Eine Anthologie ist eine Sammlung ausgewählter Texte oder Textauszüge in Buchform oder im weiteren Sinne eine themenbezogene Zusammenstellung aus literarischen, musikalischen oder grafischen Werken. Es handelt sich um eine von einem Herausgeber verantwortete Publikationsform.
Walter Benjamin unterscheidet drei Arten von Anthologien: jene, die einen bedeutenden Dichter zum Herausgeber haben, dessen Lyrikauswahl „eingestandenermaßen oder nicht normativen Charakter“ hat und deshalb selbst als „Dokument der hohen Literatur“ gelten darf, ferner jene, deren Herausgeber als Person zurücktritt und sich rein informative Ziele gesetzt hat, und schließlich die „unerfreulichste Gattung“, die „als müßiges Spiel eines Unberufenen ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte“ darstellt.
Den 50.000 ernsthaft um eigene Lyrik bemühten Autoren stehen vielleicht 500 Lesern gegenüber, die Lyrikbände käuflich erwerben – und zwar jeweils nur den besten eines Jahrgangs.
Ohne die Lyrikanthologien von Axel Kutsch wäre das literarische Leben im deutschen Sprachraum deutlich ärmer. Lyrik erreicht seit jeher ihre Leser vorzugsweise über Sammelbände, und immer wieder leisten diese als Folge der lektüre zusätzlich Erweckungsdienste für junge Autorinnen und Autoren, die hier Vorbild und Meister entdecken und hoffentlich auch die Erkenntnis, daß fast noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Die erste Anthologie Die frühen 80er, die außer Lyrik auch Prosa enthielt, erschien 1983 in der Autoreninitiative Köln. Bis 1993 erschienen dort weitere Lyrikanthologien, die von Axel Kutsch und gelegentlichen Mitherausgebern betreut wurden. Zacken im Gemüt. Deutschsprachige Lyrik der 90er Jahre leitete die Zusammenarbeit mit dem später in Verlag Ralf Liebe umbenannten Verlag Landpresse ein. Seit 2008 firmieren die Sammelbände unter dem festen Titel Versnetze. Lyrik ist in diesen Anthologien nie homogen, resultiert sie doch aus zahllosen Stimmen und Stilen, die hier eine Reihe von Berührungspunkte aufweisen, dort aber auch kaum eine Ähnlichkeit aufweisen und über eine erstaunliche Vielfalt verfügen.
Die Phasen grundsätzlicher innovativer Neuerungen sind zwar mit dem Ausklingen der Moderne weitgehend abgeebbt, aber in den ›Versnetzen‹ kann man sich davon überzeugen, dass zahlreiche Lyriker der Gegenwart sich erfolgreich darum bemühen, ihre Diktion durch ›kleine Verschiebungen‹ (Ernst Jandl) aus der Klammer literarischer Einflüsse zu lösen und individuelle poetische Akzente zu setzen, so dass es eher angebracht ist, von einem neuen Pluralismus statt von Stillosigkeit zu sprechen.
Axel Kutsch Versnetze_zehn.
Lyrik-Anthologien sind eigenwillig. Diese Blütenlese (griechisch ἀνθολογία anthología, deutsch ‚Sammlung von Blumen‘) sperrt sich dem summarischen Urteil, weil ihre Einheit bloss eine äußerliche, nicht die inhaltlicher Kohärenz ist. Die Stimmenvielfalt in den Versnetzen erscheint wichtiger als die Auslese. Als Herausgeber von Lyrik-Anthologien hat Axel Kutsch einen ganz anderen Begriff davon, was diese althergebrachte Gattung im deutschsprachigem Rahm leisten muß. Die von ihm seit 1984 fast jährlich herausgegebenen Sammelbände fügen sich ineinander mit eiszeitlicher, in geologischen Epochen denkender Zwangsläufigkeit, als fortschreitende Bewegung. Er denkt in Werkzusammenhängen, was ihn als Herausgeber zu einer Ausnahmeerscheinung macht. Diese Anthologie sind nach Postleitzahlen angeordnet. Zu entdecken ist auf diese übergreifende Weise eine Lyriklandschaft, die sich Metropole wie Hinterland widmet. Über seine Arbeit als Herausgeber von Lyrik-Anthologien berichtet Kutsch im Projekt Kollegengespräche.
Als Herausgeber ist Axel Kutsch Entdecker, seine Auslese der Gedichte ist unabhängig vom literarhistorischen Rating des Autors.
Zwischen Verbindlichkeit und Freiheit, zwischen Hierarchie und Innigkeit, Ordnung und Chaos findet er auch die Nadeln im Heuhaufen. Er hat früh erkannt, daß die aktuelle Lyrik auf einem viel höheren Niveau angesiedelt ist als die sogenannte Popliteratur. Die Postmoderne endete jedoch mit der Massennutzung des Internets, kaum niemand nimmt Notiz von ihrem Sterben, weil das Leben immer mehr von einer immer noch schneller werdenden, ja, wahnwitzigen Schnelligkeit geprägt zu sein scheint.
Die Literaturtheorie wird zusehends von Literaturmarketing abgelöst, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflußt die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt.
Axel Kutsch macht die Unsichtbaren sichtbar. Er gibt den Lyrikern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben.
Im 20. Jahrhundert versuchten die Autoren, sämtliche Regionen des Landes ausschöpfend zu beschreiben, nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die modernistische Literatur, welche die plurale Identität der alten BRD entdeckte und sich andererseits darum bemühte, die Weimarer Traditionen wiederaufzunehmen. Die Lyriker der blank generation sind so lebendig wie vielstimmig, sie schreiben keine Befindlichkeitstexte, leisten dafür aber sorgfältige Spracharbeit und schreiben poetisch souverän, welterfahren und vor allem eigenwillig. Die literarische Strömung des Regionalismus wirkt der Globalisierung entgegen, da sie eine starke Bindung zu einer Örtlichkeit und einen Bezug zur Geschichte entwickeln. Die Antwort der Lyriker auf die Globalisierung liegt in der Anthologie „Die inneren Fernen“ in der Vertiefung der eigenen historischen Wurzeln. Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muß die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, daß Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarischen Felds. Seit einiger Zeit erlebt die deutschsprachige Lyrik eine kleine Renaissance. Das hat einerseits mit dem Wagemut der Kleinverlage zu tun; es hängt aber auch zusammen mit der Wiederentdeckung lyrischer Formen durch jüngere Autorinnen und Autoren. Es fällt auf, daß manche lyrische Innovationen der letzten Jahre aus dem Hinterland kommen, ob aus der Edition YE in Sistig/Eifel, der Landpresse in Weilerswist, der Edition Das Labor aus Bad Mülheim oder der Silver Horse Edition aus Marklkofen: Ob Peripherie Zentrum oder Zentrum Peripherie ist, entscheiden die interessierten Leserinnen und Leser mit jedem neuen Gedichtband neu.
Aus einer Vielzahl von Lyrikerinnen und Lyrikern entsteht ein Kosmos voller Möglichkeiten
Die in den Versnetze-Anthologien gebotene Vielfalt läßt sich im Rahmen dieses Aufsatzes kaum würdigen. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Gedichte, die auf ihre ästhetische Autonomie pochen und sich implizit als Gegenwelt zur geschichtlichen begreifen, werden dabei dem Generalverdacht ausgesetzt, im „luftleeren Raum“ zu schweben, ja sogar einer „Wertverwahrlosung“ Vorschub zu leisten. Die seriöse Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage degradiert. Der Markt beeinflußt die Wahl, bestimmt die Vorlieben und etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt. Die Einzigartigkeit von Lyrik liegt, abgesehen von ihrer bestechenden Schönheit, in der Unkenntnis einer prosaischen Realität, die das Herzstück so vieler Bücher der Epoche ausmacht.
In den abseits gelegenen Dörfern und Städtchen, Tälern und Hochlagen forschen.
In einem Poetenladen-Essay über seine Herausgebertätigkeit bemerkte Theo Breuer, daß Kutsch stets großen Wert darauf lege, in den „abseits gelegenen Dörfern und Städtchen, Tälern und Hochlagen zu forschen, um auch den zurückgezogen lebenden originellen Autoren aus dem Hinterland eine Chance zu geben“. Die regional strukturierten „Versnetze“ machen deutlich, daß lesenswerte und innovative Lyrik nicht nur in den Metropolen geschrieben wird, ebensowenig vorrangig von angesagten Poeten, deren Werk mit angesehenen Auszeichnungen bedacht worden ist. So finden sich in diesen Anthologien viele interessante Schriftsteller, die bisher kaum von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen worden sind. Der heiße Atem unserer nennenswerten Lyrik, die selten so pulsierend war wie in diesen Jahren, weht mit ihrer spannenden Vielfalt in alle Himmelsrichtungen und durch alle Generationen, unabhängig vom Renommee der Verfasser.
Jedes Jahr wählt Axel Kutsch, die repräsentativsten und die singulärsten Gedichte aus
Die Leser von Lyrik haben nicht den Eindruck einer Unvollständigkeit von Anthologien und einzelnen Büchern, sondern den der Unabschließbarkeit dieser Literaturgattung, die einem Leben und vor allem einem damit engvermählten Werk angemessen ist, die gleichermaßen durch ungewöhnliche Komplexität wie durch untergründige Verbindungen gekennzeichnet sind. Nachzulesen in den hervorragend edierten Bänden der „Versnetze“. Jedes Jahr wählt Kutsch, die repräsentativsten und die singulärsten Gedichte aus. So entsteht ein weit gespannter Überblick zur aktuellen Lyrik, und zugleich ergeben sich neue Perspektiven von experimenteller Poesie über Naturlyrik bis zur jungen Dichtung. Erinnerungsbilder tauchen in diesen Anthologien immer wieder auf, Bilder, in denen sich ein Ich seiner Wahrnehmung zu vergewissern sucht. Sie stehen neben leichten, beinahe heiteren Gedichten. Berührend sind die Liebesgedichte, und auch sie sind geprägt von mäandernden, schwingenden Suchbewegungen. Bisweilen werden sie einer strengen Form unterworfen, die sie mit geschickten Brechungen unterlaufen.
Facettenreiche aktuellen deutschsprachige Lyrik quer durch die Generationen und Regionen.
Obwohl die Resonanz der bisherigen „Versnetze“-Ausgaben bei Lesern und Medien größtenteils positiv war, wird Kutsch vor allem von Autoren konventionellerer Schreibweisen mitunter vorgeworfen, daß ich bei unorthodoxen Texten ein zu großes Herz habe. Die heutige Lyrik ist ein sehr weites Feld, und meine Absicht als Herausgeber ist es, möglichst alle Richtungen der gegenwärtigen deutschsprachigen Poesie in ihrer quirligen Vielfalt zu vernetzen, wobei ich den Werkstattcharakter, den diese Anthologien auch haben, betonen möchte. Freilich – Dilettantismus, wie er oft im Internet anzutreffen ist, hat keine Chance. Ziel der Anthologien, die Kutsch gelegentlich auch thematisch bzw. als Überblick über die gesamte deutschsprachige Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart oder eine Epoche anlegt, ist es, die Entwicklung des zeitgenössischen deutschsprachigen Gedichts in seiner Breite zu dokumentieren. In den jeweils rund 200 bis 300 Seiten umfassenden Ausgaben sind in der Regel ca. 150 bis 200 Autorinnen und Autoren aus dem ganzen deutschen Sprachraum vertreten, darunter u.a. Achim Amme, Jochen Arlt, Jürgen Becker, Hans Bender, Theo Breuer, Ulrike Draesner, Robert Gernhardt, Durs Grünbein, Ulla Hahn, Anton G. Leitner, Friederike Mayröcker, Gerhard Rühm, Martin Walser, A.J. Weigoni und Uljana Wolf. Axel Kutsch legt großen Wert darauf, eine Übersicht über Inhalte, Formen und Schreibweisen der facettenreichen aktuellen deutschsprachigen Lyrik quer durch die Generationen und Regionen zu vermitteln.
Das inhaltliche Spektrum in Versnetze_zwölf reicht von A wie Affenliebe bis Z wie Zátopek.
Das Spektrum der einsilbig oder kakophon, fest- oder freimetrisch, klar oder geheimnisvoll, gereimt oder ungereimt, überhitzt oder unterkühlt, ernst oder ironisch, herb oder sanft, lässig oder forciert formulierten Gedichte in diesen Zeiten der kleinen Verschiebungen reicht vom Konservativen zum Experimentellen, vom Kreuzgereimten zum Alltagsparlando, vom Haiku übers Akrostichon zum Sonett, vom Epigramm zum Sprichwort, vom Vierzeiler zum Erzählgedicht, vom lyrischen Stimmungsbild zum antilyrischen Wortschwall, von politisch grundierten, mit suggestiven Botschaften garnierten Versen zur privaten Poesie für öffentliche Ohren, vom hermetischen zum offenen Gedicht, vom Block- zum Flattersatz, von der assoziativ verketteten, überbordernden paradox-skurrillen Phantasmagorie zur (Realität verfremdenden) lakonischen Inventur, vom Popgedicht zum ätherischen, vom ungelegenen Vers zum Gelegenheitsgedicht, von der notgeborenen Attacke zur müßigen Besinnung, von Allegorie über Metonymie, Metapher und Emblem zum Symbol – oder bewusst davon befreiter Lyrik, vom Nonsens zum Tiefsinn, von reiner Lyrik über Metalyrik (Gedichtgedichte) zum didaktischen Lehrgedicht, vom stillen und kurzen, um eine einzige Metapher rankenden Gedicht zur hektischen, übers ganze Blatt verlaufenden Montage, vom Stakkato zum Geschmeidigen, vom surrealistischen Purzelbaum übers Dissonante zum Volksliedhaften, von der urbanen Häuserzeile zur rustikalen Sumpfdotterblume.
So hätte es ewig weitergehen können. Die Redewendung „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ ist eine Variante eines rheinischen Schlagers. Sie bedeutet, dass alles irgendwann endet – oder zu Ende geht – oder an die Endlichkeit der Dinge:
Dieses Jahr 2023 … begann wie all die Jahre vorher. Ich rief Axel Kutsch an (vielleicht rief auch er mich an). Jedenfalls fragte einer von uns beiden den anderen: „Machen wir wieder Versnetze?“
Wer auch immer wen fragte, ist letztendlich egal. Wie die Jahre vorher, sagte der andere jedenfalls: „Ja, klar.“
Und so begannen wir, wie wir schon 31 mal vorher Anthologien vorbereitet haben: Erst einmal damit die Autorinnen und Autoren einzuladen sich mit aktuellen Gedichten an den „Versnetze 16“ zu beteiligen. Die Anschreiben gingen Anfang Januar, wie in den 30 Jahren vorher, ganz klassisch per Brief raus. (1994, dem Erscheinungsjahr von „Zacken im Gemüt“, dem ersten gemeinsamen Anthologieprojekt, hatte der Verlag weder Homepage noch E-Mail Adresse.)
Als Einsendeschluss wurde der 28. Februar 2023 festgelegt und schon wenige Tage später trafen die ersten Manuskripteinsendungen bei Axel ein. Axel machte sich daran zu sichten und auszuwählen.
Und dann traf ihn Mitte Februar der Schlag, also der Schlaganfall. Und er hat Axel heftig getroffen, so heftig, dass er seine so besondere Herausgebertätigkeit nicht mehr wird fortsetzen können. Auch seine einzigartige Lyrik ist zu einem abrupten Ende gekommen.
Ich bin unendlich traurig, ich vermisse Axel. Ohne ihn würde es diesen Verlag nicht geben.
Ralf Liebe, Verleger
Als Lektüre zum Einstieg in Kutschs Gedichte zu empfehlen ist der Band AM RANDE DER SPRACHE STEHT EIN GEDICHT, Das lyrische Werk von Axel Kutsch, 1969 – 2022. Neben Gedichten, die zum Teil in Literaturzeitschriften (u. a. Das Gedicht, Matrix) und Anthologien wie Jahrbuch der Lyrik veröffentlicht wurden, lesen wir 108 zuvor unveröffentlichte Gedichte.
Weiterführend → Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag, sowie ein Kollegengespräch mit Axel Kutsch.
→ Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.
→ 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie
→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie
→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.
→ 2023 finden Sie über dieses Online-Magazin eine Betrachtung als eine Anthologie im Ganzen.