Vivisektion

irgendwie ist jedes gedicht eine vivisektion des autors an sich selbst.

Katrin Stange

Vielleicht ist das nicht bei jedem Gedicht so, mal mehr mal weniger, aber indirekt bin ich immer in jeden Text hineinseziert, das ist wahr. Wirkliche Dichtung ist es dann, wenn das der Leser nicht als autobiografische Mitteilung liest, sondern als allgemeingültige Worte eines unbestimmteren lyrischen (oder epischen) Ichs.

Natürlich setzen wir in der Dichtung unsere Erlebnisse um, unsere Träume, Ängste und Hoffnungen, unsere suchenden Gedanken und die Bilder, die uns immer wieder verfolgen, ohne dass wir das immer so genau wissen. Manchmal entdecke ich mich in einer Erzählung erst später, lange nachdem ich die Geschichte geschrieben habe. Ich kann mich und das Erlebte in Gedichten nicht gut genug sublimieren oder kostümieren oder verdichten, aber in der (mehr oder weniger parabelhaften) Erzählung kann ich das. Selbst wenn ich nur zu spielen glaube, verrate ich mich, wenn auch meist nur in Chiffren, es sei denn, es kennt mich einer sehr gut und weiß von mir und meinem Leben fast alles. Auch offenbar unterbewusste Sehnsüchte fallen in das Erzählte, aber ich schreibe so, dass der Leser nicht mich dechiffriert, sondern entweder sich selber oder nicht explizite Intentionen oder Motive.

 

 

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Weiterführend → KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.