Was passiert, wenn eine renommierte Lyrikerin und Schriftstellerin, im mittelsächsischen Burgstädt 1959 geboren, seit über zwanzig Jahren in Duisburg lebend, zum ersten Mal im Frühjahr 2014 für einige Wochen in Istanbul, in einer für sie fremden urbanen Kultur, weilt? Ausgerüstet mit bescheidener „Distanzwaffentechnik“, so die Autorin, bewaffnet mit einer „besseren Knipse“ (digital), elementaren Kenntnissen des Türkischen (im Nachhinein auch mit sprachhistorischen Erkenntnissen ausgestattet) und einer zusehends optischen Trennschärfe ausgezeichnet, geht sie einer Fremdheit nach (Klappentext), die in ihrer sperrigen Kombination von Aberbildern (B.K.) und collagierten Texten zu einer wehrhaften Beobachtung einer urbanen Landschaft werden. Bereits der Einstieg in die tausendfach überlagerte Bildreflexwelt von Istanbul verspricht eine gänzlich andere Bild-Text-Betrachtung: „Blickbanner: flatternde, hinterher flatternde Augen, traumloses Rapid Eye Movement aufflackernd noch bei fehlendem Reiz, mitten im Hörsturz nach Istanbul“ – so setzt der erste Deutungstext ein, der neben der Abbildung einer stark reflektierenden Fensterscheibe mit Blick auf Haushaltswaren abgedruckt ist. Er ist ein für ein poetisch „geschultes“ Publikum geschrieben, das optische Prozesse mit physiologischen Abläufen ebenso wie visuelle und akustische Wahrnehmungen koppeln kann, das mediale und spezifische künstlerische und ästhetische Verfahren, wie zum Beispiel die Bedeutungsschattierungen von „Pop-up-Fenster“ oder „Oriflammen“ (von aurea flamma, ein Begriff, der leider nicht erklärt wird) in dem sperrigen und zugleich dynamischen Text bewerten kann.
Und die Fotografin? Was nimmt sie wahr in dem verwirrenden Zeichenmeer von Istanbul? Unter der Überschrift „EMINÖNÜ, BASARTUNNEL“ lese ich: „In der Überforderungszone, kurz vorm Rauschen zappelnder, zappender Blick ohne Anhaltspunkt sucht nach einem Motiv. TAKE A PICTURE! Genug davon ist im Angebot, mehr als genug.“ Soweit, so verständlich. Doch wie soll die Fotografin ihre Motive finden? „Dichte, blickdichte, lärmende Oberflächen, Einzelbildmodus nicht drin, die Trennschärfe abnehmend, geht gegen null: … Noch mehr vom Gleichen, Ähnlichen – Bilder über Bilder. Bis sich blindlings vielleicht oder bildlings etwas verschiebt, in den Sucher, die Suchende gerät, in den Blick: Das, siehst du, ist dein Motiv – das zeigt dir, weswegen du hier bist.“ Und die Auswahl der Farbfotografien gibt dem Leser die ersten Hinweise auf die gefundenen Motive: der Blick auf Teegläser vor einem Gully, die schillernde Farbpalette in einem Ausstellungsraum, das „Himmelbosporusblau“ auf den İznik-Fayencen, Blüten ohne Düfte auf gewebten Tüchern, die unzähligen Atatürk-Abbildungen, der Schnappschuss, der einen Trödelhändler erwischt. Spätestens hier findet der Leser erste optische Orientierungspfade, im ÇUKURCUMA-Viertel des Stadtteils Beyoğlu: die orientalische Welt der Trödlerläden, die fliegenden Händler, die sich in der Vision der Lyrikerin in Händler für fliegende Teppiche verwandeln. Doch das Auge der Fotografin versinkt nicht im Ornamentalen des Nahen Orients. Mitten im brodelnden, chaotischen Verkehr entdeckt es den stehenden Mann, Duran Adam, „eine 2013 mit Blick auf das abrissgefährdete Atatürk-Kulturzentrum am Taksimplatz entstandene Protestform“ (S. 83), die während der Demonstrationen gegen das Erdogan-Regime im Frühjahr 2014 entstand: „…da steht einer auf dem Taksim, schaut nach vorn. Das wird beobachtet, das verfolgt man mit Argwohn. … stehen neben ihm zehn Polizisten in Kampfausrüstung. Da steht einer in der Ecke, erstarrt versteinert: medusenäugig ein Faun.“ Und die Kamera erfasst, auf der folgenden Seite abgedruckt, Graffiti mit der Abbildung des Fauns und der Losung ‚No more lies‘. Und die Decoding der politischen Kampflinien setzt sich fort, in einer Kombination von Text- und Bildstrecken: „Die Republik ist eine Meyhane (ein Restaurant, in der nach den Mahlzeiten gewöhnlich Raki getrunken wird, WS), in der die Uhr stehenblieb als Atatürk starb“, heißt es neben einer Abbildung, auf der das Motiv von den blinden und taubstummen Affen in ein Graffiti vom Türken als zivilisierten Affenmenschen mit eingeschränkter Wahrnehmung verwandelt wurde. Auch die dreitägige Trauer im März 2014 für ein Opfer der polizeilichen Repressionen, den fünfzehnjährigen Berkin Elvan, bezieht die Autorin in ihre subtile Beschreibung ein. Dabei gelingt ihr, die in Istanbul herrschende Totenstille als einen solidarische Akt des Protests gegen das repressive Regime zu beschreiben: „… die Totenstille teiln mit anderen, die Brot gekauft haben, es tragen: Trauer tragen, Unerträgliches, alltägliches Brot.“
Und der Alltag in Istanbul? Die scharf konturierten Farbfotos erfassen Winkel, Durchgänge und Fassaden, die der automatisierte touristische Blick übersieht. Für Barbara Köhler aber sind es „fliegende Fetzen um freigelassenen Raum“, „Abgründe voller Phantasmen. Oberflächen und Unterwelten“ – und je länger der vergleichende Blick zwischen den Textpassagen und den Tiefenschichten der Fotografien hin- und her schießt, desto schneller bilden sich Diskurse heraus, die der Stadt am Bosporus ein unerwartet neues sprachikonisches Profil verleihen. „Muster von den Wänden der Tatsachen lösen als Mögliches schwerelos schweben“, sagt die Dichterin, noch bevor sie mit dem Blick ihrer Kamera auf den Bosporus eine polysemantische, also vieldeutige Umbenennung von Istanbul vornimmt: „Existanbul. In Realistanbul?!“ Und dann folgt eine Kaskade von phantasiebeladenen Bezeichnungen, die von Optimistanbul bis Artistanbul reicht.
Und in die rauschende Stille hinein kommt gleichsam aus dem OFF die Nachbetrachtung der Autorin: SEEING SIGHT, unter diesem Titel wird der Vorgang der Motivsuche revolutioniert. Nicht die wohlbekannten historischen Prachtbauten sind im Blickpunkt der Fotografin, sondern die plötzlich auftauchenden Motive, die die Bilder selbst schaffen. Mit dieser Vorgehensweise erzeugt sie auch beim Betrachter ihrer digital erzeugten Ikones eine wachsende Neugier, die sie in ihrer Nachbetrachtung noch einmal durch ihre sprachphilosophischen und kunsthistorischen Ausführungen anstachelt. „Als ob – görüşmek – die Bilder auch uns sehen könnten, würden, und es einen Moment gäbe, in dem es zum Treffen kommt. Als käme Inhalt von Innehalten und nicht von content, als müssten wir die Bilder nicht mit unseren Maschinen um die (längst verlorne) Wetten scannen nach Verwertbarem, wie süchtig nach dem nächsten, einem immer nächsten Bild …“ (S. 80). Mit der ausdrücklichen Nennung des türkischen Begriffs görüşmek, den sie als eine Art Interaktiv bezeichnet, nämlich die interaktive Begegnung zweier gleichwertiger Personen oder Elemente, und der benachbarten Begriffe görünmek (sich sehen lassen), görememek (mangelnde Fähigkeit, etwas zu sehen) wie auch görmemek (etwas bewusst übersehen, es verschweigen) entwickelt Barbara Köhler einen bildtheoretischen Ansatz für ihre Motivsuche und zugleich eine Begründung für ihre Bilder, die sich ihre Betrachter erst suchen müssen. Deshalb montiert sich die Fotografin auf der Seite 84 (es gibt leider keine durchgehende Paginierung in diesem so faszinierenden Text-Bild-Bändchen!) in einen ovalen Ausschnitt mitten in die Bilderflut aus Istanbul, erfüllt von dem Wunsch, dass die digital reproduzierten Ikones mit ihr sprechen. Dann aber drei Seiten weiter der Blick auf eine Fassade, an der hinter einer aufgeschlitzten (?) Fensterscheibe ein Kameraobjektiv lauert. Kann es einen krasseren Widerspruch zwischen den wundergleichen Augenweiden der Fotografin und der Überwachung von Menschen durch den Machtapparat geben?
Eine überwältigende visuelle und sprachliche Inspiration habe dieses vielgestaltige Istanbul-Bändchen bei den NRW-Stiftungsgremien hinterlassen, viel mehr noch: diese auch typografisch so attraktive Publikation wird inmitten der schillernden, verlogenen, trügerischen Bildwelt der Großstadt-Glanzpostillen die Fassaden unserer zusehends blinden Wahrnehmung von urbanen Räumen aufbrechen. Und dahinter sehen uns Bilder an, die wir immer wieder übersehen, weil wir nicht mehr mit ihnen kommunizieren, weil wir blind geworden sind beim Anblick der wundergleichen Fayencen und der wirbelnden Basare. Die „Zumutung Istanbul“ ist mit den Gedichten und Fotografien von Barbara Köhler zu einer poetischen und ikonographischen Herausforderung geworden, die unser sprechendes Sehen revolutionieren wird!
***
Istanbul, zusehends. Gedichte / Lichtbilder von Barbara Köhler 88 S., 18,90 €. ISBN 978-3-940357-48-9 (Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Bd. 6).