Ein nacktes Jungfräulein hängt
An einem Galgen: das Blut, das von Mund und Nase
Und sonst herunter geflossen, bildet im Rasen
Eine rote Lache, die mählich schwarz gerinnt
So wie das Blut der lehmigen Pfützen umher
Mit der sterbenden Abendröte vergeht,
Sie sind: die Pfützen, die Augen der Dämmerung.
Doch gegen das weiße ungeküßte Knie des Weibes
Fliegt ein Rabe: Wie unmelodisch
Ein Rabenflügel sich gegen den Rasen zeichnet
Ehe die Dämmerung ganz herein ist.
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Unser täglich Gift, Gedichte von Otfried Krzyzanowski. Kurt Wolff-Verlag, Leipzig 1919
Otfried Krzyzanowski brach 1910 das Studium ab und widmete sich der Literatur und der Bohème. Er verweigerte sich der bürgerlichen Lebensform. Ab 1912 erschienen in Zeitschriften einige wenige Gedichte und Prosaskizzen, die dem Expressionismus zuzurechnen sind. Er lebte zu in Not und Armut. Seine Gönner fand er in den Kaffeehäusern, besonders im Café Central im Kreis um Franz Blei und Franz Werfel. Um Soldat zu sein war Otfried Krzyzanowski zu krank, für eine bürgerliche Existenz nicht tauglich oder nicht bereit, er lebte seine radikale Bohèmeexistenz in Wiener Kaffeehäusern, las Nietzsche, erbettelte ein karges Überleben. Über den Krieg schreiben kann vielleicht nur, wer nicht mit drin steckt. Kurz nach Kriegsende blieb er dem Kaffeehaus fern, er war in einem Wiener Krankenhaus gestorben, an oder mit Hunger, Grippe oder Tbc, die Diagnose ist nicht eindeutig.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.