Botschaften aus Nimmerland

 

Der am 24. Juni 1935 in Chile geborene Jorge Octavio Teillier Sandoval zähle „neben Pablo Neruda, Vicente Huibobro, Gabriela Mistral, Pablo de Rokha, Nicanor Parra und Gonzalo Rojas […] zu den Fixsternen am Himmel der chilenischen Dichtkunst des 20. Jahrhunderts“ – zu diesem Urteil gelangt der Übersetzer und Herausgeber der „Botschaften aus Nimmerland“, Reiner Kornberger, ein ausgewiesener Kenner südamerikanischer Literatur. In seinem tiefgreifenden Vorwort beleuchtet er zunächst das in geografischer, geschichtlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts autochthone Gebiet der Mapuche in der Mitte Chiles, wo Jorge Teillier, aus einer aus Bordeaux eingewanderten Familie stammend, seine Kindheit verbrachte. In seinen weiteren Ausführungen bewertet er den beruflichen Wertegang und die grundlegenden Merkmale einer Dichtung, in der die abgeschiedene Landschaft und die authochtone Sprache der Mapuche nur wenige Spuren in Teilliers frühen Poemen hinterließ, wie seinem ersten Gedichtband Para angeles y gorriones (1956) in der Form von Traumbildern. Zu diesem Zeitpunkt war Jorge Teillier bereits in die Hauptstadt Santiago auf der Suche nach beruflichen Herausforderungen geflüchtet. Seine Jugendjahre verbringt er dort mit der Herausgabe von Zeitschriften, gründet mit einem Kolumbianer die Zeitschrift Orfeo, in der er sein poetisches Credo entwirft. Es ist eine Lyrik als vitale Haltung, die er unter Bezugnahme auf Rilkes Larenopfer als Larendichtung (poesialarica) bezeichnet. In dieser frühen Schaffensphase bilden sich in seiner Poetik eine Reihe von Motiven heraus, die sich nach Kornberger „auf einem Grat zwischen dem Vergessen und dem Erinnern für die Zukunft“ bewegen. Es sei ein Grat gewesen, auf dem der Raum „ein Wiederbegehen erlaubt“ und die Zeit sich „nur aus sofort und unwiederbringlich der Vergangenheit anheimfallenden Momenten“ zusammensetze. Es seien einmalige Augenblicke, „welche die Zeit und damit den Tod auszuhebeln scheinen.“ Doch diese Idylle sei brüchig und „nur ein kurzes Atemholen auf dem Wege zum Tod, oder zunächst in die Fremde, in das Nimmerland“. Es sei ein Begriff, den Teillier aus James Barriés Erzählung Peter Pan or the boy who wouln’t grow up entlehnt habe und in seinen Gedichten aus Nimmerland (1963) sich zu einer eigenständigen Poetik entfaltet habe. Sie komme in einem unüberwindbaren Widerspruch zwischen „einer (erinnerten) heilen Welt der Kindheit und dem Existenzkampf in der modernen Stadt“ zum Tragen. Eine solche Haltung gegenüber der städtischen Zivilisation und der Technologie, die die Gesellschaft diszipliniere, habe den Dichter daran gehindert, sich politisch zu engagieren. Es sei eine mental gesteuerte Haltung, die nicht ausschloss, dass er in den frühen siebziger Jahren die Politik der sozialistischen Partei Allendes zu unterstützen. Diese Überzeugung komme in seinem Porträt meines Vaters als kommunistischer Kämpfer (1971) zum Ausdruck.

Doch als das Pinochet-Regime nach 1973 Chile kulturell und sozial verwüstete, wandte sich Teillier vom Kulturbetrieb ab und kehrte in seinen mittelchilenischen Geburtsort Lautaro zurück, um sich ganz seiner Dichtung und der Lektüre seiner Lieblingsdichter François Villon, Friedrich Hölderlin, Novalis, Ezra Pound, Czeslaw Milosz, Sergej Jessenin und vieler anderer zu widmen. Ein Beispiel für seine innige Heimatverbundenheit und seine Kindheitserinnerungen ist das Poem pequeña confesión, mit der Widmung an den berühmten russischen Dichter Jessenin. Dort heißt es:

In der Mitte meines Lebenswegs

Streune ich am Dorfrand herum,

Und nicht einmal hier hört man die Karren,

Deren Musik ich von Kind auf so liebte.

Doch nostalgische Erinnerungen an die Kindheit und die Beschwörung alter Freundschaften allein erfüllen den Alltag des einsamer werdenden Dichters immer weniger. Immer häufiger indes findet er Trost in alkoholischen Getränken, immer weniger sendet er Lebenszeichen aus, nur noch dann und wann bedient er sich seiner Lieblingsdichter, um noch poetische Botschaften zu kreieren. Nur noch selten findet er Zugang zum Alltag in seinem Heimatdort Lautaro „am Kilometer 662 der Panamericana“, wie Kornberger in seinem Kommentar auf Seite 159 festhält. 1992, vier Jahre vor seinem Tod, gestand Teillier sich ein, dass seine letzten zehn Lebensjahre von tiefer Depression geprägt waren. Anzeichen dafür sind auch den beiden Prosatexten von Teillier am Ende der vorliegenden Publikation wie auch den einleitenden Versen Ein Abkommen mit Teillier aus der Feder des Dichterkollegen Gonzalo Rojas zu entnehmen:

Was den großen Larendichter betrifft, so starb er, kaum geboren, am Durst, / und den hat er nicht löschen können, /nicht einmal im Tod hat er ihn gelöscht.

Die in dem Band veröffentlichten 66 Gedichte aus 13 spanischsprachigen Gedichtbänden, einschließlich zweier Erzählungen, erfassen ein breites Spektrum an Themen, Stimmungen, Gefühlen wie auch Bekenntnissen zur Poetik berühmter Dichter. Mit dem in einem Navy Blau gehaltenem Hardcover-Band ist somit eine Publikation entstanden, die von der chilenischen Botschaft in Berlin gefördert, jedem Liebhaber südamerikanischer Dichtung zu empfehlen ist.

 

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Botschaften aus Nimmerland. Gedichte 1956 bis 1996 von Jorge Teillier. Hommage zum 25. Todestag des Dichters. Ausgabe in Deutsch und Spanisch. Herausgegeben, eingeleitet und aus dem chilenischen Spanisch übersetzt von Reiner Kornberger. Gransee (Edition Schwarzdruck) 2021

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