonn’ im Chaos bald / Geordnete wirrnis der elemente, les ich auf Seite 583 im Sonett Francesco Maria Santinelli (1627–1697), stoß dort auch auf das Wort : entsetzlich. – – – Was spricht dagegen, Thomas Kling (der 1990 den RDB-Preis der Stadt Köln erhält) in einem Atemzug mit Rolf Dieter Brinkmann zu nennen? Beide haben, sich Tag für Tag verausgabend, rastlos Zuflucht in – chronisch beargwöhnter – Sprach suchend : überdrüssig aller, die mit Worten, Worten, aber keiner Sprache daherkommen (Tomas Tranströmer), sich Welt als – immerfort belauertem – Wort neu erfindend, am selben Stamm geschnitzt – jeweils vom andren End aus, gehören, O Captain! My Captain!, derselben Dead Poets’ Society an wie Franz Kafka, der am 14. August 1913 an Felice Bauer schreibt : Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.Kling beschleift die Wörter, Brinkmann hämmert die Wörter mit geradezu dröhnend monotonen Anaphern in die Köpf. Beide, bildwortbesessene Erneuerer, wollen die morsch gewordne Sprach aufpöbeln – aktuell, frei, gegenwärtig, glaubwürdig, lebendig, absolument moderne, wahrhaft überzeitlich zeitgemäß machen. Kling hat, glaub ich, mehr Gemeinsamkeiten mit Brinkmann, als ihm lieb ist. So sehr Thomas Kling sich mit Stefan George identifiziert, so sehr distanziert er sich von Brinkmann. Beim Lesen der Neuausgab von Westwärts 1 & 2 fällt mir wieder auf, daß auch Brinkmann, gesprochne Sprach zum Vorbild nehmend, mit Elisionen arbeitet. Kein Lyriker (vergleichbar in dieser Hinsicht dem Prosaautor Arno Schmidt) hat gesprochne Sprach / Slang / Jargon so konsequent in lyrisches Argot verwandelt hat wie Thomas Kling, dessen Gedichte ich beim Lesen immer wieder vor mich hinflüstre : … wenn diagnose steht ersma’ frantic. / wie man eintäufte in meine brust, / rumfuhrwerkte darin und loren proben / abtransportierten, nix von gemerkt – frantic. So gewinnen sie eine erweiterte Dimension, die Kling ja unbedingt vorschwebt – wobei ich freimütig einräum, daß mir Klings Gedichte beim Lesen näher sind als bei dessen Vortrag. Ich weiß, er gilt als großer Performer; es liegt wohl in erster Linie daran, daß ich mehr der mit dem innren Ohr lauschende ›Leser‹ bin. Hans Bender : Splendid isolation. Ich, allein, mit einem Buch. That’s it – und drum geh ich in diesen Notizen auch nicht näher auf jene gewichtige Komponent Klingscher Klangkunst ein.
tarnfarbe ∙ troerinnen ∙ tapetnordnun’
Zurück im Sessel. Versuch weiterzulesen im Haus auf meinen Schultern. Les eine Seit, blick hoch, les, Bensch flüstert mir zwischendurch zu, die Kölner hätten sich, ohne ein Tor zu erzielen, ein magres Unentschieden erspielt (womit auch Michael Lentz, Matthias Politycki, Lutz Seiler kaum zufrieden sind), ich wink ab, die Sonn ist hinterm Haus verschwunden, ich müßt mich ins Eßzimmer setzen, um die sonnenüberflutete Wiese zu überblicken, auf der die vielen noch blattlosen Bäume, Sträucher stehn, die ich im Lauf der Zeit gepflanzt hab. Wieder klingelt das Telefon. Es ist, zum Glück, für Mrs Columbo. Ich geh die Trepp runter in den Raum, den Axel Kutsch Lyrikkabinett nennt und in dem zwischen Büchern der Rechner steht, den ich hochfahr, um mit der Niederschrift dieser Zeilen anzufangen. Ich steh noch mal auf, geh zum Regal mit den Büchern der K-Autoren : Kästner, Kirsch, Kirsten, Klabund, Kolbe, Koneffke, Krechel, Krolow, Krüger, Kuhligk, Kühn, Kunert, Kutsch, …, greif das Dutzend Kling-Bücher raus.
unbewaffnet ∙ umgelegt
Zunächst blättre ich in erprobung herzstärkender mittel, geschmacksverstärker, brennstabm, »nacht.sicht.gerät«, dem 1994 bei Suhrkamp erschienenen Sammelband, der die ersten vier Lyrikbände Klings umfaßt, in denen es immer wieder auf ätzende, bellende, auch sarkastische, zynische Sprachart und Sprechweis zur Sach geht, sodann in geschmacksverstärker, das ich zusätzlich als Einzelausgab hab (mein erstes Klingbuch überhaupt : Mit Thomas Klings sendeschluss aus geschmacksverstärker sowie kurzem Kommentar zum Buch endet der Hauptteil der 1999 erschienenen Monographie Ohne Punkt & Komma : »Und überhaupt, womit wurde die Lyrik der 90er Jahre denn eigentlich eingeläutet? Nein, nein, nicht im allgemeingültigen Sinn, der Ihnen jetzt vielleicht in den Kopf schießt, ganz konkret will ich mich festlegen, auf ein einziges Buch : Thomas Klings geschmacksverstärker von 1989. Hier sind Gedichte aus den Jahren 1985/88 versammelt, die Vorreiter sind für (s)einen dominanten, repräsentativen Stil der 90er Jahre, mit dem eine Reihe von Dichtern sich besonders intensiv auseinandergesetzt hat : Marcel Beyer, Dieter M. Gräf, Norbert Hummelt, Ingo Jacobs, Stan Lafleur, Enno Stahl sind Namen, die mir im Klingschen Kontext einfallen.« Ich glaube, das liegt auf der Hand, und darüber kann es keinen Streit geben, er hat mit seinen Gedichtsprachen die junge Generation enorm beeinflusst, und jedes von ihm erschienene Gedichtbuch hat eine neue Rezeption ausgelöst, er war ein Impulsgeber im Bereich des Lyrischen. (Christian Döring)
sendeschluss
zackn, faltnwürfe, getränkter nabel; unterm geweihten
hirschn vermischt sich der speichel,
ein entstehendes nach mitternacht
zungenbild;
flackernde couch,
darüber geht das schattenrangeln,
bündige umklammerung; überm kleider-
berg (dunkler bausch) gestöhnte
schrankwand: unüberhörbares weis-
ses rauschn, gebauschtes dunkel,
hingehuscht
namensreste ∙ nekropolen ∙ notgrabun’
Ich leg das Buch aus der Hand, nachdem ich hier ein Wort, dort einen Vers gelesen, nein, in erster Linie die graphische Gestaltung der Gedichte, die Anordnung der Verse betrachtet hab, greif zum Künstlerbuch wände machen(Kleinheinrich, Münster 1994), dem Buch mit Aquarellen und Gedichten, das Kling gemeinsam mit der Künstlerin Ute Langanky macht. Ist wände machn mein ›primus inter pares‹ unter den Büchern Thomas Klings? (Habs dreimal komplett gelesen …) Die von mir vor allen andren bevorzugte Sprachinstallation Thomas Klings (die ich sicherlich mehr als ein Dutzend Mal gelesen hab) ist jedenfalls das 12strophige Urbangebilde Manhattan Mundraum, gespickt mit granitplattn, organbank, hotelheizkörper, nachtthier, satellitnphotos, nagelschluchtn, schwirrflügler, morsche palisadn, rostplackn, schwarzglühende suppe, steinbrei, der dickt, das geradezu faßbar, fühlbar das Klingsche Forschen nach dem Ursprung der Wörter, das Ausschwärmen und Eindringen in alle erreichbaren Schichten menschlicher Existenz, knatternde schatten, das Zerhacken und Zerbröseln, man muß das Material kalt halten (Gottfried Benn), Zentrifugieren, Amalgamieren offenbart, nachzulesen im mit total gegenwärtigen, asso-, dissonanten, katachresischen, metaphorischen, spröden, synästhetischen, onomatopoetischen, simultanischen, Mundräume ausleuchtenden Wortkombinationen verdichteten Lyrikband morsch, der 1996 bei Suhrkamp erschien) :
1
die stadt ist der mund
raum. die zunge, textus;
stadtzunge der granit:
geschmolzener und
wieder aufgeschmo-
lzner text. beiseite-
gesprochen, abgedun-
kelt von der hand: die
ruinen, nicht hier, die
zähnung zählung der
stadt!, zu bergn zu ver-
bergn! die gezähltn, die
mit den weißn gebissn,
die aus den blickn ent-
ferntn: die gesperrtn.
maulsperre, mundhöhle
die stadt.
.
gegnsprech ∙ gebrüll ∙ greisenzischen
Lyrikdoktor Jakob Stephan (alias Steffen Jacobs) stellt in Lyrische Visite (Haffmanns, Zürich 2000) keine allzu günstige Diagnos im Hinblick auf die durchgängige rezeptive Verwertbarkeit der Gedichte dieses Buchs : In morsch nun fallen wohlfeile Pose und höherer Sinn ein ums andere Mal auseinander.
dresden ∙ drift ∙ dorne
Nicolai Kobus hält dagegen : Mit morsch, so scheint es, hat Thomas Kling sein Schreiben im synapsn-slang perfektioniert. Mit beeindruckender Souveränität verfügt er über sein Arsenal an poetischen Gestaltungsmitteln: Kaum einer bricht derzeit virtuoser Zeilen auf und um, bewegt sich leichter durch das permanente Wechselspiel von Demontage und Rekonstruktion, dem Beschaben und erneuten Überschriften verwirrender Palimpseste. Dabei gelingen Thomas Kling unterschiedlichste Tonarten, so überrascht er, beispielsweis, mit diesem vollkommen anders als manhattan mundraum klingenden Gedicht :
der mönch von montaudo:
plazer
und es gefällt mir sehr im sommer
an quelle oder fluß mich aufzuhaltn;
und grün di wiese, blumenflor unds
singn sanft die kleinen vögel;
und meine geliebte, insgeheim,
es schnell mal mit mir macht.
endorphinausschüttung ∙ eifelbrief ∙ echtfoto
Die beiden gleichartig gestalteten, wespengelb strahlenden Gedichtbücher Fernhandel (DuMont, Köln 1999) und Sondagen (DuMont 2002) fallen in die Augen. Fernhandel verblüfft mit Formen, die ich so bislang bei Kling nicht kenn. Die seit spätestens 1989 präsente, immer wieder auf Haltbarkeit erprobte ›typische‹ Klingform erweitert sich mit langversigen, endlose Soldatenkolonnen des 1. Weltkriegs heraufbeschwörenden Dreizeilern, sind etwas so bei Kling noch nicht Gesehnes mit frakturstempel, lazarett, verbandsplatz. Und daß (und wie!) er sich, beispielsweis, mit dem letzten mittelalterlichen Minnesänger Oswald von Wolkenstein befaßt, macht diesen (in der Öffentlichkeit mitunter unnahbar wirkenden) Kling auf einmal unvermutet zugänglich – auch sprachlich : Da erkenn ich, wie kongenial nachzuempfinden dieser hypersensible Typ in der Lag ist. Narrative Simultancollagen, extrem rhetorische attributive Kombinationen zu Bildern aus dem 1. Weltkrieg – kühle Elegien? Thomas Kling lesen heißt sich die volle lyrische Dröhnung geben : Diese antikisierende, assoziative, dichte, hommagierende, intensive, kritische, lautmalende Art, Gedichte zu verfassen, Wort zu Wort zu setzen, cool, selbstgewiß, kompromißlos, es tut mir leid: gedicht ist nun einmal: schädelmagie, läßt mich auch diesmal nicht los, bestimmt, wie oft schon, das weitre Tagesgeschehn (von der Nacht ganz zu schweigen). Diese forcierte Lyrik ist bewußtseinserweiterndes Genußgift, anscheinend nicht jedermanns Sach, immer wieder kommen mir geradezu feindselige Tön von Autoren zu Ohren, die offenbar überfordert sind mit diesen sprachsprengenden Wörtern, Versen, Strophen, die den Leser zu höchster Aufmerksamkeit provoziern : Das Gedicht duldet nur keine Unduldsamkeit.
retina ∙ rostschutz ∙ rübenäcker ∙ reste
Thomas Kling hat die fieberhafte Aufbruchstimmung in der Lyrik der 1990er Jahre maßgeblich geprägt, sein lyrisches und essayistisches Werk (das er im letzten Buch endgültig ineinander verschränkt) konsequent vorangetrieben, perfektioniert. Das zeigt sich erneut in den polyglotten Sondagen, die Heinrich Detering so umschreibt :
2Sehr weit hinab geht diese Fahrt, aus den Nato-Bunkern in den Hades der Eurydike, zu Mars und Minerva, zu Sprüchen Anaximanders und des delphischen Orakels, die Kling der »Griechischen Anthologie« nachdichtet, und in die dionysischen Lavaströme unterhalb aller Geschichte. Immer tiefer, von der Gegenwart im ersten Kapitel bis in die antiken Anfänge des vorletzten, senkt sich das poetische »bleilot« in jenen »brunnenbereich«, den man wohl unergründlich nennen sollte. Wer mit Kling in die Schlünde der Vergangenheit hinabgefahren ist, sieht nach dem Wiederauftauchen die Gegenwart mit anderen Augen – die erstarrten Basalte in den lichten Gehölzen der Eifel beispielsweise, hinter der aufgegebenen Raketenstellung von Hombroich, dort, wo Kling heute lebt: »bröckelig eine ausgeglühte / vom besenginster bald / schon beleuchtete gegend«. Bis zur Verschmelzung durchdringen sich die Zeiten und Medien, die Kriege der angelsächsischen Helden und die der Nato, die Pergamente und die Tonbänder, der Kiel der archaischen Boote und der gleichnamige Reichskriegshafen.“
fundangaben ∙ falknerei ∙ frustfunk ∙ fünfter findling
Mit Fernhandel, Sprachspeicher, Botenstoffe sowie Auswertung der Flugdaten gehört Sondagen zu den fünf höchst ausgefallenen lyrischen bzw. essayistischen Büchern, die zeigen, wie stark sich der Kölner DuMont Buchverlag für den Dichter Thomas Kling eingesetzt hat. (Den kolossalen Schlußpunkt setzt man 2006 mit den 976 Seiten umfassenden Gesammelten Gedichten.) In Sondagen les ich u.a. die Fortschreibung des grandiosen Gedichts Manhattan Mundraum. Immerfort assoziierend, entwickelnd, feilend, hämmernd, meißelnd, recherchierend, stöbernd, zupackend zeigt Kling – vielleicht auch beseelt von der Vorstellung, die deutschsprachige Lyrik habe sich seit ihren Anfängen mit Merseburger Zaubersprüchen und Lorscher Bienensegen konsequent auf ihn hin entwickelt : nu fliuc du, vihu minaz, hera / nu fliegt, meine bienen, her – mit inkomparablen virtuos-komplexen Wortklanggebilden wie Kiel und villa im rheinland (usw.) auch in Sondagen, was er auf der Pfann hat, eigne Forderungen konsequent einlösend : Gedichte sind immer vom Rhythmus geprägt, sonst sind es keine Gedichte. Wenn jetzt offenbar in den letzten, in den allerletzten Jahren wieder betont werden muß, daß ein Gedicht aus Rhythmus und Musikalität besteht, dann ist das ein Armutszeugnis. Das ist absolut die Voraussetzung, da verliere ich kein Wort darüber, außer im Moment.
luft ∙ landschaftdurchdringun’
Kling gehört zu den Dichtern, die ins Offene, in die Totale der Jetztzeit drängen. Ohne die Essaybücher Itinerar und Botenstoffe wär Thomas Klings lyrisches Werk und insbesondre dessen tiefgehende Wurzeln unvollständig skizziert. Itinerar, 1997 bei Suhrkamp erschienen, wird, nach einem dampfhammermäßigen ersten Kapitel, in dem Kling in der von ihm so bewußt gepflegten Attitüde von oben herab und pauschal die Lyrikproduktion gleich mehrerer Jahrzehnte in die Regentonne kloppt, zu einem poetologischen Leseabenteuer mit immer wieder feurig formulierten Einblicken, die mich derart bezaubern, daß ich mit Erreichen der letzten Seit zum Surfer im Atlantik bzw. Pazifik mutier : Gedichte lesen und hören wird zum Wellenritt in riffreicher Zone.
unmitte ∙ unerreichbar ∙ ulmenkrankheit
In Botenstoffe läßt sich der Spracharchäologe Thomas Kling in Essay und Gespräch, begeisternd, belustigend, kapriziös, (zumeist) extrem kenntnisreich, polemisch über biographische, historische, phänomenologische, poetologische Wurzeln der von ihm verfaßten Gedichte aus; ich les das Buch nicht bloß von der ersten zur letzten Zeil mit hochintensivem Interesse und großem Gewinn, sondern leg es (was mich an den erzwungenen Bauerntausch beim Schach erinnert) immer wieder zur Seit, um in von Kling zitierten Gedichte nachzuschlagen und wände machen, das Aquarellgedichtbuch, komplett wiederzulesen, zu betrachten, was mir in der Nacht Träume beschert, von denen manch einer vielleicht bloß träumen kann. Leser, was willst du mehr, Autor, was willst du mehr? – – – Dichtung werde von allen gemacht, betont Lautréamont, und Thomas Kling gehört zu den, im übrigen auch kongenial übersetzenden Autoren, die nicht nachlassen, zu betonen, wie wesentlich vorgefundne Sprach und Dichtung für den Macher von Gedichten ist : Ohne Kenntnis der Sprache, der Sprach- und Literaturgeschichte ist nichts zu machen, weiß Kling, was Olaf H. Hauge so beglaubigt : Die Kenntnis des Fremden führt uns nicht fort von uns selber, sondern zurück zu den eigenen Quellen. Zugleich macht Kling in Botenstoffe deutlich, gegen welche Reimerrieg er sich unmißverständlich verwahrt. Was Lautréamont im tiefsten Sinn vielleicht meint, ist, daß Dichtung von der ganzen Menschheit gemacht wird und sich der einzelne Dichter zur Menschheit verhält wie das Körperteil zum Organismus – eins durch alles, alles durch eins. Oder mit andrem Bild : Der Dichter ist das schamanisierende Mitglied der menschlichen Gesellschaft, die, naturgemäß, unentwegt – in allen Nischen und Schichten – Dichtung hervorruft. In diesem Buch über Gedichte und deren Autoren ist Thomas Kling, wie immer engagiert, leidenschaftlich, kompromißlos, auf bissige und facettenreiche Art mit dem befaßt, was die Welt – ich stell das mal so in den Klangraum – im Innersten zusammenhält :
Oswald von Wolkenstein tut das, was des Dichters ist – er läßt Namen für sich arbeiten. Das Gedicht verzichtet auf anekdotische Nacherzählung, zieht Knappheit vor, durch diese Wirkung erzielend. Das Gedicht reicht seinen Lesern und Hörern das Instantpulver, das wir, lesend, zum Getränk aufschäumen lassen können. So löst der Dichter sich auf im eigenen Produkt.
Kurz: Zeitgenössische Dichter sollen ruhig aufs Ganze gehen – also keine Zugeständnisse an die zehn Leser mehr, tatsächlich muß das Gedicht auf einer Ebene voll funktionieren – mit dem nicht augen- und ohrenfälligen, dem submaritimen Teil des Eisbergs kann sich, so sie nichts Besseres vorhat, die Taucherriege der Philologie befassen.
Mallarmé betont, der Vers und alles Geschriebene müsse, weil aus dem gesprochenen Wort hervorgegangen, imstande sein, die Prüfung durch das Gesprochenwerden und den Vortrag zu bestehen. Zunächst einmal sind meine Gedichte aber sehr vom Skripturalen abhängig. Sie kommen aus dem Gelesenen, nicht aus dem Gehörten, wobei die semantischen Mehrfach-Aufladungen, die bei der wiederholten Lektüre augen- und ohrenfällig werden, nur der schriftliche Text leisten kann. Natürlich ist das Live-Erlebnis für den Vortrag eine hochwichtige Angelegenheit. Und da komme ich eben wirklich von der Auftrittsebene, also von einer Genealogie, die letztendlich in die Vorschriftlichkeit zurückgreift. Das Live-Erlebnis war schon bei einem Stefan George, um die Zeit um 1900, eine ganz wichtige Erfahrung. Natürlich steckt auch wieder der Gedanke des Dichters als Blutzeuge und zugleich Erlöserfigur dahinter, und heute, in dieser Umbruchzeit, die wir erleben, Richtung Mitte, geht das auch wieder ein bißchen zu diesem Religionsersatz hin, obwohl das keiner zugeben würde. Das ist klar. Der Dichter zum Anfassen.
grabungskampagne ∙ galgnzettel ∙ grenzmuseum ∙ gewebeprobe ∙ gesang
Thomas Kling gehört seit Anfang der 1990er Jahre bis 2005 zu den vom Feuilleton bevorzugten, vielfach vorgestellten Lyrikern, vergleichbar mit Ernst Jandl und Robert Gernhardt. Unter Kollegen bleibt er bis heut heftig umstritten. Kontroversen geht er nicht aus dem Weg. Ohne mit der Wimper zu zucken, schlüpft er auch mal in die Roll des kläffenden Pinschers, wenn er etwa seine Ablehnung der Gruppe 47 und der Lyrik nach 68 betont. Und was bringts, derart undifferenziert Rolf Dieter Brinkmann anzupöbeln, dessen Werk niederzumachen? Der Oberflächen- und Tiefenstruktur des chaotisch krachenden Collagenbuchs Rom, Blicke wird er mit den paar läppisch hingeschmißnen Bemerkungen nicht nur nicht gerecht, Kling scheint sie nicht begreifen zu können. Daß der so hochgelehrte – und sich, bei aller total intendierten Saloppheit, durchweg intellektuell inszenierende – Thomas Kling plötzlich auf derart stammhirngelenkte Reaktionen zurückgeworfen wird : denkmerkwürdig. (Sind die Brinkmannschen römischen Blicke dem Sprachextremisten Kling etwa zu extrem?) Jedenfalls : Solcher Art Pöbelei kennt zumeist eine Richtung bloß : Sie fällt auf den Pöbler zurück. Wenn ich über andre sprech und schreib, other men are lenses through which we read ourselves(Emerson), sprech und schreib ich vorderhand über mich.
direktleitung ∙ drückt ∙ dreharbeitn
Das Alphatier verträgt kein Alphatier im selben Stall. Kein Ries käm auf die Idee, sich mit dem Zwerg zu befassen. Zu Thomas Klings auffälligen Eigenarten gehört unbedingt, radikal abzulehnen. Bissig, herblassend, polemisch, vehement kanzelt er nicht bloß einzelne Existenzen ab, nein, ganze Dekaden werden im Handstreich erledigt. Interessant in diesem Zusammenhang der Auftakt des Aufsatzes Zu den deutschsprachigen Avantgarden in Lyrik des 20. Jahrhunderts (Sonderband text+kritik, München 1999) : Im Rahmen des allgemeinen Kassensturzes ist nichts so billig geworden wie das Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden. Vom Prinzip her tut Kling nichts andres, auch wenn es sich bei ihm oft – aber nicht nur – um Nachhut oder Etappenhas handelt. Axel Kutsch betont, daß ein funktionierendes Ensemble nicht nur aus Stars bestehe. Was für Musik und Fußball gilt, gilt gleichermaßen für die Poeterey. Ins Schwärmen gerät Kling, wenn es um Stefan George (der ebenfalls aus Bingen am Rhein stammt) und dessen Gedichte geht. Auch die subtile Auseinandersetzung mit Gedichten von Horaz, Salvatore Quasimodo, Konrad Bayer, Peter Huchel, Christine Lavant, Friederike Mayröcker, Dieter Roth, Sabine Scho, Marcel Beyer verdeutlicht Klings Vorlieben sowie die poetisch-poetologische Grundierung seiner Gedichte, ziselierte Kopfgeburten, in deren Tiefenstrukturen sich auch dramatische, epische, dokumentarische Merkmale finden. Das archäneologistische Werk Thomas Klings überrascht bei jedem Wiederlesen mit assoziativ, leidenschaftlich, formbewußt umgesetzten Vorstellungen, die die systematische außerordentlich hellhörige, augenaufreißende Auseinandersetzung mit Mensch, Sprach, Geschicht, Gesellschaft, Krankheit, Kunst, Landschaft, Lyrik, Welt offenbaren; die kaltgeschweißte, rasante, raumöffnende Sprachinstallation Klings ist ästhetisch, charismatisch, idiosynkratisch, linguistisch, historisch, poetologisch, prosodisch, rhetorisch, soziologisch, wörtlich zehnfach fundiert.
auflehnung ∙ abrede ∙ anamnese
Glücksfall Sprachspeicher. 200 deutsche Gedichte vom 8. bis 20. Jahrhundert. Hemmungslos eigenwillig, viele Stimmen verwerfend bzw. ignorierend (dafür sehr wenige – vor allen andren : Stefan George – glorifizierend), wählt Thomas Kling aus, nichts als den eignen, meinmesserscharfen Blick gelten lassend, den er, auch apodiktisch, herablassend – daß Ingeborg Bachmanns Stärke eher nicht im Gedicht zu suchen ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben – in kapiteleinleitenden Auslassungen verdeutlicht : Sprachspeicher ist Klings eigenwilliges Hausbuch deutschsprachiger Lyrik. Es ist begeisternd, nicht kanonisierte Gedichte bekannter/berühmter Autoren zu lesen; die Lektüre dieser kapriziösen Auswahl ist herrlich an- und aufregende Achterbahnfahrt (auf die ich im ›wahren‹ Rummelleben gut und gern verzichten kann). Kling stellt betont Außenseiter, Unterschätzte, (fast) Vergeßne ins Rampenlicht : Norbert C. Kaser, Christine Lavant, Reinhard Priessnitz, Hans Rosenplüt, Walter Serner …
taghimmel ∙ trestern ∙ tonspur
Schließlich : Auswertung der Flugdaten. Das Buch gibt keine Ruh, in keinem Vers, in keiner Zeil. Die Lektüre wühlt auf. Spürbar die fiebernde Vitalität, das Schreibenwollen – und Schreibenkönnen – bis zum letzten, allerletzten Atemzug. (Jean Kriers 2014 erschienenes Gedichtbuch Eingriff, sternklar vermittelt das in vergleichbarer Art.) Hier schreibt einer um sein Leben. Hier arbeitet einer am Vermächtnis. Auswertung der Flugdaten ist ein atemberaubendes Buch, das ich mit aufgerißnen Augen les, Vers für Vers, Gedicht für Gedicht, Zeil für Zeil, Essay für Essay. Thomas Kling lesen, das wird längst klar geworden sein für Leser, die Kling noch nicht kennen und die ich mit diesem Essay – von wegen auf die falsche, nein, nein : auf die Klingsche Fährte locken will, ist nicht das Lesen, das man sich vorstellen mag, wenn man das Wort »lesen« im landläufigen Sinn versteht. Das geht hier nicht mal so eben aus der lameng (O-Ton Kling). Genauso wie Kling ein lyrischer Schwerarbeiter ist, ein Bergmann, im Flöz hängend, Schicht um Schicht abschlagend, um ans Innerste zu geraten, lebensbedrohliche Teufelsbrocken furchtlos um sich herumfliegen läßt, muß auch ich bereit sein, ihm überallhin zu folgen. Hier gibts nix für umsonst.
epitaph ∙ empedokles ∙ elstermusen ∙ endi
Der Titel Auswertung der Flugdaten deutet zunächst auf ganz andres Terrain als ›Untertage‹. Hier hats offenbar den Totalabsturz gegeben, der Poetpilot kriegt die Black Box noch einmal mit beiden Händen zu fassen, jetzt gehts mit letzter Leidenschaft an die Auswertung der Flugdaten. Ist Thomas Kling der reinkarnierte Ikarus, der den Sturz überlebt? Es sieht ganz danach aus : Auf dem Buchumschlag als auf dem Sockel stehnde, in die Ferne blickende Skulptur erstarrt – verbildlicht er mit dieser Pos sein Gedicht mailand, ambrosianische litanei 2, das ich immer wieder mit stummer Anteilnahm les? –, seh ich den Dichter Thomas Kling hoch vorm zerfallnen, efeubewachsnen Knusperhäuschen. Auf nichts kommt es an als darauf, Atem zu haben, atmen zu können, zu wissen und am Leben zu bleiben. (William Faulkner, Absalom, Absalom) Kapitel 1 : Vorhöll mit endlosen weißen Gängen, schwarz offengelegten Innereien – Dichter, Patient, Hauer, Steiger (außer sich, rasend, wild). Kapitel 2 : Es plappert die Mühle, mahlt, malt, spricht. Alliterative, (binnenreimende) ma(h)lende Bildgedichte: das licht steht staubig – / stäubchen-strömung in der tür. // die sonne, feuermühle/ die euch gemahlen hat, geht scharf. // so steht das licht – / steht staubig in der tür« – – – Was bleibt, ist ein vielsagender Vers, der dann doch zu wenig sagt. Kapitel 3 : Die Anachoretische Landschaft … Um nicht vor lebensscham verrecken / Zu müssen – so nehm’ ich farbe an. Kapitel 4 : Zum Gemäldegedicht : Es geht also darum, das Bildkunstwerk (»Gemähld«) zum Sprechen zu bringen, besser gesagt, ihm eine zweite – eine dichterische – Sprache zur Seite zu stellen. Kapitel 5 : Die Himmelsscheibe von Nebra : … schauen wir / zurück. Kapitel 6 : Vergil. Aeneis – Triggerpunkte : … stimmband in auflösung begriffen. – – – Hubert Winkels über Auswertung der Flugdaten : Der neue Kling-Band beginnt also mit einer fulminanten Reihe von K-Gedichten: K wie Krankenhaus und Krieg, der in ihm herrscht – wie Körper und Konkretion, die ihn zum Datum macht, wie Kälte und Kunst, die jedes Wehleid einfrieren in Wort und Bild.
nachtmaschine ∙ natur ∙ (normal)
Thomas Kling stirbt am 1. April 2005, dem Tag, an dem ich, beseelt und überwältigt von der Auswertung der Flugdaten, mehr denn je der Überzeugung bin, er hätt den Lungenkrebs, vorläufig wenigstens, einigermaßen gebändigt. Als die Todesanzeigen, die ein Bekannter für mich ausgeschnitten hat, aus dem Briefumschlag fallen, seh ichs, endgültig, schwarz auf weiß : Der 5. Juni 1957 in Bingen am Rhein geborene Thomas Kling ist tot.
Weiterführend → Einen Essay über das Tun von Theo Breuer als Herausgeber, Essayist und nicht zuletzt als Lyriker lesen Sie hier. – Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.