DU KANNST JETZT GEHEN

aber achte darauf

dass wir zusammen sind

wenn die welt untergeht

wenn das grelle licht kommt

jesus messias oder schwarze löcher wenn menschen und geräte stehen bleiben

weil keine entscheidung mehr möglich ist papst-audienzen in der schnellen

erdtotsekunde

in verschluckung geraten

keine idee

mehr zeit hat

realität zu werden

lass uns jetzt

diesen letzten

kuss

einhauchen

in unsere

glühkerne

lass uns jetzt

diesen letzten

kuss

einhauchen

lass uns

diesen letzten kuss

 

 

***

Trompeter auf der Landebahn, Gedichte von Mayjia Gille, kul-ja 2022

Dichtung will, dass wir uns zeigen und Versteck spielen. Schneeflocken schweben. Unaufhörlich sehe ich sie winken und in Baumkronen schwingen. Seite für Seite umblätternd, sehe ich mich durch einen Dom wandelnd. Diesen Gedichtband durchweht ein Ton, der dröhnt orgelgleich und streng wie Glockenschlag. Der liegt unter den Zeilen als lustvolles Warntrommeln und zwitschert über ihnen vogelgleich schlafwarm. Der liest sich als Brandung, Knirschen, Aufmunterung. Der ist mal Flehen, mal Schrei, dann wieder Hymnus. Und kommt so bedeutsam wie Weihe, so unaufdringlich wie der tägliche Popsong aus dem Radio daher. Und fordert mich auf zum inneren Dialog. Und führt mich bis an den Urknall heran. Stetigkeit liegt in der Wiederkehr, sagt die Dichterin. Lass uns überrascht sein darüber, wie viel mehr an Klang zu vernehmen ist, je näher das Ohr an den Wortlaut heranrückt. Bis in die Stille zwischen den Zeilen findet hier künstliche Verknappung statt. Beschwörung wohnt den Texten inne. Worte zu Tönen ver- dichtet. Dieses leise Murren in Sorge und zärtlicher Unge- duld. Dieses tägliche Summen, Arien gleich wie Warnrufe ausgestoßen und als Hostie ausgespuckt. Du hast hundert Ohren, Kehlen. Zur gleichen Zeit ist da ein Jubel aus jeder Blume steigend. Dichtkunst ist wie Wind, Regen, Sonnenschein. Hier fand ich mich wieder. Und wagte nicht fortzugehen, bevor dieser Opus zu Ende war. Ich singe weiter. Ich bin Echo.

Peter Wawerzinek

Weiterführend →

Einen Rückblick auf die Verlagsgründung von kul-ja finden Sie hier. Ein Verlagsporträt von kul-ja findet sich hier.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.