Mehrdeutigkeiten, Klangverwandtschaften und Bedeutungsverschiebungen

 

In ihrem literarischen Schaffen bewegt sich Joanna Lisiak zwischen den Genres. Sie kostet und lotet diese oft wie nebenbei schwebend aus, erörtert in ihrem eigenen, erfrischenden Stil und schafft poetische Bilder. Sie überrascht mit unvorhergesehenen Wendungen, kreiert Kombinationen, die bewegen, irritieren, amüsieren und verblüffen. Die Autorin spielt gelegentlich mit der Sprache, ist ihr zugleich kritisch auf der Spur, die Zwischentöne einfangend. In den geschaffenen Räumen, die manchmal winzig sind, kann es überraschend knistern und kitzeln oder hell und klar aufleuchten. Durch ihr Werk, ob in Prosa, Dramatik oder Lyrik, ziehen sich die Stimmungen und innere Dialoge wie ein roter Faden, oftmals umsäumt von klugen, spitzen Beobachtungen und nicht selten mit selbstironischem Unterton. In Alltagsbeobachtungen kann Lisiak grössere Zusammenhänge mit leichter Geste heranziehen, Phänomene untersuchen, ohne dabei pathetische Mittel anzuwenden. Das Unsagbare, scheinbar Nebensächliche, die inneren Zustände, mit denen man oftmals hadert, weil sie allzu verborgen sind, scheinen der Autorin besonders am Herzen zu liegen. Dabei ist sie zur Sinnfreiheit hin bewusst offen eingestellt, dem Absurden und Skurrilen höchst zugetan.

Seit ihrem ersten Gedichtband Cocktails zum Lesen handeln Joanna Lisiaks Gedichte von erträglichen und unfassbaren Zuständen ds Lebens. Sie ergründen philosophische Rätsel und schwingen temperamentvoll in phantasievollen Eskapaden. Frei nach eigenem Rhythmus tanzend, springen sie belustigt unverschleiert vom Mikro- zum Makrokosmos. Metaphern und Reime sind selten, dafür umso überraschender anders. Die grenzenlose Zuversicht und viel Verwunderung, gepaart mit Ironie und scharfem Beobachtungssinn nehmen den Leser auf eine unterhaltsame Reise mit, sodas letztlich nichts unmöglich bleibt.

Dies setzt sich auch in Ich streue Puderzucker fort. Der Mensch als subjektives Individuum ist in seiner Vielschichtigkeit nicht zu erfassen; weder im curriculum temporis noch im momentum. Rasch fällt einem ein willkürlicher Gedanke zu als würden Gegenpole, geradezu hinter einer bestimmten Stimmung lauern. Wir sind nicht gefeit vor Zufällen, die uns jederzeit zufallen, wir können das Sich-Ewig-Bewegende nicht anhalten, schon gar nicht aus rein ästhetischen Gründen. Die Grundstimmung als Trug.

So soll dieses Werk auch kein in sich formales Format darstellen und sich damit an nichts festhalten, sich bewusst nicht einer ausgesuchten Farbpalette bedienen, sich nicht aus Eitelkeit selbst eingrenzen. Es ist bei aller Parallele zum wirklichen Leben dennoch nicht Ziel der Autorin in diesem Werk die Realität widerzuspiegeln. Aufzuzeigen wie es ist, ist nicht ihr Wunsch. Wozu denn sonst Lyrik; jene Gattung, in der alles so schillernd, mehrschichtig-, -dimensional sein kann, Lyrik als Meisterin, die Gesetze selber bricht und macht ohne sie je wirklich zu gewähren.

Der Einflug von Paradiesvögeln ist also willkommen, so auch Ironie als Fakt. Joanna Lisiak versucht, die Idee als solche werden zu lassen als wäre sie ein Kind, das an sich individuell genug ist, um sich seinen eigenen Platz zu formen. Der freie Lauf ist manchmal steil und klar, aber warum darf ein anfängliches Abheben nicht unsanft landen oder der Einfall aus Grösse letztlich erbsenbescheiden bleiben. Die Idee hat allen Vorrang. Sie zieht andere Ideen mit sich, sie fächert auf, vernebelt Sinne, gewährt minimalen Einblick. Nicht zuletzt ergründet sie.

Dabei will sie nicht mystisch sein oder geheimnisvoll wie es zum “guten Ton” gehört. Verkopfte Gedanken dürfen ebenso abstrakt bleiben, wie sie sich in klare Bilder einnisten können. Wo es der Idee gefällt, darf sie fallen, sich weiten oder verpuffen. Sie darf ein Stück weit anarchistisch und autonom walten. Auf diese Weise vermag die Autorin Entdeckungen zu machen, die sich im Text verankern, die bestenfalls im Leser auf neue Weise erwachen.

Joanna Lisiak stellt sich beim Schreiben hinter die Idee und beim Veröffentlichen hinter den Leser. Sie vermeidet es einen Stempel aufzudrücken genannt “so”. Es gibt solcherlei und dieserlei und mancherlei erst recht. Sie verführt nicht mit dem Moll, weil er so zärtlich auf der Hand bebt. Zu sehr ist der Schreibenden bewusst, dass die Sonne am Himmel jederzeit durch Wolken abgelöst werden kann, zu sehr ist ihr wohl die menschliche Rast vor Augen. Und Rast deshalb, weil homo sapiens weiterstrebt, homo memorans zurückblickend sich dehnt und Sekunden seziert und weil homo imaginans es so liebt in Konjunktive zu flüchten über Jahrtausende hinweg und flugs wieder zurück ist, gerade als wäre er nur der von nebenan, der einfach nur auch zufällig da ist und vielleicht gerade nichts anderes tut als gelangweilt mit seinen Beinen zu baumeln.

Der Band mir ist so taschembei besteht aus Lautgedichten. Sie gemahnen auf den ersten Blick an andere Sprachen (Finnisch, Rätoromanisch oder Altdeutsch vielleicht?), und man muss sich auf diese Texte einlassen. Der Autorin geht es nicht darum den Leser vor eine Rebus-Aufgabe zu stellen, die zu decodieren wäre. Es ist vielmehr das Anliegen und die Einladung an den Leser, sich seiner eigenen Vorstellungsgabe hinzugeben. Ein relativ solider Ankerpunkt für das Spiel der Assoziationen, die ein Text auslösen kann, ist jeweils der Gedicht-Titel, welcher konsequent in Deutsch gehalten wird. Groteskes, Nonsens-Effekte und Sprachspiel finden sich in den Gedichten auf leichte Weise immer wieder. Das Geheimnisvolle, das der Lyrik inne ist, ist hier, mit Augenzwinkern auf die Spitze getrieben.

Lesen Sie Spam- und Junkmails? Wenn ja – lassen sich diese Texte zu poetischen Destillaten verarbeiten? Die Autorin Joanna Lisiak hat den Versuch gewagt. Gelesen, ausgelegt, montiert, verdichtet. Bis die Spam Poetry stand. Entlarvend, ehrlich und absurd. Poesie so direkt und ungefiltert, dass sie selbst diejenigen erreichen kann, die sonst keine Lyrik lesen.

Die deutsch- und englischsprachigen Texte stehen sich ungezwungen gegenüber. Mit der Zeit treten sie subtil miteinander in einen Dialog, überbieten sich mit Angeboten, trumpfen mit erstaunlichen Geschichten auf. Einzelne Verzweifelte erbitten Hilfe, staatliche Gebilde erwidern bürokratisch, geben abstruse Statements oder profitable Versprechen ab. Die vermeintliche Korrespondenz gibt sich – wie auch im wirklichen World Wide Web – selbstbewusst international. Die Texte fliegen hin und her und fassen den ganzen Globus: von Asien in die USA, von der Elfenbeinküste zurück nach Europa und schaffen es sogar bis zu einer Eisscholle auf dem Nordpol, wo ein Gestrandeter sich zu einem Wal mit lateinischem Akzent erklärt, welcher der Arbeit endgültig abgeschworen hat.

Verdichtete, fragmentarische Sprache kennzeichnet die Lyrik in wie du die tage anschraubst. Die formale Ordnung der Syntax wird aufgebrochen, Inhalte werden verdreht, Worte wie Bruchstücke hingeworfen und lose miteinander kombiniert. Die Assoziation und Interpretation des Lesers sind daher wesentliche Teile dieser Gedankenspiele und -Experimente, und die manchmal subtil wahrnehmbaren, bisweilen augenscheinlichen Verwirrungen beabsichtigte Stilmittel mit dem Leser-Du einen Dialog aufzunehmen, der immer wieder auch im Zwischenraum stattfindet. Manche Texte sind wie konzentrierte Destillate, die explizit etwas aussagen möchten, andere deuten lediglich auf etwas hin, das vordergründig nicht greifbar scheint. Sinn Befreites und Sinnverweigerung steht eine Zeile, ein Wort entfernt von Inhalten, die Substanzielles herausschälen. Die Sprache wird unabhängig und originell als spielerisches, gelegentlich ironisches Material verwendet; auf diese Weise bewirkt die Autoren eine neue Sicht der Aussage und legt zuweilen das rohe Material zu einer zwangslosen, neuen Wahrnehmung frei. Reich an Enjambements, der Zeichensetzung befreit, sind dies Reflexionen über das Dasein, das kreative Schöpfen, das Suchen und Scheitern im Leben.

Zu einem Fest der Sinne laden uns Joanna Lisiaks Gedichte mit dem Titel links wenn sie träumt ein: Es locken Bilder wie ›warmes Brot auf die Augen legen‹, ›der Libelle beim Trinken zuhören‹ oder ›sich knoten‹. Das ganze Spektrum der Wahrnehmung ist vertreten und schafft ein Universum, wo sich ›Freudemoleküle verbreiten‹ oder ›mit dem Lesebändchen im Haar Tango getanzt‹ wird.

Was auf den ersten Blick leicht, zuweilen fast lieblich wirkt, entpuppt sich als tastendes Fragen nach dem Sein. Unerwartete Pointen und eine leicht schräge, irritierende Wortwahl fassen das Inszenierte unseres Lebens. Die Autorin verschafft der Sehnsucht nach einer Wirklichkeit, die unserem Wesen gerecht wird, auf wenigen Zeilen Raum: dem Undefinierten, dem Knospenden, dem Traum. Für die Lyrikerin typisch ist dabei, dass der Tiefsinn mit Humor durchgespielt wird. Das Ergründen des Alltäglichen und Menschlichen dehnt sich sogar auf die Welt der Gegenstände aus und beseelt sie in heiterem Animismus.

Möglich wird diese magische Welt durch die Macht des Wortes. Bewusst rückt in Joanna Lisiaks Poesie die Sprache immer wieder in den Vordergrund: Sie hält einen Moment fest, verdinglicht, spielt vor unseren Augen mit dem vermeintlich Altbekannten und staunt.

 

 

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Weiterführend →

In der Lyrik von Joanna Lisiak entdeckt Holger Benkel Spielräume des Staunens. Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteraturfinden Sie hier einen Essay.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.